Ernst Wolfhagen in Hannover im Alter
Die Lebenserinnerungen
meines Großvaters Ernst Wolfhagen
Bearbeitet
von
Aus seinen
handschriftlichen Aufzeichnungen in Sütterlin-Schrift übersetzt und hier
aufgeschrieben von
Hier geht es zu den
Lebenserinnerungen meines Urgroßvaters Ernst Wolfhagen
Der gesamte folgende Text wird noch hinsichtlich Rechtschreibung und Formatierung überarbeitet,
wurde jedoch auf Wunsch bereits zum jetzigen Zeitpunkt den Familienmitgliedern in der vorliegenden Form zugängig gemacht
Wenn Sie auf ein Kapitel klicken öffnet es sich!
Inhalt
Meine
Kindheit und Jugend – 1896
Schüler
am Realgymnasium in Erfurt 1896-1899
Meine
Studienzeit in Göttingen
Meine
Studentenzeit in München
Ausbildung
= und Junggesellenzeit in Hannover 1904 - Herbst 1909
Meine
Militärzeit 1.Mai 1917 – 5.Juni 1917
Familienleben
in der Brehmstraße 1933-1939
Mein
Leben als Studienrat 1906-1945
Mein
Dienst an Mädchenschulen und am Planetarium
E. Gegenwart: Mein Leben im Ruhestand
F. Rückkehr zur Brehmstraße 1949
Inhaltsverzeichnis
Meine Heimatstadt
Meine Eltern u.
Geschwister
Meine Kindheit und
Jugend
Schüler am
Realgymnasium in Erfurt
Meine Studienzeit in Göttingen
Meine Studienzeit in
München
Ausbildungs- u.
Junggesellenzeit in Hannover
A.
Familienleben 1906-13
Meine Militärzeit
1.V.11-8.VI.12
B.
Familienleben 1918-33
C.
Familienleben in der Brehmstr.33-39
Reisen
Mein Leben als
Studienrat
Allgemeines Schulgeschehen
Humor im Schulleben
Weihnachtsfest in der
Schule
Mein Dienst an
Mädchenschulen und am Planetarium
D. Erleben im
Kriege
E. Gegenwart:
Mein Leben im Ruhestand
F. Rückkehr zur
Brehmstraße 1949
Anekdoten
Feuerwehr in Einbeck
Gärtner Goldberg
Schlachtfest bei
Wittrams
Der alte Schlorner
Professor Krönke
Röntgenstrahlen
Maifeier in Göttingen
Gauss
Weber Denkmal
Circus Sarassani
Freund Schleusinger
Militärzeit
Direktor Fieten
Der alte Meyer
Fall Kaisenburg
Fall Kuchen
Fall Pukowski
Allg. Weihnachtsgedichte
Humor in der Schule
Pers auf
Weihnachtsgedichte
Schilderung
Verlobung
Privatunterricht
Das
Elternhaus in Einbeck
So steht
es heute noch am Marktplatz
Das Elternhaus von
Ernst Wolfhagen
Mein Leben neigt sich
seinem Ende zu. Je älter ich werde, umso häufiger lasse ich mein Wandeln in
dieser Welt in der Erinnerung vorüberziehen.
Das Rückschauen auf eine Zeit, die sonniger
war als die trübe Gegenwart, gibt mir oft Trost. Ich muss einem gütigen
Geschick dankbar sein
dafür, daß es mich gnädig
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geleitet hat und davor,
daß ich nicht von dem geraden Weg abgeirrt bin. Es erfüllt mich mit einem
gewissen Stolz, daß ich nichts zu bereuen habe
und nicht zu wünschen brauche, irgendeine Tat
oder ein Entschluss sei besser unterblieben. Andererseits bilde ich mir
aber nicht ein, daß ich
darauf Anspruch machen
kann, als leuchtendes Muster eines artigen Kindes, treusorgenden
Familienvaters und Gatten, pflichtgetreuen und
tüchtigen Lehrers Geltung
zu zollen.
Der Inhalt dieses meines "Lebensbuches“ ist keineswegs für einen größeren
Kreis bestimmt, würde ja sicherlich auch dort kein Interesse finden,
ich möchte aber annehmen,
daß meine Nachkommen gern aus ihm ersehen, wie ich als ihr Vorfahr mich mit dem
irdischen Dasein abgefunden,
wie ich die mir gestellten
Aufgaben zu bewältigen versucht und verschiedene Erfahrungen ich dabei
gesammelt habe. Im Übrigen wird ja auch
das allgemeine Weltbild,
wie es sich in meiner Niederschrift abzeichnen wird, für spätere Generationen
wissenswert sein.
Möge es für sie ein
sonnigeres Gepräge zeigen, als es gegenwärtig der Fall ist.
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Im Süden der Stadt
Hannover liegt die kleine Kreisstadt Einbeck, die, als ich dort am 23.September
1880 geboren wurde, etwa 7.000 Einwohner zählte,
Seine Bevölkerung bestand
in der Hauptsache aus Landwirten bzw. Ackerbürgern und kleinen Handwerkern.
Industrieunternehmen von Bedeutung
fehlten völlig, und da
Einbeck abseits von den Verkehrsstrassen liegt, verlief das Leben in
einem ruhigen Geleise.
Aus diesem Grunde war
meine Heimatstadt auch als Ruheort für Rentner und Pensionäre beliebt, da sie
dort ein beschauliches Dasein führen
konnten.
Ich glaube nicht, daß dort
ausgesprochene Proletarier zu verzeichnen waren.
Zu jener Zeit lag in E.
noch Militär – ein Bataillon Infanterie – dadurch erhielt das Stadtbild einen
gewissen Auftrieb. Hatte ein Amtsgericht
und
eine höhere Schule, die
allerdings bis zum Einjährigen Examen (= Untersecunda) führte, hatte E. ein
Technikum = Maschinenbauschule, diese
etwa von 150 angehenden
Ingenieuren
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her bekannte Gesichter und
fand nur auf dem Friedhof die wieder, die in meinem Leben dort einmal eine
gewisse Rolle gespielt haben.
Selbstverständlich ist diese
Feststellung nichts Besonderes, aber sie hat mich doch oft traurig gestimmt und
mir die Vergänglichkeit vor
Augen geführt.
Andererseits war ich immer
sehr erfreut, wenn auch ich einen Bekannten aus meiner Jugendzeit wieder
gefunden habe und bin immer wieder
gern an die Stätten
zurückgekehrt, die mir früher lieb geworden sind. Sie sind ja auch im Wandel
der Zeit weniger verändert als die Menschen.
Ich bin immer wieder gern
auf den alten Straßen gewandert und habe die Plätze aufgesucht, auf denen ich als
Kind glücklich war. Sie zeigen
noch das frühere Bild und
haben auch durch die Wirren des Krieges nicht gelitten.
Im Laufe der Zeit ist
natürlich auch das Stadtbild gewachsen. Als ich in E. meine Jugend verlebte,
bildete ein Wall aus der Zeit als E. noch
Festung war, - noch vor
etwa 300 Jahren –
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die Stadtgrenze. Außerhalb
von ihm standen nur einzelne Wohnhäuser – heute ist dieser Wall nach allen
Richtungen hin überschritten, und
die sog. „besseren“ Leute wohnen
nicht mehr in dem alten Stadtkern. Die Wohnkultur hat sich auch dort sehr
gehoben, es gibt Siedlungen
für die arbeitende
Bevölkerung und eine ausgesprochene Villengegend.
Mir sind aber die Straßen
der Innenstadt mehr vertraut, sie sind konstant geblieben, eng, dunkel und
schmutzig mit Ausnahme der eigentlichen
Geschäftsstraßen, die auch
ein modernes Gepräge angenommen haben. Eine große Anzahl der Häuser hat ein
ehrwürdiges Alter – mehrere
Inschriften deuten auf die
Zahl um 1600 hin, - viele von diesen sind natürlich im Laufe der Jahre
verschwunden, in der Hauptsache sollen
sie größeren
Feuersbrünsten, von denen E. oft heimgesucht wurde, zum Opfer gefallen sein.
Sicherlich ist auch
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manches alte Gebäude nicht
ganz ohne Zutun der Eigentümer „warm“ abgebrochen sondern, trotz oder auch mit
Hilfe der freiwilligen Feuerwehr.
Als Beleg dafür, daß man
nicht immer den Willen gehabt, des Feuers Herr zu werden, mag eine kleine
Anekdote stimmen, die mir von meiner Mutter
übermittelt ist.
Danach hatte sich bei
einem Brand herausgestellt, daß die Schläuche der Feuerspritze mit Sorgfalt von
Kartoffeln verstopft waren, so daß kein
Wasserstrahl rettend
gesendet werden konnte.
Dabei soll dann ein
Feuerwehrsmann geäußert haben, man soll dem Geschick nicht vorgreifen. Ob diese
Auffassung richtig war, mag dahingestellt
bleiben.
Für die Dienstauffassung
der Einbecker Feuerwehr spricht auch folgendes Erlebnis, für dessen Wahrheit
ich mich auf meine Mutter berufen muss.
Ein Feuerwehrsmann
schmettert an einer Straßenecke stehend sein Signal in die Gegend und wird von
einer Frau, die ängstlich aus ihrem
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Fenster hinausschaut,
gefragt: Herr Feuerwehrsmann, wo kommt es denn? Worauf er antwortet: Watt geit
mich dutt an, ick blase bloß!
(Was geht mich das an, ich
blase bloß.)
Daß bei dieser
Arbeitsteilung viele Brände erfolgreich waren, ist kein Wunder. Doch ich
verliere mich zu sehr in Einzelheiten, muss nun
aber auch von meinem
Geburtshause berichten.
Es steht am Neuen Markt;
überragt seine Nachbarn in Größe und wird wohl auch 150 Jahre alt sein.
Breite Steintreppen führten in das Erdgeschoss,
von ihm gelangt man auf
geräumigen Holztreppen in den 1. und 2. Stock. Im ersten stand meine Wiege: ich
bin aber nicht ein so berühmter Mann
geworden, daß man es für angehalten hat, dort eine Gedenktafel anzubringen.
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Bevor ich nun von meiner
Kindheit erzähle, muss ich meinen Eltern gedenken und sie so schildern, wie ich
sie heute in der Erinnerung habe.
Es liegt mir dabei fern,
ein Werturteil zu fällen. An meine Mutter kann ich mich nicht erinnern, sie
starb bereits als ich ein halbes Jahr alt war.
Durch ihren infolge einer
Nervenerkrankung erfolgten Tod fiel der erste Schatten auf mein junges Leben.
Was ich von ihr berichte,
stammt aus der Überlieferung durch meinen Vater. Sie war eine geborene Grave
und stammte aus einem Kaufmannshause
aus Alfeld. Dort hat sie
mein Vater, als er dort das Alfelder Seminar besuchte, kennen gelernt. Mit
ihrem Bruder insbes. mit dem Onkel Hermann
aus Bremen bestand auch
nach ihrem Ableben stets eine herzliche Verbindung. Von ihm wird später noch
häufig die Rede sein.
Aus der im Jahre 1870
geschlossenen Ehe zwischen ihr und meinem Vater waren mir vier Schwestern
geboren, schon aus diesem Grund soll ich
mit einer besonders großen
Freude bei meinem Eintreffen begrüßt worden sein.
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Meine Mutter soll nur von
zarter Gesundheit gewesen sein, aber ich habe ihr doch einen stabilen
Organismus zu verdanken.
In dem Jahre vor meiner
Geburt starben zwei meiner Schwestern im Alter von 4 und 2 Jahren, dieser
Verlust soll auf das früher heitere Gemüt
meiner Mutter stark
eingewirkt haben, was ja auch verständlich ist. In gleicher Weise hat mein
Vater darunter gelitten, und die schwierige materielle
Lage –
nicht zuletzt durch
Krankheiten noch verschärft, - das Lehrergehalt war klein und die Familie war
groß – drückten schwer auf ihn und ließen eine
frohe Stimmung selten
aufkommen. Jedenfalls kenne ich ihn nur als ernsten Menschen, der zwar seinen
Kindern gegenüber stets freundlich war,
aber doch wohl nicht viel
Sonnenschein ausstrahlen konnte. Als Kind habe ich das zwar nicht in dem Maße
empfunden wie später als ich selbst mich,
nicht wie
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mein Vater von großem Leid
und mancherlei Sorgen beschwert, meinen Kindern widmen konnte. Hinzukommt, daß
er gezwungen war, um seine
Familie unterhalten zu
können, neben seinem Beruf als Lehrer an der Einbecker Töchterschule durch
Nebenbeschäftigungen seine Einnahmen
zu vermehren.
Er gab Unterricht an der
Sonderschule, schon vor seinem eigentlichen Dienst, früh von 7-8 Uhr,
nachmittags an der Maschinenbauschule, außerdem
an einzelne Schüler
Privatstunden in Englisch, ferner Klavierunterricht, sodaß dabei eine Tätigkeit
von 48 Stunden pro Woche sich ergab. Es ist kein
Wunder, daß bei dieser
Belastung nicht viel Zeit für die Familie übrig blieb, und man muß ja erstaunt
sein, daß er bei dieser starken Inanspruchnahme
nicht zusammengebrochen ist.
Es wird mir immer klarer, daß er einer kräftigen Gesundheit sich rühmen konnte,
von der ich ja dann auch profitiert
habe.
Mein Vater stammt aus der
Lüneburger Heide und ist
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in Marwede im
Kreis Celle als Sohn eines Mühlenbesitzers geboren. Ich kann es mir
gestatten, von seiner Jugend zu erzählen, da er selbst sein Leben
in einem Bericht
geschildert hat, der gegenwärtig sich noch im Besitz meiner Schwester Marie
befindet, aber dereinst ja in die Hände
der Familie
Wolfhagen übergehen wird.
Durch ihn wird dann meine Niederschrift ergänzt werden.
Ich wünsche, daß sein
Lebenslauf später mit meinem eigenen vereint aufbewahrt wird. -
Wenn ich vorher sagte, daß
das Leben meines Vaters in der Zeit, als ich ein Kind war, schwer und
sorgenvoll war, muß ich dem hinzufügen, daß in
den späteren Jahren die
Sorgen für ihn geringer wurden.
Mit einer allgemeinen
Erhöhung der Lehrergehälter stieg auch sein Lebensstandard.
Er wurde 1893 zum Leiter
der Töchterschule ernannt, das bedeutete einen starken Aufstieg, auch
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in materieller Hinsicht.
Er brauchte sich nun nicht mehr durch Nebenverdienste zu belasten und konnte in
jeder Beziehung freier leben. Wenngleich er
seinen Beruf sehr ernst
nahm und in ihm seine Lebensaufgabe sah, blieb ihm jedoch Zeit, das Leben zu
genießen. So sehe ich ihn dann auch, als ich
Jüngling und Student war,
in dem ernsten Gewande wie vordem. Je
älter er wurde, je lichter wurde es um ihn und insbesondere konnte er in seinen
letzten Lebensjahren ein
beschauliches Dasein führen. Er war zufrieden, daß seine Kinder alle wohl
geraten und versorgt waren, hing an uns mit
großer Liebe und hat ja
auch noch die Freude gehabt, in unserem Sohn Ernst den Namensträger der Familie
begrüßen zu können. Im Alter von fast
80 Jahren ist er 1923
gestorben, nachdem er einige Monate vorher infolge eines leichten
Schlaganfalles seine Lebenskraft verloren hatte. Bis dahin
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ist er nie ernsthaft krank
gewesen, jedenfalls entsinne ich mich nicht, daß wir um sein gesundheitliches
Ergehen je hätten in Sorge sein müssen.
Daß er diese seine
Gesundheit auch seinem sehr soliden Lebenswandel zu verdanken hatte, ist ja
wohl verständlich. Er kannte keine Leidenschaft, die
seinem Körper hätte
schaden können, war kein Freund von Stammtischen, besuchte überhaupt kaum ein
Gasthaus, ein Glas Wein leistete er sich nur
zu besonderen Anlässen,
aber liebte es, eine kleine Cigarre zu rauchen. Nicht nur gelegentlich, sondern
regelmäßig und immer die gleiche Sorte
Venora, die 3 Pfg. kostete
und die er von dem Kaufmann Ohnesorge bezog. Ich erinnere mich, daß er in der
Zeit der Inflation (etwa 1922) auch auf
diesen Genuss glaubte
verzichten zu müssen, jedenfalls schrieb er mir damals, „lieber Junge, ich kann
jetzt mir die Venora
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nicht mehr leisten, sie kostet
10 Millionen“. Darauf habe ich dann aber ihn von hier aus mit Rauchwaren
versorgt. Die Tatsache, daß mein Vater
täglich etwa 5 Cigarrillos
konsumiert hat und dabei 80 Jahre alt geworden ist, ist für mich ein Beweis
dafür, daß das Rauchen in diesem Umfang
nicht schädlich ist und
ist von mir als Gegenbeweis meiner sorgenden Gattin vorgehalten, sofern sie
glaubte, daß ich durch meine Raucherleidenschaft
mich zu Grunde richten
würde. – Mein Vater muß ein vorzüglicher Pädagoge und ein beliebter Lehrer gewesen
sein, jedenfalls ist sein Andenken in
dem Kreise seiner
ehemaligen Schülerinnen lebendig geblieben, und noch in letzter Zeit hat seine
Wertschätzung für mich und meine in Einbeck
weilenden Angehörigen den
Vorteil gehabt, daß wir von vielen Geschäftsfrauen, sofern mein Vater vor etwa
40 Jahren ihr Lehrer gewesen war,
bevorzugt bedient wurden.
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Aber auch ich scheine in
meiner Heimat ganz gut beleumundet zu sein und habe dadurch verschiedentlich
kleine Vorteile gehabt in diesen letzten
Jahren, in denen man auf
die freundschaftliche Gesinnung der Kaufleute mehr angewiesen war, als in
normalen Zeiten. Es liegt ja auch nahe, daß
eine Bäckersfrau, die von
sich behauptet, daß sie mich als den Sohn ihres verehrten Lehrers im
Kinderwagen ausgefahren hat, einmal auch ohne
Marken etwas für mich hat,
vorausgesetzt, daß ich mich damals anständig benommen habe.-
Als ich etwa 3 Jahre alt
war, hat mein Vater sich wieder verheiratet, bis dahin mußte eine Haushälterin
uns 3 Kinder versorgen. Für mich persönlich
war aber außerdem noch ein
Kindermädchen engagiert, sie hieß Auguste Nolte und soll von mir, der ich erst
relativ spät mir
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eine gute Sprache
angewöhnt habe, mit „AugoNo“ angeredet worden sein. Diese meine erste
Erzieherin AugoNo lebt noch in Einbeck, ich habe sie
noch vor kurzem besucht,
um ihr für ihre Dienste zu danken. Sie wußte natürlich von mir mehr zu
erzählen, als ich von ihr, doch ihr Bericht über
meine damals gezeigte
„sittliche Reife“ war nicht ungünstig.
Meine zweite Mutter, ich
sage bewusst nicht Stiefmutter, stammt aus Einbeck und war die Tochter des
Färbereibesitzers Wittram. Die Wittrams sind eine
alteingesessene Einbecker
Familie, die seit mehreren Generationen das Färberhandwerk und daneben etwas
Landwirtschaft betreibt.
Der Vater W. war bereits
verstorben, als mein Vater seine Tochter Hedwig kennen lernte, aber die Mutter
(Stiefmutter) stand noch dem großen
Haushalt von 8 Kindern
vor. Sie selbst und auch meine „Onkel und Tanten“ haben – wenngleich sie ja mit
mir keineswegs blutverwandt waren- in
meiner Jugend eine mehr
oder weniger große Rolle gespielt.
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Ich habe in ihr als Kind
meine Großmutter gesehen, und sie hat andererseits mich als solche behandelt.
Als ich älter wurde, wurden unsere
Beziehungen natürlich gelockert.
Von meinen Beziehungen zu den anderen Wittram´s werde ich später noch erzählen.
Doch schon an dieser Stelle will
ich von meiner zweiten
Mutter sprechen, so wie sie in meiner Erinnerung lebt. Es war gewiss für sie
nicht leicht, die Mutterstelle bei uns drei
Geschwistern zu
übernehmen.
Ihr Pflichtenkreis wurde
noch vergrößert, als meine Schwester Grete und mein Bruder Walther geboren
wurden. Grete ist etwa 6 Jahre, Walter 11
Jahre jünger als ich.
Vorweg kann ich zu ihrem großen Lobe sagen, daß ich als Kind keinen großen
Unterschied gemerkt habe in der Art, wie sie für
uns Kinder sorgte. Wenn
ich später empfunden habe, daß zwischen uns doch etwas fehlte, kann das ja kein
Vorwurf für sie sein. Immerhin habe ich
bis zu ihrem Tode
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in großer Verehrung zu ihr gehangen. Das charakteristische in ihrer Wesensart war ihre große Gottgläubigkeit, die für sie bei allem Leid, das ihr nicht
erspart blieb, eine starke Stütze war. Der schwerste Schicksalsschlag war für sie der Tod von ihrer Tochter – meiner über alles geliebten Schwester
Grete, - die im Alter von etwa 45 Jahren infolge Embolie nach einer Unterleibsoperation von uns ging. Bei ihr in Insterburg verbrachte sie ihren
Lebensabend, Grete sollte nach dem Tode meines Vaters unsere Mutter pflegen und betreuen, - aber als unsere Grete die Augen schloss, fand Mutter
Trost in ihrem Glauben und dem Wort: „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“
Mein Schwager Wilhelm , der ja auch mit seinen minderjährigen Söhnen durch den Verlust seiner Frau aufs Schwerste betroffen war, hat dann
unserer Mutter in seinem Haushalt in vorbildlicher Weise eine Heimat geboten, bis sie im Alter von 83 aus dieser Welt abberufen worden ist. Auf dem
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Friedhof in Insterburg ist
sie neben ihrer und unserer Grete zur Ruhe gebettet. Es ist für mich ein
schmerzlicher Gedanke, daß niemand von uns ihr
Grab, sofern es überhaupt
noch nicht zerstört ist, besuchen kann. Mit ihrem Tode fand ein Leben seinen
Abschluss, das reich an Pflichten und Arbeit
gewesen ist. Ich sehe sie
immer nur vor mir, wo sie in dem großen Haushalt schaffte und für uns alle
sorgte. Ohne Ansprüche an das Leben zu stellen,
war sie mehr als
bescheiden, stets zufrieden und hilfsbereit. Allerdings hatte sie einen Fehler,
- wenn man es als Fehler bezeichnen darf -, sie hatte zu
wenig Geltungsbedürfnis
und ein zu geringes Selbstbewusstsein. Mir ist mit zunehmendem Alter immer
klarer geworden, daß mein Vater es als Mangel
empfand und in seiner
Stellung vielleicht auch empfinden mußte, daß sie nicht repräsentieren konnte.
Als Frau des Töchterschuldirektors hätte sie in
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der Einbecker Gesellschaft
eine größere Rolle spielen müssen als es ihrer Wesensart entsprach. Sie hatte
einen übergroßen Respekt vor den sogenann-
ten vornehmen Leuten und
neigte andererseits dazu, sich mit den weniger Gebildeten mehr als nötig
anzubinden. Unser Hauspersonal hat sich gewiss
infolge dieser ihrer Wesensart
immer sehr wohlgefühlt, aber mein Vater hätte es gewiss lieber gesehen, wenn
sie mehr als „Dame“ hervorgetreten wäre.
Wenngleich meine Mutter
über eine gute Allgemeinbildung verfügte, - insbesondere waren ihre
Geschichtskenntnisse erstaunlich gut -, war unser Vater
ihr geistig überlegen.
Daraus folgte dann auch, daß er sie in seinen Entschlüssen insbesondere seinen
beruflichen Sorgen nur selten zu Rate zog.
Sie war ihm eine gute
Hausfrau und Mutter seiner Kinder, aber doch nicht eine Gefährtin im idealen
Sinne. Man konnte ihr daraus keinen Vorwurf
machen, und ich scheue
mich nicht zu bekennen,
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daß unser Vater ihre Werte
nicht immer hoch genug eingeschätzt hat.
In ihrer großen
Bescheidenheit und Zurückhaltung überließ sie auch die Erziehung von uns
Kindern dem Vater. Aus diesem Grunde hat sie auch
mich seelisch nur wenig
betreut, ich vermute, daß dafür neben unserem Vater meine beiden älteren
Schwestern in Betracht kamen und nachdem meine
Schwester Marie das
Elternhaus verlassen hatte, um in Bremen das Lehrerinnenseminar zu besuchen, in
erster Linie meine Schwester Annie, die etwa 8
Jahre älter war als ich.
Sie hat auch bei der
Frage, welchen Beruf ich ergreifen sollte, ein entscheidendes Wort
mitgesprochen, und wenn ich studieren konnte, habe ich das
sicherlich ihrem Zureden
mit zu verdanken. Sie hat sich aber nicht damit begnügt, mir zu meinem Studium
zu raten, sondern auch ihren Mann
– meinem Schwager
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Wilhelm Köhler –
veranlasst, mir geldlich zu helfen. Ohne diese Unterstützung wäre ich
wahrscheinlich nie Studienrat geworden, weil mein Vater nicht
in der Lage gewesen wäre,
die Kosten für meine Ausbildung zu tragen. Schon an dieser Stelle möchte ich in
aufrichtiger Dankbarkeit ihr und ihrem
Wilhelm, der leider schon
vor vielen Jahren – kaum 60 Jahre alt – verstorben ist, ein ehrenvolles Denkmal
setzen.
Wenn ich später vom Besuch
des Realgymnasiums in Erfurt erzählen werde, wird man erkennen, welche weiteren
Opfer das Ehepaar Köhler für mich
gebracht haben.
Meine Schwester Annie lebt
jetzt bei ihrer mit dem Pastor Knoke verheiraten Tochter Annemarie in einem
Dorfe in der Nähe von Bremervörde. Dort ist
sie in dem Haushalt rege
mit tätig, erfreut sich einer guten Gesundheit und ist stets in zufriedener
Stimmung, wenngleich das Leben ihr hart zugesetzt
hat, da sie nicht nur, wie
ich schon sagte, ihren Gatten mit dem
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sie in glücklicher Ehe
lebte, zu früh verloren hat, sondern auch nach dem ersten Weltkrieg ihr
Vermögen zum größten Teil einbüssen mußte und ihren
gepflegten Haushalt in
einer Villa in D. aufgeben und mit einem unruhigen und arbeitsreichen
Unterschlupf bei ihrem Schwiegersohn vertauschen
mußte.
Ich bin glücklich, daß
meine Schwester Annie noch unter den Lebenden weilt, wir sehen uns zwar selten,
aber meine Gedanken sind oft bei ihr.
In gleicher Weise muß ich dem Schicksal
dankbar sein, daß auch meine Schwester Maria ihr noch zur Seite steht.
Nach einem sehr
wechselreichen Leben - sie war erst Erzieherin in mehreren Familien, dann
Lehrerin an der Töchterschule in Einbeck und hat
sich dann mit unserem
Vetter, dem Pastor Georg Winkelmann, verheiratet, - wohnt sie jetzt wieder in
Einbeck. Ihr Mann ist ihr auch zu früh
genommen,
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und sie ist nach seinem
Tode innerlich vereinsamt. Als sie noch Pastorenfrau in Grasdorf (in der Nähe
von Hildesheim) und später in Neuenkirchen
(in der Nähe von Soltau)
war, habe ich mit meiner Gattin und unseren Kindern oft sie und ihren Mann, mit
dem ich mich eng verbunden fühlte,
besuchen dürfen. Wir
verlebten mehrere Jahre regelmäßig das Osterfest bei ihr und müssen für diese
ihre Gastfreundschaft sehr dankbar sein.
Es war wirklich keine
leichte Aufgabe, uns 5-6 Personen in ihrem schon ohnedies pflichtenreichen
Haushalt aufzunehmen, - Auch später, als sie
verwitwet wieder in
Einbeck wohnte, habe ich sie oft besuchen dürfen. Welche bedeutende Rolle sie
dann in den letzten Kriegsjahren für meine
Hermine und mich gespielt
hat, wird man erfahren, wenn ich von unsern Fahrten nach E. - um uns vor den
Bombenangriffen hier zu
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retten – erzähle.
Ich habe bereits erwähnt,
daß unsere Schwester Grete uns vor etwa 10 Jahren genommen wurde. Sie war der
Sonnenschein in unserer Familie, eine
ausgesprochene Frohnatur
mit einem warmen Herzen, anspruchslos an sich, hilfsbereit anderen gegenüber,
und infolge dieser Eigenschaften
allgemein geachtet und
beliebt. Noch heute lebt sie bei vielen Einbeckern in der Erinnerung fort.
Sie besaß ein starkes
soziales Empfinden, stand mit Rat und Tat denen, die in materieller und seelischer
Not waren bei, war dann später ihrem Gatten
eine getreue Gefährtin und
ihren beiden Söhnen eine liebevolle Mutter. Was sie in meinem Leben bedeutete,
kann ich nicht in Worte einkleiden, eine
schwache Vorstellung wird
man ahnen, wenn ich in diesem Buche meine Jugendzeit wieder zum Leben erwecke.
Durch ihren Tod fiel auf
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mein Dasein ein schwerer
Schatten – im Gegensatz zu ihr, die auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen
schien, hat mein Bruder Walther einen
steinigen Weg zurücklegen
müssen. In seiner Jugend lasteten, - wenngleich er fleißig und begabt war, die
Schulsorgen stark auf ihn, als Student
vermochte auch er nur
selten, die Schönheiten des Lebens stärker zu sehen als die Schattenseiten, im 1.
Weltkrieg büsste er ein Auge ein, danach war er
eine Zeitlang als
Studienassessor ohne Beschäftigung und konnte sich und seine Frau durch eine
Tätigkeit in der Landesversicherungsanstalt in H.
nur kümmerlich ernähren.
Eine schwere Herzerkrankung ließ eine Zeitlang das Schlimmste befürchten, die
in erster Linie wohl durch die aufopfernde
Pflege seiner Frau geheilt
wurde. Danach wurde seine Lage rosiger, er wurde Studienrat in Schlesien,
zuletzt in G. nahe der polnischen Grenze.
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Als meine Frau und ich
ihn, seine Gattin und ihre Tochter Almuth dort im Juli 1943 besuchten, freute
ich mich, seine Familie dort gut geborgen
vorzufinden. Aber das
Kriegsgeschehen hat ihm diesen Glückszustand geraubt. Er mußte mit seiner
Familie im Jan. 1945 unter Verlust seiner ganzen
Habe fliehen und fand
Zuflucht bei seiner Schwiegermutter in Eisenach. Dort weilt er auch jetzt noch
ohne berufliche Tätigkeit, fast ohne jede
Einnahmen. Seine Gattin
verdient etwas in einer Porzellanmalerei und wir Geschwister steuern etwas zu
seinem Haushaltsbudget bei.
Stärkere Hilfe von uns hat
er in seiner großen Bescheidenheit abgelehnt; ich nehme an, daß seine Tochter,
nachdem sie sich vor kurzem in Einbeck
verheiratet hat, ihm und
ihrer Mutter geldlich helfen kann und wird. Ich stehe mit ihm gegenseitig in
regem Briefwechsel und bin glücklich, seinen
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Worten entnehmen zu
können, daß er trotz allem relativ zufrieden ist. Er ist ein gläubiger Christ,
das hilft ihm in vielen Nöten.
In meiner Jugend spielte
er wegen des großen Altersunterschiedes von 11 Jahren nicht die große Rolle wie
unsere Schwester Grete, später bin ich für
ihn der große Bruder
gewesen, an den er sich oft mit seinen Sorgen gewandt hat. Es macht mich das
Bewusstsein glücklich, daß ich mehrfach ihm den
Weg ebnen konnte.
Zur Zeit denke ich oft mit
einer Sorge an ihn und möchte hoffen, daß in Kürze auch in seinem Dasein wieder
einmal die Sonne
scheint. Im Besonderen
sehne ich ein Wiedersehen mit ihm herbei, das gegenwärtig infolge der
Zonenabgrenzung noch nicht möglich ist. Ich habe
doch ein starkes Gefühl
der Zusammengehörigkeit mit ihm und nehme an seinem Geschick warmen Anteil.
Nachdem ich meiner Eltern
und meiner Geschwister gedacht habe, komme ich nunmehr zu mir selbst.
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Meine Kindheit und Jugend – 1896
Es liegt ja oft nahe, daß
ich an meine ersten Lebensjahre mich nicht erinnern kann. Aber je älter ich
werde, je häufiger und deutlicher treten einzelne Bilder aus dem Dunkel hervor,
die sich auf mein Geburtshaus, also auf das Alter bis zu meinen 5 Jahren
beziehen. Diese merkwürdige Tatsache gilt ja wohl allgemein. Ich sehe traumhaft
die Treppen mit einem breiten Geländer und verschwiegenen Ecken, in denen man
sich gut verstecken konnte. Ich sehe mich oft am Fenster sitzen und in den
engen Hof schauen, um die Hühner zu beobachten. Das scheint von mir eine
Lieblingsbeschäftigung gewesen zu sein, und vielleicht stammt aus jener Zeit
die Freundschaft, die ich noch heute für diese nützlichen Vögel hege. Die
Hühnerstiege, der Düngerhaufen davor, die Farbe des Gefieders – ja ich möchte
behaupten der Gesichtsausdruck der einzelnen Tiere haftet in meiner Erinnerung.
Ferner höre ich noch das Rauschen, der hohen Pappeln, die in der Nähe
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meines Geburtshauses standen
und vor denen ich immer Gruseln empfunden habe. Auch mein Riechorgan vermittelt
mir bisweilen die Verbindung mit „meiner“ ersten Wohnung, wenn es von Gerüchen
getroffen wird, die für sie vermutlich charakteristisch waren. Oft sitze ich
wieder vor den großen Steinstufen, umgeben von meinen Spielkameraden, die aber
kein persönliches Gepräge mehr tragen. Ich weiß auch nicht, wer zu ihnen
gehörte und habe in späteren Jahren auf dem Neuenmarkt auch niemand entdeckt,
an den ich mich erinnern könnte. Ganz deutlich sehe ich mich dann auf einem
Rollwagen sitzen, der unsere Möbel nach unserer neuen Wohnung am Steinweg
beförderte. Mein Vater hatte dort ein Haus erworben für etwa 10.000,-- M,
- die Hälfte des Kaufpreises konnte er bar bezahlen mit der Mitgift meiner
zweiten Mutter, den Rest hat er dann abgetragen, sodaß bei seinem Tode unser
Haus frei von Schulden war.
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Diese Übersiedlung in eine
andere Gegend kam mir wahrscheinlich wie eine Weltreise vor, wenngleich die
neue Wohnung von der alten kaum 5 Minuten entfernt war. Aber die Gegend, durch
die unser Möbelwagen fuhr, war mir völlig fremd – meine ersten Streifzüge waren
noch nicht so weit vorgedrungen. Noch fremder fühlte ich mich natürlich in der
neuen Behausung, obgleich sie auch für meinen Lebenswandel einen großen
Aufstieg bedeutete. Das Haus lag in einer Strasse, die damals als vornehm galt
– schon die Tatsache, daß in ihr zwei Offiziersfamilien wohnten, ist dafür ein
Beweis. Heute hat sie ihre Rolle ausgespielt. Mit dem Hause war ein großer
Garten verbunden, der bis zu einer Parallelstrasse vom Steinweg führte und auch
zu ihr einen Ausgang besaß. Dieser Garten war von dem Vorbesitzer des Hauses
sehr gepflegt, enthielt seltene Gewächse und Blumen und war reich an
Obstbäumen. Allerdings habe ich als Kind für diese Vorzüge
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wohl kaum Verständnis
gehabt, war im Gegenteil sehr betrübt, wenn mein Vater das Herumtollen in ihm
und meinen Freunden verbot. Allerdings glaube ich, daß ich doch oft – wenn der
Vater außer Sicht war – dies Gebot übertreten habe. Das Haus selbst war sehr
geräumig und enthielt etwa 1 Dutzend Räume. Natürlich wurden diese nicht von
uns allein bewohnt. In den ersten Jahren war die obere Etage vermietet, später
bezogen wir diese und gaben die unteren Räume ab. Meine Erinnerung bezieht sich
in erster Linie auf das Erdgeschoss, denn nach dem „Aufstieg“ war ich ja auch
nicht mehr ständig in meinem Elternhaus, sondern gab dort nur noch Gastrollen.-
Da ich inzwischen 6 Jahre alt geworden war, nahm ich den Kontakt mit den Nachbarskindern
auf – einige von diesen ersten Freunden habe ich noch bis in die letzte Zeit in
Einbeck wieder gesehen, allerdings ohne
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die alten Beziehungen
wieder aufleben zu lassen, dem Spielen auf der Strasse war sicherlich der
größte Teil meiner freien Zeit – und die werde ich wohl trotz der
Schulverpflichtungen gehabt haben – gewidmet. Ich habe mich wohl nur selten aus
der näheren Umgebung herausgewagt, hatte vermutlich eine gewisse Angst oder
Scheu, neue Bekanntschaften anzuknüpfen. Es gab aber noch eine Filiale meines
Wirkungskreises, das war das Haus meiner
Großmutter Wittram und der
daran grenzende landwirtschaftliche Betrieb. Dieses Haus – wohl eines der
größten Gebäude in Einbeck in der damaligen Zeit – mit seinen vielen Räumen,
großen Böden, der Färberei und dem winkligen Hof bot für mich viel
Geheimnisvolles. Dort waren die tiefen Färberbottiche, es gab einen Dampfkessel
- später sogar eine Dampfmaschine, - für mich ein Grund, mich zum erstem Mal
schon frühzeitig mit der „Wärmechemie“ zu befassen. Die Hauptattraktion aber
war die Mangel, in
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der die gefärbten Stoffe
geglättet wurden. Ein dunkler Raum, in dem ein schwerer mit Steinen gefüllter
Kasten durch eine Zahnradübertragung von einer vertikalen Achse hin und her
bewegt wurde. Als Antriebskraft diente ein altes Pferd, das die schwere
Aufgabe zu leisten hatte, nach einigen Umdrehungen selbstständig zu werden. Um
ihn dabei zu unterstützen, wurde ich von dem alten
Färber
in den Sattel gesetzt, voller Stolz über meine Dienstleistung. Daß mich dieser
Ritt lockte, ist ja wohl zu verstehen. Einen weiteren Höhepunkt dort bildeten
die Stunden, die ich bei dem Onkel Ernst – dem Inhaber der Färberei und
Leinendruckerei in seiner „Druckstube“ verbringen durfte. Ich saß dort auf dem
Drucktisch und ließ mir von ihm, während seiner Arbeit -, das Zeug zu bedrucken
-, nachging, die schönsten Märchen erzählen. Er war darin ein Meister, konnte
ferner wundervoll zeichnen und malen,
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wobei ich ihm zusehen
durfte. Dieser Onkel war überhaupt ein ausgesprochen musischer Mensch, daneben
in seinem Beruf tüchtig, aber vielleicht etwas weltfremd. Er hat sich nicht
verheiratet und ist vor wenigen Jahren über 80 Jahre alt gestorben. Bis zuletzt
habe ich ihn sehr geschätzt und versucht, ihm meine Dankbarkeit für das, was er
mir in meiner Kindheit gegeben hat, zu zeigen. Außer ihm war noch ein anderer
Onkel – Reinhold – für mich eine wichtige Persönlichkeit. Er war sicher
von robuster Wesensart, hat sich aber auch meiner liebevoll angenommen. Ihm
gehört die Landwirtschaft, die natürlich mir auch viel Reizvolles bot. Der
große Viehbestand - auch hier nicht zuletzt das Hühnervolk – die
Verrichtungen auf dem Hofe, die Gelegenheit dort mit „helfen“ zu können, alles
das war für mich eine Fundgrube Studien zu machen und mein Wissen zu
bereichern. Wenn dieser Onkel mit einem Kutschwagen durch die Felder
fuhr, um den Stand der Saaten zu besichtigen und die Arbeiter zu kontrollieren,
durfte ich mitfahren
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und wurde von ihm auf das
aufmerksam gemacht, was für einen Landwirt wissenswert ist. Ihm und diesen
Fahrten habe ich es zu verdanken, wenn ich später als Großstädter über diese
Dinge gut informiert war. Auf dem Wittramschen Hofe fand ich auch einen neuen
Kreis von Gespielen in den Kindern der Knechte; mit einem dieser Freunde hatte
ich einmal einen Konflikt, aus dem sich ein Ringkampf zwischen ihm und mir
entwickelte mit dem Ergebnis, daß ich von ihm in die Schaufensterscheibe eines
Fischgeschäftes geworfen wurde. Glücklicherweise war sie nur klein, immerhin
verlangte der Besitzer von mir, der ich zwar unschuldig aber doch wohl der
zahlungskräftigere der beiden Parteien war, einen Schadenersatz von 3 M. Damit
mein Vater nicht damit belastet wurde, übernahm mein Onkel diese Schuld, verpflichtete
mich jedoch, sie abzuverdienen dadurch, daß ich an dem Verziehen der
Zuckerrüben, wozu ein Dutzend Kinder engagiert war, mich beteiligte.
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Ich erhielt für die Arbeit
eines Nachmittags 20 Pfg – das war mein erster Verdienst. Nach einer anderen
Dienstleistung in der Landwirtschaft muss ich gedenken, die allerdings mit
einem Misserfolg endete. Als das Schwein geschlachtet werden sollte, bekam ich
den Auftrag die Laterne zu halten, denn es war ja morgens um 7 Uhr, noch völlig
dunkel. Gern unterzog ich mich dieser Pflicht: als aber das Tier in seiner
Todesangst anfing zu schreien, bekam ich Furcht und lief mit der Lichtquelle
davon. Dadurch mußte der Schlachtprozess unterbrochen werden, was für
alle Beteiligten vermutlich als große Störung empfunden wurde, abgesehen
vielleicht von dem Tier, das auf diese Weise noch einige Minuten länger leben
durfte. Es hat sich dafür auch als dankbar erwiesen – ich durfte trotz
meines Versagens eine kleine Wurst mit nach Hause nehmen. Damit diese nicht dem
allgemeinen Verzehr unserer großen Familie zum Opfer fiele, versteckte ich sie.
Später konnte ich sie aber selber
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nicht wiederfinden, bis
sie nach langer Zeit durch ihren Gestank ihren Aufenthaltsort verriet.
Natürlich war sie nun für mich nicht verloren, und meine Mutter tröstete mich
mit den Worten „was man spart für seinen Mund fressen nachher Katz und Hund“.
Damit war für mich dieses Schlachtfest nach jeder Richtung erfolglos
verlaufen.- Doch nun wieder zurück von dem Wirken in dem Hause Wittsam zum
Steinerweg. Dort gab es natürlich neben der freien Betätigung auch allerlei
Pflichten. Ich mußte täglich die Zeitung – (den
Hannoverschen
), der gemeinsam von 4 Parteien gelesen wurde, um die Kosten zu verringern,
wobei wir ihn zuerst und der letzte Teilhaber erst nach mehreren Tagen zu lesen
bekamen, was aber damals bei dem ruhigeren Weltgeschehen sicher kein großer
Nachteil war – weiter befördern, wobei mein Spiel immer störend unterbrochen
wurde. Ich mußte ferner das
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Wasser zum Trinken von
einem fernen Brunnen, der ein besonders frisches Nass spendete, holen; dann
waren die Wege zu einem Schlachter, der durch seine Wurst berühmt war – er hieß
Wursteicke und wohnte an dem anderen Ende der Stadt - für mich gewaltige
Touren, zu denen ich mich wie zu einer Polarexpedition rüsten mußte. Auch im
Garten gab es für mich allerlei Arbeit, besonders dann, wenn ein Gärtner im
Frühling und Herbst engagiert war und ich ihm dabei „helfen“ mußte. Dieser
Gärtner hieß Goldberg, war eine originelle Type, mit dem ich mich gern
unterhielt. Ich will hier ein Gespräch mit ihm festhalten, das vielleicht
verdient, der Nachwelt überführt zu werden. Es läuteten die Kirchenglocken, was
den Meister Goldberg zu der Bemerkung veranlasste: (er sprach ostpreußischen
Dialekt, den ich nicht wiedergeben kann) „der Maurer Nussbaum wird begraben,
und da sagen die Leute, der hat sich zu Tode gesoffen. Wenn aber morgen der
Major Lenzel (eine hoch angesehene Persönlichkeit) wird begraben werden, dann
heißt es
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„ach, ist der gute alte
Mann auch schon hinüber.“ Nun muss ich erwähnen, daß der oben genannte Maurer
ein notorischer Trinker war, der seine Frau so schlecht behandelt hat, daß sie
den Pfarrer von seinem Ableben mit den Worten in Kenntnis gesetzt haben soll
„Herr Pastor, ick mött lachen, wenn ick et sagge, mein Mann is dote“. (ich muss
lachen, wenn ich es sage, mein Mann ist tot“). Nun dieser Hochruf lässt ja tief
blicken, trotzdem gefiel meinem Freund Goldberg diese verschiedenen
Stellungnahmen des Publikums zu diesen beiden Todesfällen nicht, und er
glaubte, für einen Augenblick sorgen zu müssen. Da er auch auf dem Friedhof als
Totengräber tätig war, sah er dabei bei Ausübung seines Berufs eine
Gelegenheit. Jedenfalls beendete er unser Gespräch mit der Drohung „aber ick
werde Rache nehmen; wenn morgen der Major Lenzel wird begraben werden,
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dann werde ick ihm die
Erde fester uff den Sarg bullern.“ Ich möchte glauben, daß der Entschlafene
dadurch in seiner Ruhe nicht wesentlich gestört sein wird.
Im allgemeinen werden wohl
meine Tage recht gleichförmig verlaufen sein, es gab aber auch Höhepunkte, zu
denen in erster Linie der Jahrmarkt gehörte, der dreimal jährlich in Einbeck
stattfand. Schon lange vor dem öffentlichen Beginn lief ich zum Bahnhof, um
festzustellen, welche Karusselwagen – so nannten wir die grünen Wagen der
Schausteller – anrollten. Dabei war für mich besonders wichtig, ob der Wagen
des Catcherbudenbesitzers - der leicht daran erkennbar war, daß das
Gestell der Catcherbude unter ihm hervorragte – sich unter ihnen
befand. War das nicht der Fall, dann ging der Hauptweg des Jahrmarktes
für mich verloren. Sofern er aber erschien, war ich sicher der eifrigste und
damit beste Besucher seiner Vorführungen. Allerdings habe ich meinen Dank nicht
durch den schnöden Mammon zum Ausdruck bringen können, denn
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das Kapital, das mir für
die 3 Festtage zur Verfügung stand war gering und betrug nur 20 Pfg. Allerdings
bekam ich zu dieser Spende von meinen Eltern noch 5 Pfg hinzu von meiner
Großmutter, nachdem ich ihr feierlich zum Jahrmarkt gratuliert hatte – was es
dabei zu gratulieren gab, ist mir jedoch nie klar geworden.- Wie ich es fertig
gebracht habe, trotz dieser geringen Finanzkraft an allen Vergnügungen
teilzunehmen, Karussel zu fahren, die Buden zu besuchen, Kuchen zu kaufen und
auch noch Spielsachen zu erwerben, ist mir noch heute ein Rätsel. Jedenfalls
habe ich meine „Armut“ nicht empfunden und bin sicherlich wie ein Krösus
aufgetreten. Ich erinnere mich, daß ich mir einige Genüsse selbst verdient
habe, dadurch, daß ich beim Aufbauen der Buden mitgeholfen habe. Einmal mußte
ich den Mann vertreten, der die Orgel des Karussels zu drehen hatte
und einen Dämmerschoppen
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während seines schweren
Dienstes einlegen wollte. Seine Sitzung zog sich sehr in die Länge, ich war
aber zu gewissenhaft, um meinen Posten zu verlassen und orgelte pflichtgetreu
weiter, wenngleich es dunkel geworden und Zeit zum Abendessen war. Der
„freundliche“ Empfang zu Hause von meinem Vater, der sich wegen meines
Ausbleibens natürlich sehr geängstigt hatte, ist mir noch in lebhafter
Erinnerung. Noch katastrophaler waren für mich die Folgen, als ich eines
Abends ausgekratzt war, um eine Kunstarena (einen kleinen Cirkus) auf dem
Rummelplatz zu besuchen. Trotz meiner großen Vorliebe für diese
Darbietungen die ich bis in mein spätes Alter gehalten habe, mußte
ich mir eine Wiederholung dieses selbst gewährten Urlaubs versagen,
schon, um meinem Vater die Sorge um mich zu ersparen. Weshalb ich nicht mit
seiner Genehmigung meinen Bildungstrieb befriedigen durfte, ist mir nicht
klar.-
Wenn ich den Jahrmarkt als
den Höhepunkt ins Außenleben erwähnte, muss ich nun auch
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von dem Weihnachtsfest als
den besonderen Glanz im Familienleben erzählen. Es gab eine besondere
„Weihnachtsstube“, die außerhalb der Festtage ihren Zauber für mich hatte. Ich
sehe noch die Kugeln an unserem Tannenbaum und rieche noch den Lack, der
von meinem Schaukelpferd, das in jedem Jahr in einem neuen Gewande unter dem Christbaum
stand, ausströmte. Wenngleich wir im allgemeinen nicht durch Spielsachen
verwöhnt wurden, war unser Geschenktisch doch immer reich. Gewiss waren es
keine kostbaren Dinge, die mir der Weihnachtsmann brachte, keine elektrischen
Eisenbahnen und keine Stabilbaukästen, aber das, was mir zu eigen wurde,
erfüllte mich doch mit großem Glück. Besonders war ich erfreut über einen
Modellierbogen, der in dem Paket, das unsere Schwester Maria, die in Bremen das
Fest verlebte, an uns geschickt hatte. Für mich war das mehrere Jahre der Fall.
Damals wurde schon der Grundstein gelegt für meine Neigung,
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mich mit
„Modellierarbeiten“ zu befassen, die noch heute anhält. Ich entsinne mich auch,
daß sich unter meinen Geschenken stets Malkästen und Buntstifte befanden, und
daß ich schon als Kind gerne gezeichnet und gemalt habe. Mein erstes dazu
benötigtes Werkzeug war ein Farbstift, halbrot, halbblau, der meinem Vater
gehörte und den ich nur dann benutzen durfte, wenn ich besonders artig gewesen
war. Er lebt in meiner Erinnerung fort. Wenn unser Gabentisch trotz der
damaligen schlechten Finanzlage meines Vaters relativ reich ausfiel, haben wir
das unserem Onkel Hermann aus Bremen, einem Bruder meiner verstorbenen Mutter,
zu verdanken, der jedes Jahr kurz vor Weihnachten meinem Vater 50 M für den
Weihnachtsmann übersandte. Außerdem erhielt mein Vater stets eine Kiste
Zigarren, von der ich dann später, als ich erwachsen war, auch profitiert
habe.-
Das, was ich bisher
schrieb, bezieht sich zum größten Teil auf die Zeit bis zu
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meinem 10.Lebensjahre. In
dem darauf folgenden Abschnitt traten die Schulsorgen unangenehm in die
Erscheinung. Ich war mit 6 ½ Jahren in die 2.Klasse der Vorschule aufgenommen,
nachdem ich in den Grundlagen der Wissenschaften von meinem Vater vorbereitet
war, - war ich demnach später einer der jüngsten Schüler. Das ist vielleicht
der Grund dafür gewesen, daß man mich in der Quinta sitzen ließ und zwar – ich
schäme mich fast es zu sagen - weil ich im Rechnen angeblich den Anforderungen
nicht genügte. Man kann daraus entnehmen, daß meine mathematische Begabung sich
erst später entwickelt hat. Diese Nichtversetzung erfolgte übrigens für mich –
auch für meinen Vater, - ziemlich unerwartet. Es war damals noch nicht Sitte,
vor Ostern durch Vorwarnungen das Elternhaus auf den Misserfolg schonend
vorzubereiten. Ich habe aber diesen Reinfall nicht weiter tragisch genommen,
mein Vater wohl
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auch nicht, zumal 10
meiner Klassenkameraden dieses Schicksal mit mir teilen mußten, unter
denen ich den 3.Platz nach meinen Leistungen einnahm – immerhin ein
Achtungserfolg. Jedoch scheint dadurch mein Arbeitseifer gelitten zu haben,
denn nach einem Vierteljahr rutschte ich 2 Plätze herunter, worüber mein Vater
weniger erbaut war. Vielleicht erscheint mein Versagen in einem milderen
Lichte, wenn ich erzähle, daß ich in diesem Schulquartal ein böses Missgeschick
hatte, durch das ein Schatten auf mein junges Leben fiel. Durch einen älteren
Schüler, der bei uns in Pension war, wurden mir 2 Fingerglieder beim
Holzhacken, das von ihm ausgeübt wurde und wobei er mich hinzugezogen
hatte – mit dem Beil abgehauen. Wie dieses Unglück sich im einzelnen abgespielt
hat, ist mir nie klar geworden. Über diese „Verstümmelung“ war besonders mein
Vater sehr betrübt – er sah vielleicht die Folgen zu schwer - ich selbst
war besonders traurig darüber, daß
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ich nun meine
Klavierstudien, die von meiner Schwester Annie geleitet wurden, nicht fortsetzen
konnte und lernte Geigespielen bei unserem Nachbar Müller. Später stellte sich
dann aber heraus, daß ich trotz dieses Defektes meine Künste auf dem Klavier
wieder aufnehmen konnte; ich bin zwar kein vollkommener Pianist geworden
- meine „Läufe“ glichen nicht Perlenschnüren -, aber habe doch im
Familienkreis mich einigermaßen bewährt. Ein Gutes hat dieser „Defekt“
jedenfalls gehabt – ich brauchte nicht Soldat zu werden und habe dadurch den
1.Weltkrieg gut überstanden. Man sieht aus dieser Begebenheit, daß ein
Unglücksfall sich auch günstig auswirken kann.- Um bei meinen
Schulortabschnitten zu bleiben, will ich jetzt meine Einbecker Lehrer in der
Erinnerung Revue passieren lassen. Mein Urteil über sie wird damals nicht so
ungünstig gewesen sein wie heute von
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meinem Standpunkt als
Sachverständiger ausgesehen. Die Mehrzahl von ihnen waren keine Pädagogen, zwei
unter ihnen will ich ausführlicher unter die Lupe nehmen, der eine, unser
Latein- und Geschichtslehrer, er hieß Schlöma, der andere der Mathematiker
Krönke. Beim ersten habe ich nichts gelernt, dem zweiten verdanke ich die
Grundlagen meiner mathem. Kenntnisse. Der alte Schlöma konnte schlecht hören,
noch schlechter sehen – die Stunden bei ihm bestanden nur aus einem dauernden
Lärm, und die Mitschüler, ich selbst eingeschlossen, suchten sich darin zu
übertrumpfen, Unfug zu treiben und ihn zu ärgern. Er hatte eine fein abgewogene
Art, uns zu beurteilen, begnügte sich nicht mit 4 Zensuren, sondern machte
Unterschiede zwischen 3-4-4 oder 3-3-4 (3 unterstrichen) das war noch
eine Idee besser, als 3-4-4 (4 Unterstrichen). Eine wahrhaft geniale
Idee. Dabei wurden diese Zensuren nur einmal im Vierteljahr erteilt bei der
Wiederholung z.B. in Geschichte. Um uns die Arbeit zu erleichtern,
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hatten wir Schüler das
Pensum unter uns ein für alle Mal verteilt. Ich war zuständig für die
Regierungszeiten der Kaiser (919-1036), ich kann sie noch heute auswendig. Bei
seiner diesbezüglichen Frage durfte nur ich mich melden, mein Freund
Georg Krone nur bei den fränkischen Kaisern – so erwarb ich mir dann mein
„genügend“ in Geschichte, das heißt eventuell auf 3-3-2, 3 unterstrichen. Daß
ich mir diesen Erzieher in meinem späteren Beruf nicht zum Vorbild nehmen
konnte, wird man verstehen. Das gilt aber auch für den Mathematiker Krönke,
weil er, obgleich ich viel bei ihm gelernt habe, in seiner unglaublichen
Strenge, um nicht zu sagen Brutalität der Schrecken der gesamten Schülerschaft
und auch der Eltern war. Nach seiner Verheiratung, als er selbst Söhne hatte,
soll er wesentlich milder geworden sein. Um mein Urteil zu belegen, schildere
ich einige
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Begebnisse. Als ich ihn
auf der Strasse nicht gegrüßt hatte, weil ich mit meinem Freund im Gehen
Briefmarken getauscht und ich ihn nicht gesehen hatte, mußte ich zur Strafe aus
einer mathem. Aufgabensammlung 3 Seiten Aufgaben rechnen, eine Arbeit, die
sicher eine Woche mich in Anspruch genommen hat. Hatte ich etwas vergessen, ein
Lineal z.B. oder den Buntstift, dann mußte ich früh um 6 Uhr vor seiner Wohnung
erscheinen, durch meine Klinggebung ihn an sein Fenster in die II. Etage rufen
und das vergessene Objekt vorzeigen. Natürlich litt unser ganzer Haushalt unter
dieser meiner Verpflichtung und meine Mutter mußte meinetwegen eine Stunde
früher ihre wohlverdiente Nachtruhe abbrechen. Ich schreibe dies, damit man
sieht, wie man es als Lehrer nicht machen soll. Kein Schüler und kein
Elternhaus wagte damals, sich über diese Methode zu beschweren. Doch ein
Mitschüler, der aus Hannover stammte und in Einbeck in Pension war, hatte mehr
Mut als wir
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Kleinstädter. Als der
gefürchtete Krönke auf sein Versagen in der Mathematik an diesen Kameraden die
Frage richtete: „Giesecke, ein Schaf wie Sie und noch ein Schaf wie Sie, was
ergibt das?“ Antwortete Giesecke: “Zwei Schafe wie Sie.“ Da diese Antwort
mathematisch richtig war, mußte Kr. diese Entgegnung einstecken. Einmal wollte
ich, wenngleich ich auf Grund meiner Leistungen im allgemeinen mit Kr. auf
einem guten Fuss stand, mich auch hervortun, ihn ärgern und gab meine Antworten
übermäßig laut – denn Kr. forderte stets laute Antworten, und ich wollte die
Sache dadurch übertreiben. Natürlich merkte er meine Absicht und sagte:
Wolfhagen lauter, ich höre garnichts. Ich mußte also noch steigern, aber auch ohne
ihn damit befriedigen zu können. Schließlich mußte ich unten auf dem Schulhof
und von dort aus den mathem. Beweis so laut herausbrüllen, daß er es am Fenster
in der
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II. Etage verstehen
konnte. Ich war eine Woche stark heiser und habe nie wieder versucht, ihn zu
ärgern.- Wir haben uns später wieder vertragen, und ich habe ihn bis zu seinem
Tod vor wenigen Jahren sofern ich in Einbeck war, regelmäßig besucht, und meine
Dankbarkeit für das, was er mir für mein Fach gegeben hat, ist größer als der
Groll über die mir zugefügten Härten.- Ich habe diese Erlebnisse geschildert,
wenngleich aus ihnen hervorgeht, daß ich auch kein Musterschüler war, habe
übrigens auch meinen Schülern gegenüber davon gesprochen.
Jedenfalls habe ich auch
meine Schulsorgen gehabt, die aber ausgeglichen wurden durch die schöne
Ferienzeit – schön vorallem deshalb, weil in ihr mein Vater mich häufig mit auf
Reisen nahm. Das Reiseziel war immer die Heimat meines Vaters, die Lüneburger
Heide. Zuerst ging es nach Scharnhorst, wo eine Schwester meines Vaters mit dem
Schmiedemeister Breese verheiratet war, von dort nach Marwede, wo
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ein Bruder meines Vaters
noch als Mühlenbesitzer in dem Stammhause wohnte. Anschließend nach Belsen
(jetzt berüchtigt durch das dortige Konzentrationslager) zu der Tante Minna,
die mit einem Lehrer Winkelmann verheiratet war. (Das sind die Eltern von
dem Pastor Winkelmann, meinem Schwager, den ich, als ich von meiner Schwester
Maria sprach, schon erwähnt habe). Meistens endete dann unsere Reise in
Starkshorn, wo mehrere Cousinen meines Vaters lebten und woher die Mutter
meines Vaters stammte. Starkshorn kann ich also auch als mein Stammhaus ansehen
und daraus erklärt sich auch wohl meine Sympathie, die ich noch heute für
diesen idyllischen Platz hege, und die mich und meine Gattin jährlich ein- bis
zweimal nach dort zieht. Natürlich kommt hinzu, daß dort Menschen wohnen, die
uns sehr lieb sind. Die Frau des Besitzers des etwa 2000 Morgen
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großen Gutes – wovon
allerdings 1700 Morgen aus Wald und Heide bestehen, stand mir in ihrer und
meiner Jugend besonders nahe. In meiner Studentenzeit war sie meine Flamme –
ich habe es ihr aber nicht nachgetragen, daß sie mich später verschmäht hat.
Die Tochter Ilse war um 1930 herum 1½ Jahre bei uns in Pension, um hier eine
höhere Schule zu besuchen. Ich möchte wünschen, daß auch in späteren
Generationen die Verbindung zwischen meiner Familie und
den
bestehen bleibt. Leider ist ein Kontakt mit dem Wolfhagen´schen Stammhause in
Marwede z.Z. kaum noch vorhanden, die von meinem Vetter, dem Postrat Wolfhagen
herausgegebene Familiengeschichte wird hoffentlich dafür sorgen, daß wenigstens
im Geiste diese Verbindung bestehen bleibt. Mein Reisebericht würde
unvollständig sein, wenn ich nicht auch meines Vetters, des Rektors Winkelmann,
und seiner Familie gedenken sollte, die oft von meinem Vater und später auch
von mir allein besucht wurde.
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Ihm, seiner Frau Sophie
und den 3 Töchtern verdanke ich viele frohe Wochen. Mit den Töchtern bestehen
immer noch gute Beziehungen, alle 3 sind Lehrerinnen geworden. Diese
Ferienreisen waren für meinen Vater der Grund seiner Erholung, auf ihnen vergaß
er seine vielen Sorgen, wurde wieder der frohe Mensch, als der er in seiner
Jugend gegolten hat; er fand Zeit, sich mir weit mehr zu widmen als sonst und
zeigte sich mir als den väterlichen Freund und nicht nur als der Erzieher.
Mit etwa 15 Jahren bestand
ich die „Einjährige Prüfung“ – die Schule in Einbeck gab mir damals nicht die
Möglichkeit, mein Studium fortzusetzen – ich mußte das Elternhaus verlassen, um
das Realgymnasium in Erfurt zu besuchen.
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Schüler am Realgymnasium in Erfurt 1896-1899
Diese Anstalt war für mich
ausersehen, weil ich dann bei meiner Schwester Annie, die im Juli 1896 sich mit
dem in Erfurt als Ingenieur an einer Dampffabrik angestellten Wilhelm Köhler
verheiraten sollte, wohnen konnte. Das war schon aus pekuniären Gründen
wichtig, denn ich habe bei ihr nur einen geringen Pensionspreis zu
bezahlen brauchen – ich glaube, M 40 im Monat. Zunächst aber mußte ich ein
Vierteljahr mit meinem Schwager gemeinsam als Junggeselle hausen. Wir beide
waren bei einer sehr biederen älteren Dame untergebracht, bei der außer uns
noch eine junge Dame wohnte. Von ihr wurde ich als Klavierlehrer engagiert
- sie sollte ihrem Vater zu seinem Geburtstag den damals sehr beliebten
Marsch „mein Herz, das ist ein Bienenhaus, die Mädchen sind darin die Bienen“
vorspielen und ich sollte ihr dabei den letzten Schliff beibringen. Dafür
erhielt ich pro Stunde 50 Pfg, mehr wird meine Leistung auch nicht wert gewesen
sein.
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In diesem ersten Quartal
war ich, da mein Schwager bis zum Abend Dienst hatte, sehr vereinsamt. Ich bin
meistens allein durch die Großstadt Erfurt gewandert und habe viel Heimweh
gehabt. Dieser Zustand wurde natürlich viel besser, nachdem die schwesterliche
Ehe geschlossen war. Sicherlich war es für das junge Paar nicht gerade
angenehm, mich dauernd als Zeuge seines Glückes um sich sehen zu müssen.
Allmählich aber fand ich Schulfreunde, in deren Familien ich verkehrte, so daß
man mich zu Hause oft loswurde. In den 3 Jahren wechselten meine Pensionseltern
dreimal ihre Wohnung infolge der Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage, ich bin
also nirgends so recht warm geworden und meine Erinnerung an die verschiedenen
Quartiere ist nur schwach. Auch mit meinen Mitschülern verknüpft mich kaum noch
eine Verbindung. Bei meinem Eintritt in die Schule wurde ich mit sehr kritischen
Augen begrüßt, ich habe mich auch in dem
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Kreis der Großstädter nie
so recht wohl gefühlt. Meine Stellung wurde noch schwieriger, als ich die
anderen durch meine guten Leistungen – nachdem ich mich eingelebt hatte -
übertraf. Ich hatte aber meinen Konkurrenten, der ein
vorzüglicher
phologe war, wohingegen ich in der Mathematik führte. Infolge meiner guten
Aussprache - verglichen mit dem Thüringer Dialekt – mußte ich oft deklamieren
und in kleinen Aufführungen bei Schulfesten mitwirken. Meinen größten
„Bühnenerfolg“ hatte ich in dem Kaisersaal (geschichtlich berühmt 1815), wo ein
Vortrag über Röntgenstrahlen stattfand, die noch in dem Anfangsstadium der
Erforschung sich befanden. Zu diesem Vortrag wurden wir Schüler geschlossen
hingeführt. Als nun der Redner fragte, ob in dem Publikum sich jemand mit einer
Knochenverletzung befand – die er durch die Röntgenstrahlen festhalten wollte –
meldete ich mich, wurde auf die Bühne gebeten, und dort wurde dann meine Hand
auf einer photographischen Platte ruhend, etwa 10 Minuten lang belichtet.
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Ich glaube, ich bin mir in
meiner Rolle sehr wichtig vorgekommen. Noch stolzer war ich, als an dem
nächsten Tage meine photograf. Hand an der Hauptstraße in einem Schaufenster
ausgestellt war. Dabei bin dann stundenlang in der Nähe herumpatroulliert,
glaubend oder hoffend, daß das Publikum die Verbindung zwischen mir und
der Hand erkennen und mich entsprechend ehren würde. Das ist aber nicht der
Fall gewesen. Ich erzähle dieses Erlebnis als Beweis dafür, daß man in der
Jugend seine Bedeutung bisweilen überschätzt.-
Im allgemeinen aber hatte
ich allerdings oft Minderwertigkeitskomplexe, was vielleicht durch meine
Erziehung sich erklärte. Ich war unfrei, langsam in meinen Entschlüssen, hatte
Angst vor den Mitmenschen und war sicherlich kein Draufgänger. Mit meinen
Lehrern verstand ich mich durchweg gut, ich wurde zum Führer der Klasse ernannt
und wurde vom Schulgeld befreit. Das Abitur, das ich infolge meiner oben
geschilderten Lebensart, mit großem
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Bangen
entgegengesehen hatte, habe ich unter Ängsten vor der mündlichen Prüfung
ohne Lücken überwunden. Dabei waren die Anforderungen ziemlich hoch, der größte
Teil Der Lehrer war tüchtig. Aber in jener Zeit bestand zwischen ihnen und der
Schülerschaft noch eine große Kluft; es gab kein kameradschaftliches
Verhältnis, auf das ich später als Lehrer großen Wert gelegt habe. Insbesondere
war der Direktor unnahbar, ein finsterer Mann, den ich nie habe lachen sehen
und vor dem wir alle eine riesige Angst hatten. Kenntnisse hat mir die Schule
zwar geboten, aber meine Erziehung fürs Leben hat sie mir kaum gegeben. Um
meine Finanzlage zu heben – von meinem Vater erhielt ich monatlich 3 M
Taschengeld – gab ich allerlei Privatstunden; in der Unterprima war ich in der
Familie eines Fabrikaten jeden Tag zur Beaufsichtigung der Schularbeiten der
fünf Kinder engagiert. Dieser Fabrikant wohnte in einem Vorort, und ich hatte
einen langen Anmarschweg, so daß ich von 4-6 im Dienst war. Dadurch verdiente ich
noch 6 M, das war für mich eine große Summe, die ich in der
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Hauptsache dazu benutzte,
um das Erfurter Theater zu besuchen. Auf dem 2.Rang für 50 Pfg habe ich in
jenen Jahren die meisten bedeutenden Opern und Schauspiele genießen können.
Außerdem kaufte ich mir von meinem Verdienst einen Photoapparat – in der
damaligen Zeit noch eine Besonderheit und bei der Anschaffung eines
Fahrrades durch meinen Vater zu den Kosten bei. Auch der Besitz eines Fahrrades
war damals eine Seltenheit. Auf ihm habe ich dann weite Touren in die schöne
Gegend Erfurts unternommen. – Es ist mir heute unverständlich, wie ich bei
dieser starken Belastung durch Privatstunden und Theaterbesuch meine
Schularbeiten gewissenhaft habe erledigen können. Jedenfalls kann man daraus
folgern, daß bei richtiger Zeiteinteilung ein fleißiger und guter Schüler auch
außerhalb der Schule sich dem Leben widmen kann.-
Diese Erkenntnis habe ich
später
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meinen Schülern
vorgehalten, sofern sie glaubten, nicht erfüllte Schulaufgaben mit Mangel an
Zeit entschuldigen zu können.
Die Schulferien verbrachte
ich natürlich in Einbeck in meinem Elternhause, wo inzwischen meine
Schwester Grete so alt geworden war (12 Jahre), daß ich sie für voll ansehen
konnte oder besser, daß wir uns in einer gemeinsamen Interessengemeinschaft
befanden. Mit ihr habe ich mich in meiner Urlaubszeit viel beschäftigt
und allerlei Taten ausgeführt – außerdem für meinen kleinen Bruder Walther, der
etwa 6 Jahre alt war, gern Schulsachen gebastelt und mich dadurch bei ihm
beliebt gemacht und mir seine Hochachtung vor dem großen Bruder erworben.
Natürlich widmete ich mich auch meinen Eltern und beteiligte mich an den
Spaziergängen meines Vaters. Diese führte er regelmäßig am Mittwoch und
Sonnabend Nachm. mit seinem gute Freunde, dem Apotheker Schlichting aus. Das
Ziel war meistens ein Waldlokal in der Nähe von Einbeck, der Hasenjäger, in
dieser idyllischen Wirtschaft fühle ich mich
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noch heute sehr verbunden
– auch mit dem angestammten Besitzer – wenn ich in E. weile, trinke ich dort
fast täglich nachm. meinen Kaffee. Mein Lebenslauf wäre lückenhaft, wenn ich
den „Hasenjäger“ nicht hervorgehoben hätte.
Ostern 1899 war meine
Laufbahn in Erfurt beendigt, das Leben stand mir, der ich im Besitze eines
Reifezeugnisses war, offen. Nach einer sorgenlosen Schulzeit siedelte ich nach
Göttingen über, um Mathematik und Physik zu studieren.
Beim Rückblick auf die
Erfurter Zeit muß ich meiner Schwester Annie und ihrem Mann herzlichst danken für
all das Gute, das ich bei ihnen genossen habe. Wie groß das Opfer war, das sie
mir gebracht haben, habe ich als Schüler sicherlich nicht n dem Maße empfunden
wie später und insbesondere heute.
Ernst Wolfhagen als Student
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Meine Studienzeit in Göttingen
Mein Studium wurde mir nur
dadurch ermöglicht, daß mein Schwager Wilhelm Köhler sich bereit erklärt hatte,
mir eine erhebliche Summe (etwa M 4000) zu leihen, natürlich für mich mit der
Verpflichtung, sie später zurückzuzahlen. Dadurch, daß mein Schwiegervater
großzügig bei meiner Verheiratung diese Schuld beglichen hat, ruhte sie nicht
als Ballast auf meiner jungen Ehe. Außerdem war mir von der Stadt Einbeck ein
Freitisch (die Kosten für ein Mittagessen) in Aussicht gestellt, und wir
durften auch hoffen, von anderen Stiftungen Stipendien zu erhalten. Bevor diese
bewilligt wurden, mußte ich ein Fleißzeugnis einreichen, das heißt, am Schluß
der einzelnen Semester von meinen Professoren bescheinigen lassen, daß ich an
ihren Vorlesungen mit Erfolg teilgenommen hatte. Dadurch war ich gezwungen von
Anfang an zu arbeiten und konnte nicht die ersten Semester verbummeln. Diese
Verpflichtung war entschieden für mich
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ein Segen. Ich weiß nicht,
ob ich auch ohne sie mich gleich mit Volldampf den Wissenschaften gewidmet
haben würde. Zuerst konnte ich das, was mir dargeboten wurde, verstehen-
ich war also von der Schule gut vorbereitet – später hatte ich Schwierigkeiten
und bekam wieder Minderwertigkeitskomplexe in einem Maße, daß ich in
meinem 4.Semester daran dachte, umzuschwenken, d.h. das schwierige Gebiet der
Mathematik gegen ein leichteres Studium einzutauschen. Dem Zureden meines
Freundes Albert Oppermann ist es in erster Linie zu verdanken, daß ich wieder
Mut bekam. Die Gebiete, die eine Verbindung mit der Technik und überhaupt der
Praxis gestatteten, befriedigten mich mehr als
die
Wissenschaft, so daß ich auch erwog, zur Technischen Hochschule überzugehen.
Ich bin ja aber doch nicht fahnenflüchtig geworden. In meinem 6.Semester trat
ich in das mathemat. Seminar
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ein, dessen Mitglieder
selbst Vorträge halten mußten. Mir fiel der Auftrag zu, über den Schlick´schen
Massenausgleich zu sprechen. (Anordnung, um den Gang der Dampfmaschine
gleichmäßiger zu gestalten). Es kam dabei auf die Berechnungen des
Schwungrades an. Natürlich stand ich wieder einmal unter Druck, wenn meine
Freunde mich trafen, war ihre Frage „Ha Wolf (so hieß ich in Göttingen) was macht
das Schwungrad?“ Nun es machte mir Sorgen, aber mein Vortrag fiel wider
Erwarten gut aus, wurde vor dem Professor (dem berühmten Felix Klein) gelobt
und hatte mir damit ein gutes Fundament für meine spätere Beurteilung
geschaffen. Als ich am Schluß des 10.Semesters bei ihm in meinem Staatsexamen
geprüft wurde, hatte er mich noch in guter Erinnerung und prüfte mich mit
großem Wohlwollen. Das gleiche gilt auch von dem Prof. Völs, bei dem ich
mehrere Semesterlang regelmäßig an den physikalischen Übungen (= Praktika)
teilgenommen hatte,
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Ich hatte in der Physik
sicher Lücken, aber er hat sie nicht gemerkt oder wollte sie nicht merken. In
meinem 3.Fach, der angewandten Mathematik hatte ich keine Angst, das war mein
Steckenpferd. Nachdem ich somit in Fächern für die Oberstufe mit Erfolg
geprüft war, mußte ich noch meine „allgemeine Bildung“ nachweisen. Das war in
jenen Jahren Pflichtfach, und deshalb wurde ich von dem Direktor des Göttinger
Gymnasiums in Deutsch und Religion geprüft. Für diese Fächer hatte ich mich
kaum vorbereitet, Ich verließ mich auf meine allgemeine Intelligenz, wäre aber
um ein Haar damit ….
Böse Menschen (meine
Freunde) behaupten, ich hätte den Apostel Paulus als Teppichklopfer statt als
Teppichweber charakterisiert. Nun ganz so schlimm wird’s wohl nicht gewesen
sein, immerhin habe ich es nur dem Wohlwollen des Prüfenden zu verdanken, wenn
mir auch nur die allgemeine
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Bildung zuerkannt wurde.
So habe ich demnach die eigentlichen Aufgaben meiner Studienzeit ohne Zwischenfall
erfüllt, habe aber auch die andere Seite des Studienlebens in vollen Zügen
genossen. Die Erinnerung an sie gibt mir in dieser trüben Gegenwart Trost und
Licht. Das Schöne, was ich in diesen Jahren erlebte, erscheint mir sehr oft im
Traum wieder; die alten Freunde, von denen der größte Teil nicht mehr auf der
Erde weilt, grüßen und stehen mit ihren Vorzügen, auch mit ihren Schwächen ganz
deutlich vor mir. Die gehörten ohne Ausnahmen der Korporation = der
Studentengesangsverein oder besser „die blauen Sänger“ gab meinem Dasein das
Gepräge. Wir waren eine schwarze Verbindung, das heißt, trugen
keine
, brauchten deshalb auch keinen Wert darauf zu legen, durch unser Auftreten
nach außen zu . Das
Tragen von Mütze und Band hat ja auch……..
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Aber meiner Wesensart
entsprach dieses Studententum nicht. Andererseits kann ich mir nicht denken,
daß ich als „Wilder“ (Student ohne Korporation) mich in Göttingen wohlgefühlt
haben würde. Es war nicht der betrieb, der mich
besonders lockte, noch weniger schwärmte ich für das Fechten, das bei uns nur
als Sport betrieben wurde (keine Bestimmungs )
und von dem ich auch auf Grund meiner Verletzung an der rechten Hand befreit
wurde. Dagegen fand ich großen Gefallen an dem musikalischen Betrieb, wir
hatten regelmäßig Chorübungen und gaben auch Konzerte. Auch außerhalb meines
„Bundes“ betätigte ich als Sänger in einem gemischten Chor, der auch an
die Öffentlichkeit mit seinen Künsten trat. Dabei war ich ein geschätzter I.
Baß, weniger wegen der Schönheit als wegen der Stärke meiner Stimme. Beim
fortissimo trat ich in Aktion. In gleichem Maße war ich ein Freund von den
Mimiken (kleine Theateraufführungen) bei denen ich im Laufe
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der Semester von einem Chormitglied
zu einem bedeutenden Solisten emporstieg. Meine Hauptrolle war der Hagen in
einer Parodie der Nibelungen, wobei ich mich vorzustellen hatte mit den Worten,
mein Name ist Wolf Hagen.- Auch auf
den , die
Sonntags in die schöne Umgebung Göttingens führten, habe ich viel Natur und
auch diverse kleine Helle (helles Bier) genossen.- Höhepunkte waren ferner die
Veranstaltungen, zu denen Damen zugezogen wurden, im Sommer ein Gartenfest in
Mariasprung im Winter beim Damenkränzchen und dem großen Ball mit
vorhergehenden Konzert. Wiederholt erschienen dazu auch meine Schwestern, vor
allem meine Schwester Grete, die viel Verehrer fand, aber doch wohl schon bei
Wilhelm Gerges in festen Händen war. Im Umgang mit denen war ich zuerst sehr
schüchtern, später wurde ich zum Don Juan, ging aber auf keine feste Bindung
ein. Meine Flammen wechselten von Semester zu Semester, am Schluß meines
Studiums war ich ernstlich verliebt, fand aber keine Gegenliebe und bekam
wieder Minderwertigkeitskomplexe.
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Von dieser unglücklichen
Liebe will ich nur den Vornamen Luise nennen. Ich glaube behaupten zu dürfen,
daß ich ein beliebtes Mitglied in unserem Bunde war; man übertrug mir
verschiedene Ämter, ich war Kassenwart und danach Fuchsmajor. Die meiner
Erziehung anvertrauten Füchse – es waren 16 – schenkten mir einen
Zigarrenschrank mit dem Wappen der blauen Sänger. Er ist das einzige
Möbelstück, das ich in meinem Inventar bei der Vernichtung unseres Hauses am
9.Oktober 1943 gerettet habe und verschönt noch das Wohnzimmer, das gegenwärtig
von der Familie meiner Tochter Grete und uns gemeinsam bewohnt wird.- Ich
entsinne mich, daß ich mit meinen Füchsen mehrfach Schlittenfahrten in einem
von4 Gäulen bespannten Schlitten unternahm, im allgemeinen war das Ziel Bremke,
denn dort konnte man die Zeche jahrelang aufschreiben lassen. Sie wird nicht
gering gewesen sein, denn man trank dort
bowle in großen Mengen.
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Als Begleitung spielte
Toni Wilde auf dem Klavier den Feuerzauber, und wir waren selig, so sehr, daß
wir als der Schlitten auf der Rückfahrt umschmiß, wahrscheinlich, weil der
Kutscher auch selig war, ruhig weiterschlummerten - den Schneetod haben
wir aber nicht herbeigesehnt, und wir waren auch innerlich so durchwärmt, daß
wir keinen Schaden gelitten haben.
Bei meinem intensiven
Wirken in dem Kreise der blauen Sänger blieb kaum noch zeit für meine Teilnahme
an dem außerstudentischen Leben in Göttingen. Immerhin besuchten wir auch
bisweilen das dortige Theater. Das war für uns ein billiges Vergnügen; wir
bezahlten auf dem III. Rang, der allerdings ganz im Hintergrund schlauchartig
und versteckt dieses Theater zierte, 30 Pfg., tranken aber dabei schon für 70
Pfg. den berühmten „kleinen Hellen“. Ich weiß, daß ich dort einmal Macbeth von
Shakespeare besuchte mit einigen Freunden und entsinne mich, daß wir in der
langen Pause – um die Zeit zu
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nutzen, Skat gespielt
haben. Wegen der abgelegenen Lage unserer Plätze, konnte uns das bessere
Publikum kaum bemerken, danach erhielten wir von unserem Bunde eine Rüge wegen
unseres Benehmens – nur das von Rechts wegen. Zu meiner eigenen Erheiterung und
vielleicht der des Lesers dieser Zeilen, will ich jetzt noch einige besondere
Erlebnisse zum Leben erwecken.
Am 1. Mai fand auf
dem
(mein Lokal in der Nähe von Göttingen) unsere Maifeier statt, wobei ich die
Aufgabe hatte, um 12h nachts den Mai mit einer schwungvollen Rede zu begrüßen.
Dabei sprach ich dann auch von der akademischen Freiheit, derer wir uns
erfreuen durften. Da fiel mir ein Mitglied einer anderen Korporation, die
ebenfalls dort tagte oder besser nächtigte, ins Wort, indem er schrie: Schöne
Freiheit, ich habe drei Tage im Kerzer gesessen. Zunächst ließ ich mich nicht
aus der Fassung bringen, aber die Unruhe nahm zu
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und die Feier endete
damit, daß zwischen mehreren blauen Sängern und der anderen Partei es zu
Rangeleien kam, aus dem dann Duelle entsprangen. Daß ich als der
Hauptbeteiligte mir nicht auf diesem Wege Genugtuung suchte, mag meine Stellung
zur Satisfraktionsfrage charakterisieren. Dieser Abend hatte dann noch ein
humoristisches Nachspiel. Beim Nachhausegehen vermisste ich meinen kostbaren
Spazierstock aus Ebenholz mit einer silbernen Krücke, in die mein Name
eingraviert war. Stattdessen fand ich einen anderen ähnlichen, den ich mir
aneignete. Am nächsten Morgen erschien in meiner Wohnung ein Schutzmann und
beschuldigte mich, in der Nacht mehrere Laternen zertrümmert zu haben. Ich
fühlte mich unschuldig und bestritt das Verbrechen, war aber dann
höchsterstaunt, als der Schutzmann triumphierend mir meinen Stock vor die Augen
hielt, den man an einer Laterne hängend als corpus delikti gefunden hatte. Der
Übeltäter war also der Comilitone
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gewesen, der meinen Stock
versehentlich mitgenommen hatte. Hätte ich nicht als Entlastungsmaterial seinen
Stock vorzeigen können, hätte man mir wahrscheinlich meine Unschuld nicht
geglaubt, und diese Begebenheit hätte Stoff für einen Kriminalroman abgeben
können. Einen weiteren Zusammenstoß mit der Polizei hatte ein Streich zufolge,
von dem ich nun erzählen will.
In Göttingen war im Mai
das Gauß-Weber Denkmal enthüllt. Aus diesem Grunde glaubten wir Mathematiker
noch einen
ausgedehnten
diese Feier wiederholen zu müssen. Wir zogen zu dem Denkmal, legten dort die Kränze
unter Ansprachen noch einmal nieder und beschlossen, zu Ehren dieser unser
bedeutenden Fachkollegen zu ihren Füßen (oder wie es damals hieß, zu ihren
Schweißfüßen) den Rest der Nacht zu verbringen. Es muß aber doch wohl ziemlich
kalt gewesen sein, jedenfalls hielten wir
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unseren Schwur nicht und
gaben unser Lager nach einiger Zeit wieder auf, um unserem Quartier
zuzusteuern. Dabei überquerten wir eine Straße, an der ein Neubau errichtet
wurde, demzufolge große Haufen von Ziegelsteinen aufgeschichtet waren. Wir
kamen auf den blödsinnigen Plan, von diesen Steinen eine Barriere quer über die
Straße zu bauen, ohne zu überlegen, welche Gefahr wir dadurch für den Verkehr
schufen, denn es war noch dunkel. Wir quälten uns sehr riesig, schleppten
, bis die Mauer fertig war. Aber kaum konnten wir uns über unseren Erfolg
freuen, als ein Schutzmann erschien und uns stellte. Hätte er uns ein
Strafmandat verschafft, dann wäre es sicher ein teurer Spaß geworden. Aber das
tat er nicht, denn er war ein großer Pädagoge oder Erzieher und sagte: „Meine
Herren, nun darf ich sie wohl bitten, die Steine wieder zurück zu tragen.“ Das
kostete wohl ein halbe Stunde Arbeit und ist uns sehr sauer geworden, war aber
eine vorzügliche Lehre für die Zukunft.
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Eine große Rolle spielte
in meinen Semestern in Göttingen eine kleine Gastwirtschaft „Zum Anker“. Dort
gab es ein mechanisches Musikinstrument mit vielen Finessen, dadurch wurden wir
wohl zuerst in dieses Lokal gelockt. Die II. Rapsodie von Liszt besonders
ließen wir uns dort vorspielen. Mit der Zeit fühlten wir uns immer wohler und
suchten, wenn wir einmal außerhalb des Vereinsbetriebes uns betätigen wollten.
diesen „Anker“ auf. Es verkehrten dort auch Bürgerfamilien mit ihren Töchtern,
mit denen wir uns anbiederten. Nun gab damals der große Cirkus Sarrasani in
Göttingen ein Gastspiel, der natürlich auch von uns besucht wurde, und wir
kamen dabei auf die Idee, in dem genannten Gasthaus diesen Cirkus zu
parodieren. Was wir vorführten – Jongleur, Seiltänzer, Ringkämpfer, Clowns usw.
war natürlich der größte Blödsinn, gefiel aber uns und dem Publikum, der Wirt
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sah darin eine Attraktion,
und wir hatten freie Zeche. Ich trat dabei als Clown und als Ringkämpfer, mein
Gegner war ein besonders großer und kräftiger Bundesbruder (?). Aber
verabredungsgemäß gelang es mir dann doch, ihn nach langem Ringen zu besiegen,
was bei dem Publikum besonders anerkennend begrüßt wurde, Eine Hauptnummer
waren die boxenden
in Anlehnung an eine Cirkusnummer, bei der zwei Ponis mit ihren Köpfen
gegeneinander rannten und sich zu Fall bringen suchten. Dieser Wettstreit wurde
von uns nur initiiert, indem zwei von uns, die steife Hüte trugen (Praliners)
mit ihnen wütend gegeneinander rannten. Für die Hüte und für die sie tragenden
Köpfe war das sicherlich wenig bekömmlich, aber die Vorstellung gefiel den
Zuschauern sehr. An einem Sonntag hatten wir mit mehreren Freunden eine
Wagenfahrt nach Dransfeld unternommen und fassten dort den Plan, daran
anschließend abends
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in Göttingen noch eine
Cirkusvorstellung anzuschließen. Um den Wirt vorzubereiten, gaben wir ein
Telegramm für ihn auf. Dessen Mutter war aber gerade schwer erkrankt, und er mußte
mit ihrem Ableben rechnen. Als er das Telegramm erhielt, vermutete er
diesbezügliche Nachricht, zog sich feierlich (nach seinem späteren Bericht) in
seine Privatgemächer zurück, um dort gefasst Kenntnis von dem Telegramm zu
nehmen. War dann aber sehr erstaunt, als es darin hieß: „Cirkus Sarrasani heute
abend 8 Uhr Extravorstellung“. Das also waren wir. Bei unserem Eintreffen
wurden wir mit großem Jubel begrüßt, aber ich glaube, da wir nicht mehr ganz
nüchtern waren, waren an diesem Abend unsere Vorführungen nicht so erstklassig
wie sonst. Jedenfalls konnte meine Ringkampfnummer nicht starten, da mein
Gegner eingepennt war und sich nicht bereit erklärte, sich mir zu stellen. Auch
die boxenden - von denen
noch übrigens
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der eine als Konsistorialrat
in Hannover lebt, waren nicht so kampfesmutig wie sonst. Aus der Tatsache, daß
diese Vorstellung eine Woche vor meinem Examen stattfand, kann man folgern, daß
ich trotz der Angst davor und meiner Vorbereitung doch noch in der Stimmung war
und Zeit fand, als Cirkusartist aufzutreten.-
Schließlich will ich noch
ein Erlebnis mit meinem Freund Schlensinger – wir nannten
ihn
wiedergeben, an das ich noch jetzt gern zurückdenke.
Eines Morgens im Januar,
als ich ins Kolleg gehen wollte, erschien Schl. bei mir und teilte mir
strahlend mit, daß seine Schwester sich verlobt habe, und daß er dies Ereignis
mit mir sofort feiern müsse. Ich brach also meinen Arbeitsvorsatz ab und
wanderte mit ihm vielleicht gegen 10 Uhr durch eine wundervolle Winterlandschaft
nach Nikolausberg (einem etwa 1 Stunde weit von Göttingen entfernten Dorf).
Dort aßen wir bescheiden zu Mittag, unterhielten uns mit den in dem
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sehr einfachen Gasthaus
verkehrten Gästen, spielten mit unserem Maßkrug, die Zeit verging, und der
Abend machte trotz bereits vertilgter großer Alkoholmengen kam mein Freund noch
auf die Idee, mich zu einer Bowle einzuladen. Diese wurde in einer Terrine
unter der grünen Hängelampe degoniert, Unser Gespräch wurde lebhafter,
vielleicht auch erregter, jedenfalls haute der sehr temperamentvolle Schl.
plötzlich gegen die Hängelampe, sodaß das Bassin zerbrach, und sein Inhalt in
unsere Bowle floß Wir dachten aber nicht daran, auf die Bowle zu verzichten,
sie hat uns trotz der Beimischung gut geschmeckt und ist auch mir ganz gut
bekommen. Aber der viele Alkohohl machte sich dann doch bemerkbar, besonders
bei meinem Zechgenossen, und als wir uns später am Abend auf den Rückzug
begeben wollten, wurde ihm das Gehen so sauer, daß ich mich seiner annehmen
mußte. Ich nahm seine Füße
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und Gebeine unter meine
Arme, er schleifte mehr mit dem Rücken auf der Erde, wobei sein Kopf nicht
gerade ruhig gebettet war. Aber was half`s, es gab keine andere
Transportmöglichkeit. Ich sauste also mit ihm meistens im Trab den Berg an
einem Abhang hinunter, wobei Schl. stöhnte und fluchte. Als er einmal
verschwinden mußte, löste ich ihn aus meiner Umklammerung und gab ihn frei, mit
dem Ergebnis, daß er den Abhang herunter rutschte und meinen Blicken
entschwand. Es war stark dunkel, und trotz der Schneefläche war und blieb er
für mich verschwunden. Durch lautes Rufen suchte ich die Verbindung
herzustellen, als auch das keinen Erfolg hatte, gab ich ihn auf und pilgerte
allein nach Hause. Wahrscheinlich nicht ganz frei von Sorge. Jedenfalls war ich
sehr erleichtert, als er am nächsten Morgen wohlbehalten bei mir erschien.
Mildtätige Dorfbewohner hatten ihn aufgefunden und auf einen Handwagen nach
Göttingen gebracht – in der Annahme, daß er verunglückt sei, hatten sie ihn
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in der Klinik abliefern
wollen – aber er ist dann doch noch rechtzeitig aus seinem Rausch erwacht und
hatte diesen Justizirrtum verhindert.-
Das war die Geschichte von
der Petroleumbowle, für deren Wahrheit ich mich voll verbürge.-
Am Abschluss des Berichtes
von meiner Studienzeit will ich der vielen Freunde gedenken, die ich in ihr
gewonnen habe. Einen von ihnen – Albert Oppermann – habe ich bereits vorher
erwähnt – mit ihm war ich bei meinen Studien am meisten vereint. Aber auch
außerhalb unserer ernsten Arbeit verdanke ich dem Zusammensein mit ihm viele
köstliche Stunden. Er ist einer der wenigen, die noch am Leben sind, wohnt mit
seiner Gattin in Braunschweig. Sicherlich war ich wohl am meisten mit Georg
Lindeman zusammen. Unsere Buden lagen in benachbarten Häusern, wir hatten
gemeinsame Wege zu Kolleg und auch zu den sonstigen Veranstaltungen der blauen
Sänger. Aber wir waren wohl doch zu verschiedene Naturen, um uns
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auch innerlich ganz nahe
zu kommen. Er war in seinem Wesen robuster als ich, in seiner Kleidung wenig
gepflegt, in seinem Auftreten ungelenkig. Ein großer Freund des Bieres, für
sonstige Genüsse wenig zugänglich. Ein guter Skatspieler – kein Interesse für
die holde Weiblichkeit – wissenschaftlich ohne Auftrieb. Immerhin haben wir uns
trotz unserer verschiedenen Wesensart gut verstanden. Am Schluß des ersten
Weltkrieges ist er als Landsturmmann gefallen. – Genau das Gegenteil von ihm
war Richard Krüger – ein Schwärmer, ein Idealist und Schöngeist. Mit ihm habe
ich die Rätsel des Lebens zu lösen versucht, die auch schon damals an uns
herantraten. Die Tatsache, daß ich auch nach meinem Studium in Hannover mit R.
Krüger zusammen bleiben konnte, war für mich ein großer Gewinn. Auch er ist uns
vor mehreren Jahren durch den Tod genommen.- Als Partner bei den Musiken muss
ich Gerhard Lucas nennen. er übernahm bei seiner schönen Tenorstimme die
Damenrollen und war oft meine „Geliebte“. Auch beim Doppelkopf haben wir viel
zusammen getagt – ich habe ihn seit vielen Jahren nicht gesehen
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glaube aber, daß er noch
in Westfalen lebt. Unsere musikalische Stütze war Anton Wilde, ein glänzender
Klavierspieler und guter Musiker (gefallen 14/5). Führend bei unseren
Theaterdarbietungen war Otto Mewes, der Sohn eines Schauspielers – er stand mir
besonders nahe – gestorben vor 2 Jahren.- Nicht zuletzt nenne ich Fritz
Wöckener, der später mein Schwager geworden ist, eine Frohnatur, der es
verstand, das Studentenleben zu genießen und durch sein Lautenspiel oft einen
harmonischen Kreis um sich vereinte (gefallen 1915).- Einige meiner Freunde
habe ich herausgehoben – aber auch die nicht genannten leben in meiner
Erinnerung weiter, wobei mir schmerzlich zum Bewußtsein kommt, daß unser
Kreis sich stark gelichtet hat und daß ich sehr einsam geworden bin.
Wo seid Ihr zur Zeit mir,
Ihr Lieben geblieben, - ach – alle zerstreut
„und die am tollsten gewettert, sind still und stumm.“ vom Winde verweht,
vom
Strudel der Zeit zerschmettert.“
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Mein Bericht über die Zeit
in Göttingen wäre lückenhaft, wenn ich nicht auch von meinen verschiedenen
Studentenbuden und meinen Wirtinnen erzählen würde. Im ersten Semester wohnte ich
in der Altstadt – der oberen Matsch – einer Gegend, die gespickt war mit
Studentenquartieren. Mein Zimmer lag im Erdgeschoß, war ziemlich geräumig, aber
in seiner Möblierung sehr nüchtern, die Wirtsleute sehr unpersönlich, so daß
ich mich dort wenig wohlfühlte und schon nach einem halben Jahr übersiedelte
ich in die Jüdenstraße zu dem Schneidermeister Hanger. Die Bude lag im ersten
Stock und war für einen Studenten weit besser zugeschnitten wie die erste. Mein
Wirt ein Original, der – als seine Frau kränklich war, alle Hausarbeit
erledigte und auch mich betreute. Er machte mein Bett und sorgte in jeder Weise
vorbildlich für mich. Im Kreise seiner Familie wurde ich bald heimisch und war
deshalb betrübt, als sie, nachdem ich 3 Semester bei ihnen gewohnt habe. nach
München übersiedelte. Als ich später in München studierte, habe ich
meinen
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Freund Gamga mehrfach
aufgesucht.- Ich mußte also wieder nach einer neuen Unterkunft Ausschau halten
und fand sie vor den Toren Göttingens am Schildweg 26 bei dem Stadtsekretär
Brieke, bei seiner Schwiegermutter, einer Frau Beirues. Er bewohnte ein kleines
Eigenheim mit einem schönen Garten, mein Stübchen lag im Dachgeschoß. Es war
wirklich nur ein Stübchen mit einem kleinen schrägen Schlafgemach. Man kann die
Größe des Zimmers errechnen, aus der Angabe, daß, als wir zu 3 Freunden mehrere
Stunden Skat gespielt hatten,- wobei wir dauernd die lange Pfeife rauchten,-
plötzlich die Petroleumlampe ausging, weil ihr kein Sauerstoff zum Brennen mehr
zur Verfügung stand. Wir hatten diesen Mangel aber nicht empfunden.-
In dem für die Arbeit sehr
geeigneten Raum habe ich meine Examensarbeiten angefertigt, an ihn denke ich
gern zurück, auch an meine prächtige Wirtin. Sie war immer besorgt um mich
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wie eine Mutter, was auch
bewiesen wird dadurch, daß sie mir am Vorabend meiner mündlichen Prüfung eine
dicke Bibel brachte mit dem Rat, sie in der Nacht unter mein Kopfkissen zu
legen dann wäre mir der Erfolg sicher. Nun, sie hat ja auch Recht gehabt.
Einmal war sie sehr um mich in Sorge, ich war auf großer Tour und mehrere Tage
auch des nachts nicht nach Hause gekommen – ich glaube, wir waren in
Witzenhausen hängen geblieben - da lief sie in ihrer Angst zu ihrer
Nachbarin Frau Bolte, der Wirtin von meinem Freund Lindemann. Als sie aber dann
von dieser hörte, daß mein Freund auch verschwunden war, war sie im Bilde und
machte sich keinen Gedanken mehr. In dem Hause wirkte ein dienstbarer Geist
Mathilde, die in ihrer fröhlichen Wesensart das durchaus idyllische Bild vom Schildweg
26 harmonisch ergänzte.
Während der langen
Universitätsferien weilte ich natürlich meistens in meinem Elternhause. Zwar
unternahm ich von dort auch häufige Reisen nach Leipzig und später nach
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Dresden, wohin im Laufe
der Jahre meine alten Erfurther Pflegeeltern und Geschwister Köhler
übergesiedelt waren. Ferner fuhr ich wohl jährlich für einige Wochen in die
Lüneburger Heide – jetzt ohne meinen Vater – besuchte meine Vetter in Celle,
Marende, Starkshorn und Unterlichs Bei dem letzten Besuch war die schon
vorher erwähnte Cousine 2.Grades – die mich dann später aber in meinen Vorzügen
doch wohl nicht hoch genug eingeschätzt hat – . Neben diesen Reisen blieb ja
auch für Einbeck genug Zeit übrig, die ich zum Teil dazu benutzt habe, meine
Kolleghefte auszuarbeiten und mich auf math. und physik. Gebiet weiterzubilden.
Denn die Studentenferien sind ja nicht nur zur Erholung da. Selbstverständlich
fand ich genügend Muße, mich meinen Angehörigen zu widmen. Die Spaziergänge mit
meinem Vater und seinem Freunde Schlichterweg wurden konstant durchgeführt,
wobei ich nunmehr auch als Erwachsener behandelt wurde. Noch häufiger und
zwangloser waren aber jedenfalls meine Exkursionen mit meiner
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Schwester Grete. Gerade in
dieser meiner Studentenzeit hat sie mir unendlich viel gegeben. Sie war meine
Beraterin in Herzensangelegenheiten und hatte Verständnis für meine Sorgen.
Ihre sonnige Wesensart brachte in unser Haus immer eine frohe Stimmung und war
für meine Eltern der Quell großen Glücks. In diesen Jahren war auch meine
Schwester Marie in E. als Lehrerin angestellt, die für mich für ernste Fragen
zuständig war. Mein Bruder Walther war Schüler und wandte sich bei seiner
Arbeit und seinem Spiel gern an meine Hilfe. Außerdem lebte in E. eine entfernte
Cousine von mir, Mariechen Elbe, mit der ich gut befreundet war, insbesondere
die Tanzgelegenheiten in E. besuchte. Später habe ich erfahren, daß sie sehr
enttäuscht gewesen ist, darüber, daß meine Wahl – als ich mich verheiratete –
nicht auf sie gefallen ist. Ich habe aber nie diesbezügliche Hoffnungen in ihr
erweckt und brauche mir keine Vorwürfe zu machen,
Daß ich in meinem
Elternhause mit besonders großer Freude empfangen wurde,
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als ich als Sieger mit
bestandenem Examen heimkehrte, ist ja wohl selbstverständlich. Es lagen wieder
einmal sorgenlose Wochen vor mir, meine Prüfung war am 5./6. Februar und mein
Dienst beim Provinzkollegium begann erst Anfang April.-
Von ihm werde ich nachher
erzählen, nachdem ich nach dem Bericht über meine Semester in München, das
zwischen dem Göttinger 6. und 8. Semester lag, nachgetragen habe.
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Meine Studentenzeit in München
Dieses Semester in München
wurde mir dadurch ermöglicht, daß der schon früher erwähnte Onkel Herrmann aus
Bremen mir 200,- M geschenkt hatte in Anerkennung meines bisher bei meinem
Studium gezeigten Fleißes. Ich sollte mich, wie er schrieb, einmal erholen und
dazu ein Semester mit seinem Sohn, also meinem Vetter, Fritz Grave, in München
verbringen. Da ich meine Stipendien in Gö. verlor, war das ja für mich ein
gewisser Luxus, zumal das Leben in München, und die Reise nach dort an meinen
Geldbeutelhöhere Anforderungen stellen würden. Diese Zeit in München hat dann
auch wahrlich nicht unter einer zu großen Arbeitslast gelitten .Die Vorbereitungen
habe ich zwar ziemlich gewissenhaft besucht aber zu meiner Arbeit zu Hause bin
ich kaum gekommen, dazu hat doch M ein zuviel des Neuen und Schönen. Schon der
Charakter einer Großstadt nahm mein volles Interesse in Anspruch,
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wenngleich ich die Museen
und Kunstsammlungen nicht in dem Maße besucht habe, wie auf den späteren
Reisen, die mich mit meiner Gattin nach dort führten. Dazu war keine Zeit, ich
weilte mehr in den großen Bierlokalen, an den Sommerabenden in den sogenannten
„Kellern“ (Gartenwirtschaften) vor der Toren der Stadt. Dort gab es
Militärkonzerte und ich genoss das Münchener Leben in vollen Zügen. Der
akademische Gesangverein in M., der mit den blauen Sängern in
R verbindung stand, hat
mir nicht viel gegeben. Ich nahm zwar an den Kneipen (?) im allgemeinen teil.
fand in ihm auch einige Freunde, aber er spielte für mich bei weitem nicht die
Rolle wie mein Bund in Göttingen. Natürlich war ich mit meinem Vetter Fritz
Grove auch oft zusammen, aber er war mir eigentlich zu solide in Punkto
Biertrinken, er konnte nicht infolge eines Magenleidens so wie ich im
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Löwenbräu 8 ½ Maß=liter in
einer Sitzung vertilgen. Das war aber auch meine Höchstleistung, zu der ich
mich auch nur aufgeschwungen habe, da ein auf der Durchreise durch München mich
besuchender Schulkamerad aus Erfurt (Kreis Blankenburg), der im Gegensatz zu
mir schon Geld verdiente, die Zeche bezahlte. Ich habe aber keinen Grund, auf
diese Leistung stolz zu sein.- Mit meinem Vetter habe ich aber eine
mehrtägige Tour bis in die Nähe von Innsbruck unternommen und dabei zum ersten
Male die Alpen gesehen. Ich entsinne mich, daß ich für diesen Ausflug einschl.
Fahrgeld M 20 gebraucht habe; meine späteren Reisen mit meiner Frau in
derselben Gegen waren allerdings viel teurer.
Eine große Rolle spielten
in den Münchener Studentenlokalen auch die kleinen Mädchen, man nannte sie
„Gschpusis“, zu denen die Studenten in mehr oder weniger zärtlichen Beziehungen
standen. Aber meine Gedanken waren bei der schon früher erwähnten Louise in
Göttingen,
Seite 98
die ich sehr verehrte. Das
gab mir einen starken Halt in den Versuchungen, die auch an mich herantraten.
Wenn nun auch meine Schwärmerei für diese dann einseitig war, hat sie doch das
Gute für mich gehabt, so daß ich zu München zwar dem Wein und den Bieren und
dem Gesang, aber nicht dem Weib erlegen bin.
Einmal war ich in der
Münchener Oper Louise
von
, woran man sieht, wie stark ich mich gebunden fühlte. Diese meine Auffassung
über den Talisman, der mir durch diese, wenn auch nur platonische Verbindung
mit einem sittsamen Mädchen gegeben wurde, kann ich der Jugend zur Nachahmung
empfehlen.
Das war mein 7. Semester
in München, von dem ich dann ausgeruht und mit neuem Lebensmut erfüllt, wieder
nach Gö. zurückkehrte.-
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Ausbildung = und Junggesellenzeit in Hannover 1904 -
Herbst 1909
Ostern 1904 begab ich mich
also nach Hannover, um an dem dortigen Lyzeum I (damals noch ein Lyzeum für
Jungen) meine Stellung als Studienreferendar anzutreten. Diese meine Ausbildung
zu einem Pädagogen war damals bei weitem nicht so belastend, wie in späteren
Jahren. Ich mußte bei den erfahrenen Lehrern hospitieren, im sogenannten
Seminar Vorträge über Erziehungs- und Unterrichtsfragen halten, gelegentlich auch
selbst unterrichten, wobei dann mein Können kritisiert wurde, - das war aber
auch alles. Es blieb mir noch viel Zeit zum freien Lebensgenuß. Mein Freund
G.Lindemann war mit mir der gleichen Anstalt überwiesen, mit ihm habe ich dann
– wie ja auch vorher in Göttingen – die Tage, oder besser Abende
verbracht. Im Übrigen war der Ortsverband (eine Vereinigung der alten Herren
meiner Korporation) unser Zufluchtsziel. Auf seinen regelmäßigen Dämmerschoppen
und monatlichen Kneipen
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habe ich selten gefehlt.
Ich fand in ihm auch viele Freunde, von denen einige noch heute um mich sind.
Jedenfalls war ich selten allein und die Tatsache, daß meine monatliche
Lichtrechnung (Petroleum) bei meiner Wirtin (eine 70 J. alte Jungfrau in der
Wiesenstrasse) nur 50 Pfg. betrug, lässt errechnen, wie intensiv ich gearbeitet
habe. Leider waren meine Finanzen gerade in diesem Jahr besonders schwach,
andernfalls hätte ich doch häufiger mir den Besuch von Theater und Konzerten
geleistet. Ich mußte, wenn ich das Varietetheater besuchen wollte was etwa 1M
kostete, an dem Tage auf mein Abendessen verzichten, um meinen Etat nicht zu
überlasten. Aber was tut man nicht alles für die Kunst. Unter diesen Umständen
war ich natürlich sehr erfreut, als ich im Herbst einen
schüler zu betreuen bekam, und noch mehr, als ich kurz vor Weihnachten den
Auftrag erhielt, einen erkrankten Kollegen an der Oberrealschule für mehrere
Monate zu
Seite 101
vertreten. Dadurch
verdiente ich über 100 M monatlich und war nun alle Sorgen los. Trotz meiner
schlechten wirtschaftlichen Lage war ich bei den Töchterbesitzenden Müttern ein
sehr geschätztes Objekt, wurde oft eingeladen und hatte in jeder Woche in der
Saison mehrere Bälle zu absolvieren. Aber mein Herz blieb kalt, vielleicht
wegen meiner infolge meiner früheren Enttäuschungen. Doch da machte sich mein
Verhängnis in Gestalt des Ortsverbandballes, zu dem ein Freund von mir, Hans
Wichmann, (von dem älteren Bruder Fritz sprach ich schon) seine Schwester aus
Fürstenau eingeladen hatte. Um ihm einen Gefallen zu erweisen, hatte ich mich
bereit erklärt, sie, die hier völlig fremd war, und von der ich auch nur ein
Bild bei ihm gesehen hatte, „zu Tisch zu führen“. Mit einiger Spannung sah ich
ihrem Eintreffen in den Festsaal entgegen, fand dann aber bei ihrer
natürlichen, frischen Wesensart – in der sie sich wohltuend von manchen
blasierten Großstadtdamen unterschied – bald Kontakt mit ihr und war am Schluß
des Balles sozusagen
Seite 102
in sie verschossen.
Nachdem ich dem Fräulein Hermine Wöch[UT12] ener nochmals auf einen Spaziergang näher besichtigt
hatte, stand bei mir, als ich sie bei ihrer Abreise zur Bahn brachte, ziemlich
fest, daß sie für mich die richtige Lebensgefährtin sein würde. Ich kannte ihre
beiden Brüder, daher erübrigte es sich, nach ihrer Familie und ihrem
„Lebenswandel“ noch Nachforschungen anzustellen, und umgekehrt konnte sich ja
auch Fräulein Wöch[UT13] ener
bei ihren Brüdern über mein Renommee erkundigen. Immerhin war es ja gewagt, als
ich Pfingsten 1915 nach Fürstenau fuhr, ziemlich fest, den für mein Leben
entscheidenden Schritt zu tun, und mich mit dieser meiner letzten Flamme zu
verloben.-
Mit Hans Wöch[UT14] ener traf ich zusammen in Fürstenau ein, wurde am
Bahnhof von Frau Wöch[UT15] ener
mit ihrer Tochter empfangen und als Freund ihrer Söhne von ihr herzlich
begrüßt. In dieser Verbindung war mein Besuch aufgezogen, was in dem gastfreien
Seite 103
Hause Wöch[UT16] ener nichts Besonderes war. Als nun am 2.Pfingsttag
von der ganzen Familie eine Wagenausfahrt nach Loxten arrangiert wurde, wobei
sich die Mitglieder auf einen Landauer und neuen leichten „Zweirädern“
verteilten, wusste ich es mit Hilfe meines Freundes so einzurichten, daß,
nachdem ein Teil der Fahrt zurückgelegt war, Fräulein W. und ich in dem kleinen
Wagen vereint wurde, wohingegen mein Freund als Kutscher des großen Wagens
dafür zu sorgen hatte, daß zwischen ihm und uns ein großer Abstand geschaffen
wurde. Was dann geschah, verschweige ich, delikate Dinge soll man nicht der
Öffentlichkeit unterbreiten.-
Jedenfalls waren wir bei unserem
Knutschen feierlich verlobt, am nächsten Tag mit dem Segen der Eltern und im
Juli des gleichen Jahres öffentlich. Aus diesem Anlaß war auch mein Vater in F.
erschienen, im Oktober wurde meine Braut in Einbeck der Familie vorgeführt, und
das Band zwischen den beiden Häusern war damit geschlossen.
Seite 104
Nach meiner Verlobung
ließen meine Einladungen in Hannover völlig nach, ich hatte an Wert verloren,
stand aber dafür in regem Briefwechsel mit meiner Braut und mehrfachen Reisen
über das Wochenende nach F. reichen Ersatz. Ich wurde jetzt solider, mein
Außenleben verlor, mein Innenleben gewann. Ich hatte inzwischen auch ein
besseres Zimmer in der Feldstraße gefunden, in dem ich mich sehr wohl fühlte,
sodaß ich meinen Lebensgenuß nicht mehr außer dem Hause zu suchen brauchte.
Auch stand mir jetzt wieder mein Freund Richard K., von dem ich schon früher
sprach, treu zur Seite. In dieser Zeit verkehrte ich viel in der Familie meiner
Cousine Louise Winkelmann (der Schwester von meinem Schwager Winkelmann),
die meinen Lehrer Kohl geheiratet hatte. Regelmäßig verbrachte ich dort meinen
Abend, in der Woche beim Skatspiel, wurde gut verpflegt und mit Bier und
Zigaretten versorgt. Daß das für Kohls – die geldlich nicht über Überfluß zu
klagen hatten – ein Opfer war, habe ich
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damals kaum empfunden,
vielleicht auch geglaubt, daß ich durch meinen Verlust beim Skat – der sich
allerdings bei einer Quote von 1/20 Pfg in mäßigen Grenzen hielt – mich dafür
revanchieren konnte. Eine Zeitlang war auch der alte Vater Winkelmann (der
Schwager meines Vaters), der bei seiner Tochter wohnte, unser Spielpartner und
ich entsinne mich, daß er sehr verzweifelt war, wenn er dabei den Verlust von
10 Pfg mit in den Kauf nehmen mußte. In der Familie Kohl lebten der leibliche
Kinder, die nun inzwischen längst zu Amt und Würden gekommen und mit uns noch
befreundet sind.
In meiner schulischen
Arbeit war inzwischen eine wesentliche Veränderung eingetreten, ich war zum
Probekandidat aufgestiegen und bekleidete seit Ostern 1905 eine
Hilfslehrerstelle am Realgymnasium in Hannover. Empfohlen für diesen Posten
hatte mich mein ausbildender Mathematiklehrer Prof. H. Müller, der also wohl
schon in die in mir schlummernden pädagogischen
Seite 106
Anstalt gesagt, daß für
mich Aussicht bestünde, am Realgymnasium als Oberlehrer eingestellt zu werden,
sofern ich mich bewähren würde. Um das zu prüfen, wurde mein Unterricht
mehrfach von dem Direktor und sachverständigen Fachlehrern kontrolliert, mit
dem Ergebnis, daß ich zum 1. Oktober 1906 als Studienrat an dieser Schule
ernannt wurde.
Damit war ja nun die
Grundlage geschaffen, um meinen Heiratsplänen eine festere Form zu geben.
Nachdem ich also etwa ein Jahr lang eine „sonnige Verlobungszeit“ durchlebt
hatte, wurde der Tag meiner Eheschließung der 2. Oktober 1906 festgesetzt.
Seite 107
Die Hochzeit selbst
verlief in einem sehr festlichen Rahmen; der Vater Wöckener hatte an nichts
gespart – es gab eine Musikkapelle mit dem offiziellen Brautzug aus Lohengrin beim
Einzug des jungen Paares, es gab ein gutes Essen in dem ersten Hotel in
Fürstenau und es wurde viel Sekt getrunken, sodaß es eigentlich betrüblich war,
daß die Hauptinteressenten meine Frau und ich uns von der Hochzeitsgesellschaft
trennen mußten, um uns auf die Hochzeitsreise zu begeben. Nachdem nun die
Verbindung mit der Familie W. feste Bahnen angenommen hat, muß ich von den
Eltern meiner Frau sprechen, so wie sie heute vor mir stehen.
Der Vater hatte eine
Bauingenieurschule besucht, hatte in der Fürstenauer Gegend als Architekt
verschiedene Bauten geleitet, auch
den [UT17] des Bahnhofs, und war dann dort hängengeblieben,
nachdem er
Seite 108
ein Grundstück erworben
hatte, um ein Geschäft mit Baumaterialien, Getreide und Kunstdünger zu
eröffnen. Nach dem Bau einer Dampfmühle nahm sein Betrieb noch wesentlich an
Umfang zu. Außerdem war er Schützer für die landwirtschaftliche Brandkasse und
bei dem dortigen Gericht als Amtsanwalt tätig. Er hat also ein sehr
arbeitsreiches Leben geführt, war ununterbrochen von 6h früh bis spät in die
Nacht tätig und hat sich dann kaum Erholung gegönnt. Anspruchslos und
bescheiden, heiter und zufrieden, ein vorbildlicher Familienvater und
angesehenes Mitglied der Fürstenauer Bürgerschaft. Er hat zweifellos mit seiner
Gesundheit trotz eines sehr soliden Lebenswandels infolge seines übergroßen
Arbeitseifers Raubbau getrieben und ist ½ Jahr, nachdem er einer Schlaganfall
erlitten hatte, im Alter von 67 Jahren gestorben.- Ich habe wohl schon erwähnt,
daß er bei meiner Eheschließung in großzügiger Weise meine Studienschulden
Seite 109
bezahlt hat, wofür ihm
auch an dieser Stelle mein Dank gebührt.
In seiner geschäftlichen
Tätigkeit wurde er aufs beste unterstützt von seiner Frau, die es verstand,
neben ihren Pflichten als Hausfrau und Mutter, sich dem Kaufmannsleben zu
widmen, in erster Linie war die Verwaltung der Sparkasse ihr Ressort. Sie – die
Mutter meiner Gattin – war ein kluger Kopf, weltgewandt und sehr belesen und
ein wenig stolz auf ihre Abstammung aus einer wohlhabenden gebildeten
Gutbesitzersfamilie. In manchen Dingen war sie dem Vater zweifellos
überlegen, so ist es kein Wunder, wenn sie die Zügel im Hause führte,
ohne daß man damit ihren Gatten als untergeordnet bezeichnen konnte. Jedenfalls
ist es ihrer Mitarbeit zu verdanken, wenn die Eltern meiner Frau es im Laufe
der Jahre zu großem Wohlstand gebracht haben, der allerdings durch die
Inflation 1923 mit einem Schlage, wenn auch nicht vernichtet, so doch auf 1/10
Teil herabgedrückt wurde. In ihren letzten Lebensjahren war es das Hauptziel
meiner Schwiegermutter von
Seite 110
von[UT18] dem verlorenen Vermögen noch zu retten, was zu retten
war. Auch sie ist – nachdem sie infolge eines Bruchs des Oberschenkels mehrere
Monate im Krankenhaus gelegen hatte, vor 5 Jahren gestorben. Infolge einer
Nervenlähmung mußte sie bereits vor diesem Unfall viele Jahre hindurch Krücken
benutzen, hatte auch ein Krankendreirad, das sie mit ihren gesunden Armen in
Betrieb setzte, ist aber trotz dieser starken Behinderung immer zufrieden
gewesen, und lebt als ein Vorbild in meiner Erinnerung weiter. Von ihr
hat meine Frau manches gute Erbgut mitbekommen, den Fleiß, die
Geschäftstüchtigkeit, die Sicherheit im Auftreten – während sie dem Vater in
erster Linie die Bescheidenheit und die Liebe zu den Mitmenschen zu verdanken
hat. (Vielleicht wird meine Gattin diesem meinem Urteil widersprechen).
Um bei den Angehörigen meiner
Lebensgefährtin zu bleiben, - ich erwähnte schon bei meiner Göttinger Zeit
meinen Schwager Fritz, durch den ich ja zuerst mit der Frau W. in Verbindung
kam,
Seite 111
Den Heldentod dieses ihres
Lieblingsbruders – mit dem sie ihre Kindheit verbracht hatte – im Mai 1915 war
für meine Frau ein sehr schwerer Verlust, und nachdem vor 1 ½ Jahren auch
mein Schwager Hans - der eigentliche Vermittler unserer Ehe infolge
Herzschwäche gestorben ist, ist ihr nur noch der jüngste Bruder Lutz geblieben.
Er lebt mit seiner Frau und 3 Töchtern in F, und hat das elterliche Geschäft
übernommen.- Wir sind mit ihm und seiner Familie eng verbunden und glücklich in
dem Bewußtsein, daß durch ihn meine Frau und mir – auch meinen Brüdern – die
Fürstenauer Heimat erhalten geblieben ist, hoffend, daß das auch weiterhin so
bleiben möge, wenngleich gegenwärtig sein Haus von den Besatzungstruppen
beschlagnahmt ist, und er ziemlich bescheiden in einem Ausbau über dem
Pferdestall wohnt, während der Bruder bei anderen Fürstenauer Familien
untergebracht sind. Auch möchte ich wünschen, daß die Frauen und die Kinder der
beiden verstorbenen Schwäger mit meinen Nachkommen in Zukunft
verwandtschaftliche Beziehung pflegen werden.
Seite 112
Nach diesem Exkurs auf die
Familie meiner Gattin schalte ich wieder zurück auf unsere Hochzeitsreise – die
uns über Osnabrück, Hannover, Eisenach Nürnberg, München, Heidelberg führte. Ob
wir viel von der schönen Gegend genossen haben, bezweifle ich, jedenfalls waren
es Wochen ungetrübten Glücks. Daß dabei in München Freund Sch. – bekannt durch
die Petroleumlampe – wieder in Erscheinung trat, sei noch erwähnt. Ich brauchte
ihn aber diesmal nicht abzutransportieren. In München, wo ja für mich viele
Erinnerungsstätten lagen, haben wir uns besonders wohlgefühlt, so wohl, daß wir
nicht dazu kamen, von dort aus einen Abstreifer in das Gebirge zu unternehmen,
was ursprünglich geplant war.
Als der Urlaub (Ferien)
und das Geld zu Ende waren, kehrten wir nach Hannover zurück und bezogen unser
erstes eigenes Heim, in der Heinstr.5.
Seite 113
Während unserer Reise war
unsere Wohnung von unserer Schwiegermutter unter Assistenz von meiner
Schwester Grete sorgfältig eingerichtet, der Abendtisch war bereits von ihnen
für uns gedeckt – es fehlte an nichts.
Meine junge Frau, die die
Auswahl der Möbel ihren Eltern und mir überlassen hatte – nur das Klavier hatte
sie selber mit ausgesucht – war sicherlich überrascht von ihrem bzw. unserem
großen Besitz. Er bestand aus einem Wohnzimmer, Herrenzimmer, einem
Mahagonisalon, dem Schlafzimmer und sogar einem 2- bettigen Fremdenzimmer. Der
Salon war eigentlich völlig überflüssig und ist kaum benutzt worden, das
Fremdenzimmer aber von Anfang an umso häufiger. Denn bald erschienen die
Geschwister, einmal, um sich von unserem jungen Glück zu überzeugen, dann aber
auch, um von uns aus die Genüsse der Großstadt in sich aufzunehmen. Das ist
auch immer in jenen Jahren so geblieben – wir hatten oft Logierbesuch und waren
sicherlich ein gastfreies Haus.
Für meine Gattin bot die
Großstadt ja
Seite 114
auch viel Neues – ich war
ja in dieser Beziehung schon etwas abgebrüht – jedenfalls besuchten wir viel
die Theater, wobei ich besonders die Varietetheater, meiner schon in der Jugend
geneigten Neigung entsprechend, bevorzugte. Hier ließen wir keinen
Programmwechsel aus. Daneben führten wir aber auch ein stimmungsvolles
Innenleben, das wir besonders durch 4-händiges Klavierspiel verschönten.
Nachdem wir noch am
20.August die Meistersingerouvertüre 4-händig gespielt hatten, meldete unser
1.Kind seinen Willen an, in diese Welt einzutreten. Er muss dabei aber wohl
seine Bedenken gehabt haben – entsprechend seiner späteren Auffassung von dem
Wert des Lebens,- jedenfalls konnten wir unseren Stammhalter erst nach 3
Tagen am 22.Aug. hocherfreut willkommen heißen. Dabei hatte meine
Schwiegermutter uns treu beigestanden, der Vater
schickte aus
dem
[UT19] Bestand,
Seite 115
die Schwäger erschienen
zur Besichtigung – auch meine Schwester Grete – und unsere Familie war damit
komplett.
Mit unserer früheren
Freiheit war es nun allerdings vorbei, da meine Frau den Sprössling selbst
nährte, waren wir ans Haus gebunden. Eine Hilfe hatten wir zuerst nicht. Später
wurde uns zur Betreuung unseres Ernst ein junges Kindermädchen engagiert- Der
Betrieb bei uns wurde demnach größer, als am 13.März 1909 – also nach 1 ½
Jahren – unsere erste Tochter Lore eintraf. Auch d Ausgaben wuchsen, und ich
gab Privatunterricht, da unsere Schwiegereltern uns zwar mit Lebensmitteln,
Wurst und Schinkenpaketen auch unterstützten, aber ein Zuschuß an Geld nicht
vorgesehen war. Eine Maßnahme, die das Gute hat, mir von vornherein die Sorge
um einen Ausgleich meines Etats zu übertragen. Daß meine Gattin
eigentlich eine vermögende Frau war, habe ich damals also nicht empfunden, aber
sie hatte im Elternhaus arbeiten gelernt, war bescheiden erzogen und stellte
wenige Anforderungen an das Leben wie manche Kollegenfrauen, die aus sehr
„bescheidenen“ Verhältnissen stammten
Seite 116
Als mein Schwiegervater
sich davon überzeugt hatte, daß ich mit eigenen Kräften ein guter Haushalter
war, und uns das Geld geben wollte, um ein eigenes Heim zu vererben, war das
Geld infolge der Inflation entwertet, und es wurde nichts aus diesem Plan. Wir
waren aber in unseren Mietwohnungen ganz gut aufgehoben, und nachdem wir nach 3
Jahren aus unserem ersten Quartier auszogen und nach Waldhausen übersiedelten,
wo wir einen kleinen eigenen Garten besaßen, kamen wir uns schon ziemlich
selbständig vor. Hier wurde am 12.Juli unsere Grete geboren. Ich entsinne
mich, daß damals ihre Zeit sich näherte, sehr in Sorge war, ob ich von dieser
Wohnung auch schnell genug die weit entfernte weise Frau würde heranholen
können. Demzufolge zog ich mich des nachts nicht aus, schlief in voller
Uniform, wie ein Feuerwehrmann, in meinem Bett, in dessen Höhe ein Fahrrad
stand, das ich jeden Abend aufpumpte. Doch diese Vorsorge erwies sich nicht als
begründet, denn auch unsere
Seite 117
Grete hatte es nicht
eilig, das Licht der Welt zu erblicken.
Auch bei diesem freudigen
Ereignis stand mir Oma Wöchner zur Seite. Nachdem unser Kreis sich weiter
vergrößert hatte, erwies sich unsere Waldhausener Wohnung als zu klein, und wir
mußten wieder nach einem neuen Heim ausschauen. Unsere Wahl fiel auf die
Brandstr.3, einem Haus, in dem die mit uns befreundete Kollegenfamilie Andresen
wohnte. Dort standen uns 6 Räume zur Verfügung, wovon einer als besonderes
Kinderzimmer eingerichtet wurde,- daß wir uns nicht entschließen konnten, den
einen noch wenig benutzten Salon aufzugeben, ist mir heute ein Rätsel. Gewiß
gaben wir einige Gesellschaften, bei denen er in Aktion trat, aber wir hätten
auch ohne diesen Festraum unseren Gästen einen gelungenen Abend bieten können.
Allerdings trugen damals die Geselligkeiten noch ein familiäreres Gepräge als
später, bes. wenn der Direktor meiner Schule eingeladen war, es gab ein warmes
Abendessen mit Kochfrau und sonstigem Beiwerk. Die damit sich ergebenden Kosten
Seite 118
standen eigentlich im
Missverhältnis zu meiner Finanzkraft. Aber diese Sitte gehörte zum guten Ton.
Da im allgemeinen meine Ausgaben zunahmen, mußte ich, - wenngleich ja auch mein
Gehalt inzwischen gestiegen war, mich nach einem Nebenverdienst umsehen. Ich
möchte schon an dieser Stelle davon sprechen in welchem Umfang ich mich auf
diesem Gebiet des Privatunterrichts betätigt habe. Zu meinen Kunden gehörten
dumme Schüler, die besser eine Hilfsschule an Stelle des Realgymnasiums besucht
hätten, und andererseits auffallend intelligente, die ich in kurzer Zeit auf
das Abitur – außerhalb der Schule – meistens auch mit Erfolg – vorbereitet
habe. Die besten Schüler habe ich später, als ich mir meine Klienten aussuchen
konnte, natürlich bevorzugt.
Es erschienen bei mir (in
den späteren Kriegsjahren) Offiziere, die ein Examen nachmachen wollten und
z.T. älter waren als ich und andererseits junge Damen (Lehrerinnen), die so
jung und schön waren, daß sie glaubten zu ihrem
Seite 119
Schutz eine ältere Dame,
die nicht wissenschaftlich interessiert war, in ihre Schule, wo ich den
Unterricht erteilte, mitbringen zu müssen. Mit meinem zunehmenden Alter schien
dann diese Vorsichtsmaßnahme nicht mehr erforderlich zu sein, jedenfalls kamen
später noch jüngere anmutige Damen zu mir ohne Begleitung. Ich hatte an
Reiz verloren aber an Vertrauen gewonnen. Unter meinen Kunden gab es solche,
die mit der Entlohnung durchbrannten und andererseits solche, die mir neben dem
Honorar zur Belohnung für meine Mühe Wein und Zigarren spendeten. Die Schüler
kamen nachmittags und abends. sogar in der Hochsaison am Sonntagmorgen, was
sich als notwendig erwies, weil ich zeitweise bis zu 16 Stunden wöchentlich
neben meinen beruflichen Pflichten zu absolvieren hatte. Da habe ich natürlich
weit mehr Geld verdient, als ich für die Gegenwart benötigte, aber ich wollte
mir für die Zukunft ein Kapital sichern, was mir ja auch gelungen ist, obgleich
nach dem ersten Weltkrieg mein bis dahin erworbener ansehnlicher Besitz
verloren ging.
Seite 120
Dieser Weltkrieg griff ja
überhaupt sehr störend in mein Familienleben ein. Bei seinem Ausbruch waren wir
gerade in den ersten Tagen mußte. Gleich Fürstenau und konnten von dort nur
schwer, da der Reiseverkehr bereits stockt, nach Hause kommen Gleich in den
ersten Tagen mußte mein Schwager Lutz ins Feld ziehen – er diente gerade bei
dem 73.Inf.Reg. hier in Hannover. Als sein Regiment nachts zum Bahnhof in
Linden geführt wurde, konnte meine Frau von ihm im Vorbeimarschieren ganz kurz
Abschied nehmen. Auch die anderen beiden Brüder meiner Frau mußten sofort
Soldat werden. Die Sorgen um diese 3 lasteten natürlich sehr schwer auf meiner
Gattin, die damals unser viertes Kind erwartete. Unsere Anneliese wurde
am19.Dez.1914 geboren, und wenn sie das Leben später besonders schwer genommen
hat, ist das vielleicht dadurch zu erklären, daß ihr erstes Werden stark
belastet wurde.
Nachdem damit unsere
Familie sich vollzählig versammelt hatte, will ich unsere Trabanten so
beleuchten, wie ich sie damals gesehen habe, also in der Zeit bis zur Loslösung
vom Elternhause.
Seite 121
Vielleicht werden Sie beim
Lesen dieser Zeilen meinem Urteil widersprechen.-
Unser Ernst, in den ersten
Lebensjahren leicht verzagt, voller Ängste vor den Menschen, durchaus brav, ein
sinniges Kind. Als Schüler sehr gewissenhaft, kein Draufgänger, früh durch die
Probleme des Lebens belastet. Als Student bereits mit gefestigter
Lebenserfahrung, immer noch grübelnd, oft von Depressionen gequält,
andererseits doch selbstbewusster, zeitweise ausgesprochen heiter. Gegen uns
Eltern und Geschwistern stets liebevoll und hilfsbereit. Abgesehen von den
letzten Jahren in seinem Studium, als es für ihn mancherlei innere und äußere
Widerstände zu überwinden gab, haben wir uns um ihn nie ernstlich zu sorgen
brauchen. Bis auf Kinderkrankheiten war er stets gesund. Lore[UT20] , schon als Kind unser Sonnenschein. Von ruhigem
Gemüt, gutherzig, heiterer Lebensauffassung. In der Schule nicht immer fleißig,
aber doch einigermaßen erfolgreich. In ihrem Auftreten sicher, ohne Hemmungen,
bis zu ihrer Verlobung bestrebt, das Leben in gutem Sinne zu genießen. Ein
Lebenskünstler, angeblich mir im Charakter sehr ähnlich.
Seite 122
Im Gegensatz zu ihr war
Grete schon als Kind sehr gewissenhaft, geistig rege, immer leicht zu lenken.
Als Schülerin stets sehr fleißig, gut begabt, aber nicht frei von
Minderwertigkeitskomplexen. Später in ihrer Lebenshaltung sehr korrekt und
pflichtgetreu.-
Als Mischung dieser beiden
Charaktere – Lore und Grete – schloß sich unsere Anneliese an. In ihrer
Kindheit vorbildlich zufrieden, stets dankbar für das, was ihr geboten wurde,
im Haushalt früh hilfsbereit und schon damals eine Stütze der Mutter. Nicht so
leicht beschwingt wie Lori[UT21] ,
aber auch nicht so exakt wie Grete. Nach der Schule bis zu ihrer Verheiratung
von allerlei Stürmen umweht, die aber nicht vermochten, sie von dem geraden
Lebensweg abzulenken. In ihrem Gefühl zu ihrer Zugehörigkeit zu uns allen besonders
stark ausgeprägt und auch zu ferner stehenden Menschen stets liebevoll und
hilfsbereit.
Sofern ich mich in meiner
Beurteilung geirrt habe, bitte ich, mir das zu verzeihen, ich bin als Lehrer
daran gewöhnt, objektiv zu
Seite 123
sein. Inzwischen sind ja
auch diese Zeilen auch nur für den inneren Gebrauch bestimmt, also wird aus
einem Fehlurteil niemanden[UT22] ein
Nachteil erwachsen. Hinzukommt, daß die Geschwister sich gegenseitig ja am
besten kennen. Es ist für uns Eltern stets ein großes Glücksgefühl gewesen,
festzustellen, daß unsere Kinder in guten und in bösen Zeiten fest
zusammengehalten haben, und ich möchte mir wünschen, daß das auch dann, wenn
das Elternhaus nicht mehr besteht, der Fall sein möge.
Dieser Wunsch ist umsomehr
voll berechtigt, daß es stets das Hauptlebensziel von meiner Gattin und mir
gewesen ist, unseren Kindern eine sonnige Jugend zu bereiten und ihren
späteren Lebensweg zu ebnen. Wir beide haben oft bis an die Grenze unserer
Kraft gearbeitet und gesorgt für ihr Wohlergehen. Beim Rückschauen auf
die Jahre, als sie noch klein waren, denke ich an die Radtouren, die wir oft
auf 5 Rädern mit ihnen in die Heide unternahmen. Ich denke daran, wenn wir mit
ihnen den Jahrmarkt besuchten
Seite 124
und bin glücklich, daß ich
ihnen dabei mehr als 20 Pfg., die Summe, die meine Eltern mir damals
bewilligten, zur Verfügung stellen konnte. Wir haben mit ihnen die großen
Circusse besucht und sind in dem geologischen Garten gewandert, haben sie durch
Spielsachen erfreut und ihnen neben der Schulausbildung auch Musikunterricht in
reichem Maße bewilligt. Wenn wir dann bei ihrer Verheiratung – zwar bescheiden
– sie aussteuern konnten, dann kann man daraus erkennen, daß unsere sparsame
Lebenshaltung und unser Fleiß Erfolg gehabt und wir es zu gewissem Wohlstand
gebracht hatten.
Ich nannte unsere
Lebenshaltung sparsam, daraus ist aber nicht zu folgern, daß wir auf jeden
Genuß verzichtet hatten. Wir haben regelmäßig die Theater besucht, Schauspiel
und Oper, waren an den Abonnementskonzerten jahrelang abonniert, führten ein
geselliges Leben und haben auch an der Ernährung nicht geknausert.
Allerdings haben wir bis
1926 auf
Seite 125
größere Reisen verzichtet.
Das konnten wir uns nicht leisten. Haben es aber auch nicht so entbehrt, denn
wir fanden in den Sommerferien immer eine Zuflucht bei den Eltern meiner Frau
in Fürstenau. Das war für uns alle eine sonnige Zeit und dort liegen viele
Erinnerungen. Ich habe damals photographiert, aus den Bildern, die ja den Krieg
glücklich überstanden haben, kann man ersehen, was wir damals getrieben haben.
Ergänzend muß ich erzählen, daß für mich die Wagenfahrten mit dem Vater
Wöchener, die er ausführen mußte, um die Bauernhäuser zu taxieren, nie ein
besonderer Genuß waren. Meine Gattin mußte leider bei den Kindern bleiben, aber
ich fuhr dann mit meinem Schwiegervater stundenlang durch die Heide auf ganz
einsamen Wegen, wobei ich Land und Leute gründlich kennen lernte. Der sonst so
anspruchslose Schwiegervater trank dann wohl in den Wirtschaften einen Punsch
zu 5 Pfg. und kaufte Cigarren zu 20 Pfg., von diesen Genüssen durfte ich auch
profitieren.
Seite 126
Bei den Bauern gab es dann
gratis Kaffee und wohlgeschmierte Mettwurst- und Schinkenbrote, do daß schon
aus diesem Grunde die Fahrten für mich sehr lohnend waren. Kamen wir spät in
der Nacht nach Hause, dann hatte Mutter W. noch besonders starken Bohnenkaffee
und Bratkartoffeln für uns bereitet, und meine Gattin war froh, daß sie uns
wohlbehalten wiederhatte. –
Aber auch mit ihr
unternahm ich gelegentlich Fahrten in dem kleinen Gig – in dem wir uns verlobt
hatten. Dabei mußte ich die Zügel führen, was sonst in meiner Ehe nicht
immer unangefochten der Fall war. Wir haben natürlich bei diesen unseren beiden
Schwiegereltern uns auch für die folgenden Monate gut verproviantiert und kamen
stets mit schweren Koffern zurück. In den Kriegsjahren war das allerdings sehr
schwierig, da die Polizei nach den sogenannten Hamsterern sehr scharf war. Wir
mußten sehr auf der Hut sein, mit doppelten Böden reisen, wobei unter einem
Behälter für Kaninchen
Seite 127
versteckt waren. Ich hatte
eine Seite Speck bei einem Bauern erworben und mußte diese, um sie vor den
Kontrollen zu schützen, im Juli bei 30° Hitze auf meinem Körper – um den Leib
angeschmiegt - durch die Gefahrenzone bringen.
Nun, das waren
Begleiterscheinungen des Krieges, und eine allerdings viel tiefer einschneidend
war die, daß auch ich am 1.Mai 1917, nachdem ich bis dahin von meiner Schule
reklamiert war, zum Heeresdienst einberufen wurde. Abgesehen von dem
tiefen Schalten (?), der durch den Tod meines ältesten Schwagers über uns
lag, hatten wir bis dahin vom Krieg direkt noch nicht viel gemerkt. Allerdings
hatte unsere Wohnung zeitweise ein militärisches Gepräge angenommen, dadurch
daß mein jüngster Schwager, der nach seiner Verwundung in Hannover
Garnisondienst hatte, als Leutnant mehrere Monate bei uns wohnte. Das brachte
allerlei Leben ins Haus, und ich verlor dabei etwas an Bedeutung, da die
Betreuung dieses alten Kriegers meine Frau, ja auch unseren dienstbaren
Seite 128
Geist, sehr in Anspruch
nahm. Andererseits war die Anwesenheit von Bruder Lutz für uns ein Lichtblick
in der sonst ernsthaften Zeit. Er hatte oft Besuch von seinen Kameraden, die
dann dabei für Getränke und Rauchwaren sorgten, auch zu meinem Nutzen. Das war
der Ausgleich für meine Wertminderung in unserem Haushalt.-
Wie dann der Krieg in
meine Lebensführung eingriff, muß ich nun in einem besonderen Kapitel mit der
Überschrift „meine glorreiche Militärzeit“ behandeln.
Seite 129
Meine Militärzeit 1.Mai 1917 – 5.Juni 1917
Auf dem Bezirkskommando
erhielt ich einen Zettel mit dem Vermerk: „Landsturmmann Wolfhagen
transportiert sich selbst nach Soltau.“ Was das bedeuten sollte, war mir nicht
ganz klar - vielleicht, daß ich nicht einem größeren Transport unter
Führung eines Vorgesetzten anvertraut war - jedenfalls setzte ich mich
auf die Eisenbahn, die dann doch den Transport für mich übernahm. In Soltau
mußte ich einen Lebenslauf schreiben, durch den ich meine Eignung zum Schreiber
in dem dortigen Gefangenenlagers nachwies - meine Stellung als Oberlehrer
hatte dazu noch keine Garantie geboten. Ich begab mich dann zur Kammer, um
meine militärische Ausrüstung in Empfang zu nehmen und begann sofort - da
ich nicht schnell genug Soldat werden konnte - mich in dieser „Kammer „
einzukleiden. Das war aber nicht statthaft, und ich wurde, als ich gerade ein
Bein in die Militärhose gesteckt hatte in wenig höflichem Ton aufgefordert,
meine Einkleidung auf
Seite 130
dem Kasernenhof zu
vollziehen. Dort verwandelte ich mich danach im schönsten Sonnenschein,
bewundert von den den Zaun umlagernden französischen Gefangenen von einem
Oberlehrer zum Landsturmmann. In dieser neuen Würde meldete ich mich am nächsten
Morgen in dem „Pferdestall“, in dem meine Kameraden zum Appell versammelt waren
zum Dienstantritt. Der Unteroffizier in Civil, ein biederer Brückenmeister, der
ja meinen Lebenslauf bereits kannte, begrüßte mich mit der Frage „können Sie
lesen“, und als ich das bejahen konnte, mußte ich die Kriegsartikel vorlesen.
Das war meine erste militärische Leistung. In der folgenden Intruisionsstunde
sprach der Unteroffizier über das Thema „Gesundheitslehre“, warnte die ihm
anvertrauten biederen Heidebauern vor dem Umgang mit Frauen und wies auf die
Gefahren der Liebe hin. Er sprach auch von der Quecksilberkur als Heilmittel
und war der Ansicht, daß das im Körper der Patienten beförderte Quecksilber bei
Änderung des Wetters nie heilsam wäre.
Seite 131
Ich muß auf Grund dieser
Enthüllung wohl ein ziemlich erstauntes Gesicht gemacht haben, jedenfalls
fragte er mich: „Sie mit der Brille, habe ich recht?“ Ich wagte nicht einem
Vorgesetzten zu widersprechen und habe durch meine Zustimmung seine Warnung bekräftigt.-
Um etwas in die militärische Haltung eingeführt zu werden, wurde ich dann
meinem Gefreiten – einen aus Hamburg, überwiesen, der mir vor allen Dingen
einen richtigen Gang – langsam Schritt – beibringen sollte. Wir beide wandelten
also in die [UT23]
und dort wurde ich von ihm in diese Kunst eingeweiht. Wir hatten aber wohl beide die Empfindung, daß das für mich eine ziemlich überflüssige Prozedur war, da ich ja nur als Schreiber tätig sein sollte und brachen daher bald unseren Dienst ab, um statt dessen bei einer von mir gespendeten Cigarre uns im Schatten des Waldes auszuruhen. Nach einigen Stunden wurde ich dann wieder in meinem Lager abgeliefert. Ich konnte übrigens gratis
Seite 132
wohnen und braucht daher
nachts die Kasernenluft nicht einzuatmen. Dagegen wurde ich vom Militär
verpflegt. Meistens gab es Klippfisch (?) - in normalen Zeiten kaum für
die menschliche Ernährung geeignet, dazu Pellkartoffeln, die ich in meiner
Soldatenmütze von der Kantine zu meinem Speisesaal – dem Pferdestall –
transportieren mußte. Die Kantinen waren ziemlich groß, und da ich auf diese
Leckerbissen keinen besonderen Appetit hatte, schüttete ich den Rest in einen
Abfalleimer. Bekam aber dann doch wohl Gewissensbisse über diese
Stoffvergeudung und bat den Essensausgebenden Unteroffizier mir nicht so viel
„Klippfisch“ zu verabfolgen. Diese meine Bescheidenheit hatte zur Folge, daß
ich angebrüllt wurde „Was, Du Hund sollst satt werden, noch einen Hieb“, ich
erhielt also 2 Portionen. Wie mans macht, man machts verkehrt. Diese
Erkenntnis erwarb ich auch bei einer anderen Gelegenheit. Ich mußte Rechnungen
abschreiben für die Unternehmer, deren Gefangene zu Dienstleistungen überwiesen
waren. Die mußten
Seite 133
je nach Anzahl der
Gefangenen und nach der Arbeitszeit dafür eine Bezahlung leisten. Diese
Rechnungen waren von einer anderen Dienststelle ausgestellt, zweimal überprüft
und sollten von mir nun abgeschrieben werden. Ich konnte es aber – meinem
Berufsanspruch entsprechend – nicht unterlassen, sie rechnerisch zu überprüfen
und war dann sehr stolz, als ich wiederholt Fehler fand, die ich verbesserte.
Das war natürlich verkehrt und ich hatte infolge, daß mich mein Zahlmeister
anschnauzte: „Die Rechnungen sind richtig, finden Sie bloß keine Fehler, dann
machen Sie sich mißliebig und fliegen hier raus.“ Das wollte ich natürlich
nicht und daher mußte ich auf meinen Drang zu korrigieren, verzichten.-
Allerdings hatte ich doch einmal Gelegenheit, meinen Civilberuf auszuüben.-
Der Sohn des Oberzahlmeisters,-
ein Schüler aus Osnabrück,- verbrachte die Pfingstferien bei seinem
Vater, diesem war wohl bekannt, daß ich Mathematiklehrer war, und er forderte
mich deshalb auf, seinem Sprössling Privatunterricht zu erteilen. Ich brauchte
also
Seite 134
nachmittags keinen Dienst
zu tun und konnte mich in meiner Wohnung in meinem Civilberuf betätigen. Daß
ich dafür irgendeine Bezahlung erhalten würde, habe ich natürlich nicht
angenommen, glaubt doch aber diese „Erziehungen“ ausnützen zu können. Man hatte
mir auf der Kammer eine Militärhose ausgehändigt, die im Gesäß mit einem
andersfarbigen Flicken verschönt war. Da ich an einem der nächsten Sonntage auf
Urlaub nach Hause fahren sollte, lag mir daran, dort einigermaßen schmuck
erscheinen zu können. Ich bat daher meinen Schüler, seinen Vater zu
veranlassen, mich dem Kammerunteroffizier zum Empfang einer besseren Hose
freundlichst empfangen zu wollen. Das klappte dann auch. Ich wurde zur Kammer
zitiert und sah mich dann schon im Geiste aus ihr in einem neuen Gewand wieder
herauskommen. Mir wurde eine Hose ausgehändigt, die ein gutes Gesäß hatte, aber
dafür an beiden Knien zwei gelbe Flicken aufwies, also
Seite 135
war ich wieder
hereingefallen. Im übrigen aber hatte ich keine Zusammenstöße, führte ein
sorgenloses Dasein, spielte abends mit den Kameraden Skat oder wandelte abends
in der schönen Umgebung Soltaus herum, allerdings immer in einiger Angst, wenn
mir Vorgesetzte begegneten. Ich war nämlich im „Grüßen“ nicht ausgebildet und
wusste nicht, wie ich mich zu verhalten hatte, - ob ich in „strammer
Haltung“ vorbeigehen oder die Hand an der Mütze legen mußte – dabei war die
Mütze sehr wacklig und drohte herunterzufallen, denn für meine Kopfweite =59=
war keine richtig passend aufzufinden gewesen. Das war also eine starke
seelische Belastung, aber auch so ziemlich die einzige. Am Wochenende besuchte
mich meine Gattin, brachte mir auch noch von ihren an sich kümmerlichen
Fleischzuteilungen einen „Braten“ mit, so daß ich nicht immer Klippfisch zu essen
brauchte. Auch meine Kinder Ernst und Lore besuchten mich und bewunderten ihren
kriegerischen Vater. Ich konnte aber dies´ Leben voll ertragen, war aber
dennoch hocherfreut, als ich
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nach etwa 5 Wochen von
meiner Schule
wurde, ausgehend von der Annahme, daß ich trotz der Kriegszeit als Lehrer in
Hannover nützlicher sein würde als Schreiber in Soltau.
Grete Lore Ernst Anne
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In Hannover nahm mein
Leben bald wieder seinen gewohnten Gang. Aber die Siegeszuversicht war
allmählich gesunken, und der Krieg drückte unserem Dasein immer mehr seinen
Stempel auf. Es kam 1918 zum Zusammenbruch und die Revolution, von deren
Begleiterscheinungen wir allerdings wenig berührt wurden. Stärker wirkte sich
dann allerdings die immer mehr zunehmende Geldentwertung auch bei uns aus, bis
diese 1922 katastrophale Auswirkungen annahmen. Schließlich wurde mein Gehalt
täglich ausbezahlt und wenn ich es mittags empfing, war sein Wert am Nachmittag
schon auf die Hälfte gesunken. Man mußte es aber sofort in Waren umsetzen und
irgendetwas kaufen. In der Zeit sammelten sich bei uns große Mengen an Vorräten
an, aber man hatte ein Betriebskapital. Diese Inflation wirkte sich sehr
unsicher auf den Pensionspreis für unsere Pensionäre aus, die wir damals bei
uns aufgenommen hatten, um unsere Einnahmen zu seigern. Zuerst Erwin B, -
Sohn eines Tapetenfabrikanten aus
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Langenhagen, - dem auch
noch mit ihm zusammen, ein gewisser Heinz Sorge und schließlich Heinz Drare
(Sohn eines Hotelbesitzer aus Basinghausen); ferner nur für kurze Zeit der Sohn
eines Bankdirektors Gerhard Lan. Bei Bezahlung des Pensionspreises war nie zu
verrechnen, welche Summe gegenseitig in Ansatz zu bringen war, die Mutter von
Erwin Bremer überließ es mir, von den dargebotenen 1000 M-Scheinen soviel
auszuwählen, wie ich für richtig hielt und schließlich bezahlte Herr Drare in
Naturalien. Er brachte dann von Woche zu Woche einen Rucksack voll Brot,
Likören, Chokolade usw. aus dem Hotelbetrieb stammend – mit. Für die Kinder
eine sehr willkommene Lösung und auch für mich zu gebrauchen, aber doch keine
Steigerung meiner Finanzkraft.
Als mein Vater 1923 die
Augen schloß, kostete der Sarg etwa 100.000,- M. Wir trugen uns nach seinem Tod
mit dem Gedanken, schon der Erbteilung wegen, das Haus in Einbeck zu verkaufen;
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es wurde dafür bis zu 5
Millionen geboten. Da schien ein gewaltiger Preis zu sein und meine Geschwister
wollten auf dieses Angebot eingehen. Aber mir kam glücklicherweise im letzten
Moment doch noch zum Bewußtsein, daß diese hohe Summe eine Scheinblüte war, und
ich verhinderte den Verkauf, wofür meine Geschwister später sehr dankbar waren.
– Im Nov.23 wurde dann unsere Währung stabil, für 1 Billion gab es 1 M, damit
verlief das Leben weniger aufregend. Ich habe dann unser Haus 1925 an den
Dachdeckermeister Beckmann verkauft für etwa 12.000,-M. Das war damals ein
angemessener Preis, danach habe ich es später bereut. Nachdem 1939 mein Haus in
H. vernichtet wurde, hätte ich gern in E. einen mir gehörenden Zufluchtsort
besessen. Das Haus ist von dem Besitzer stark umgebaut, insbesondere zeigt der
Garten ein ganz anderes Gesicht, trotzdem schaute ich bei meinem Aufenthalt in
E. bisweilen gern in die Erinnerungsstätte aus meiner Jugend hinein und möchte
auch annehmen,
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daß meine Nachkommen das
gelegentlich tun werden.
In unserem Haus in der
Brandelstraße in Hannover wurde es allmählich leerer. Unser Sohn ging nach
Heidelberg, nachdem er vorher ein Semester die Technische Hochschule besucht
hatte. Lore mußte auf das Jugendleiterinnenseminar nach Hildesheim nach
Absolvierung der hiesigen Frauenschule, Grete später nach Dortmund auf das
Lehrerinnenseminar, nachdem das
hiesige leider
geschlossen wurde. Meine Ausgaben wuchsen gewaltig, ich mußte am Anfang des
Monats fast mein ganzes Gehalt durch Postanweisungen meinen Kindern schicken.
Gut, daß ich Nebenverdienst und Ersparnisse hatte.- Es war einsam um uns
geworden, und nur unsere Anneliese stand uns treu zur Seite.-
Aber so ganz vereinsamt
waren wir doch nicht, da wir einen großen Freundeskreis hatten, in dem wir uns
sehr wohlgefühlt haben.
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Von ihm will ich nunmehr
sprechen. Zuerst muß ich wohl Fam. Andreesen erwähnen, mit der wir fast 20
Jahre lang in dem gleichen Haus gewohnt haben. Vater Andr. mein Kollege,
stammte aus Ostfriesland und zeigte die biedere, zuverlässige Art dieses
Menschenschlages. Seine Frau Klärchen, ebenfalls Ostfriesin, doch lebhafter als
ihr Mann, daneben zwei Kinder Luise und Heinz. Sie waren mit unseren Kindern
gleichaltrig und oft mit ihnen im Spiel vereint. Die Eltern waren uns stets
treue Hausgenossen, mit denen wir häufig ganz zwanglos zusammenkamen, die
Familienfeste feierten und uns bei Fragen, die das Leben mit sich brachte,
berieten. In der langen Zeit unserer Freundschaft ist auf sie keine Schatzten
gefallen. Die Frau, zuletzt kränklich, ist 1933 gestorben, Hermann Andr. wohnt
jetzt – von seinen Kindern, die sich verheiratet haben, verlassen, in dem Heim
in der Brandelstraße – und damit in dem Haus, in dem wir den größten Teil
unserer Ehezeit verbracht haben – das auch ein Opfer der Bombenangriffe geworden
ist - allein nur noch betreut von seinem treue Hausgeist „Emma“.
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noch in Hannover und
gehört immer noch zu unseren besten Freunden. In gleicher Weise wie mit ihm
sind wir mit Heinrich Fals verbunden. Er hat seit 1907, - damals noch als Junggeselle,
- in meiner Familie als Freund des Hauses verkehrt, - unsere Kinder sind unter
seinen Augen herangewachsen und er hat allein, was uns anging, Anteil genommen.
1919 hat er sich mit einer Witwe – Frau Körnig – der Mutter eines seiner
Schüler verheiratet, und auch mit seiner Gattin Käthe haben meine Frau und ich
selbst uns bald angefreundet. Nachdem H. Fals sich in Kirchrode ein eigenes
Haus mit einem großen Garten erworben hatte, waren wir bei ihnen oft zu Gast,
wurden üppig bewirtet und profitierten auch von den Gartenfrüchten,
insbesondere von den Birnen. Der Tod von Käthe Fals an meinem 60. Geburtstag
1940 - war auch für uns ein schwerer Verlust. Noch heute ist uns Heinrich
– zumal jetzt, wo wir auch in Kirchrode wohnen, ein lieber Weggenosse. Er
beliefert uns mit Obst und ich „sonne mich“ oft in seinem schönen Besitz.
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Die Pflege des Gartens
gibt seinem Leben Inhalt. Schon stets war diese Tätigkeit, neben seinem Beruf,
sein Steckenpferd; er hatte vordem in der Brandelstraße ein Gartengrundstück,
von dem er uns damals einen Teil überließ, so daß auch wir uns mehrere Jahre
als Gartenbauer betätigen konnten, was besonders für meine Frau ein geschätztes
Arbeitsgebiet und für unsere Kinder einen beliebten Spielplatz bedeutete.-
Neben diesen beiden Kollegenfamilien war es die Familie Kehl, - die ich schon
in meiner Junggesellenzeit erwähnt, - mit der wir oft zusammen kamen. Wir
spielten mit ihnen regelmäßig am Sonnabend in einem Gartenlokal einen soliden
Skat, dabei oft auch von den diesbezüglichen Kindern sekundiert. Leider
entstand dann später, - aber nicht durch mein Verschulden, - eine Trübung in
unseren Beziehungen, aber immerhin sind wir mit der Frau – meine Cousine
- und mit den heranwachsenden Kindern immer noch gut Freund. Mit dem Sohn
und der Tochter Lena sitzen wir seit kurzem beim Doppelkopf
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unsere
„Kartenbeziehungen“ fort.- Es würde zu weit führen, wenn ich all die
Kollegen nennen wollte, mit denen wir verkehrten. Herausheben muß ich aber noch
Wilhelm Gebert und Frau, mit denen wir uns oft „beim Bier“ trafen, wobei er in
seiner geistreichen witzigen Art stets das Hauptwort führte. Vor 2 Jahren hat
ihn der Tod viel zu früh dahingerafft, seine Frau ist nach Eisenach zu ihrer
Tochter gezogen. Wir stehen mit ihr noch in Briefwechsel. Auch
Josef Maier möchte ich
noch nennen, der seit 30 Jahren und noch heute mir ein treuer Freund ist,
nachdem seine lebenslustige Gattin vor etwa 12 Jahren ihm und uns genommen
wurde.-
In den Ferien siedelten
wir in der Zeit von 1920-1930 auch meistens in die Heimat meiner Frau nach
Fürstenau, nun nicht mehr wie früher, mit unserer großen Kinderschar. Dort
hatte inzwischen mein Schwager Lutz den elterlichen Besitz übernommen, er und
seine Gattin Elfriede haben uns stets freundlich bei sich beherbergt, wofür wir
ihnen
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dankbar sein müssen.
Himmelfahrt war unser Reiseziel regelmäßig seit 1928 Starkshörn, von dem ich
auch schon früher gesprochen habe. Meine Frau und Herr Winkelmann fanden großes
Gefallen aneinander und sahen in sich keine Konkurrentinnen hinsichtlich ihren
früheren Beziehungen zu mir, - dazu lag ja auch kein Grund vor.
Zusammenfassend war ein
also eine recht glückliche Zeit, die wir bis 1933 verbrachten und sie wurde
noch glücklicher, als wir uns dann ein eigenes Haus erwarben.
Schon seit langem war das
mein Ziel gewesen, das sich aber nicht verwirklichen ließ, solange unsere
Kinder noch in der Ausbildung standen und dadurch meinen Etat stark belasteten.
Aber nachdem sie ihr Examen bestanden hatten, konnte ich meine geldliche Lage
besser übersehen und trat diesem Bauplan näher. Es kam hinzu, daß die bisher in
Hannover üblichen Einfamilienhäuser für mich zu groß und vor allem zu teuer
waren, aber seit einiger Zeit war ein
[UT24] aufgekommen, das mehr meinen Wünschen und meinem
Können entsprach.
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Ich setzte mich mit einem
mir bekannten Bauunternehmen Mehmel in Verbindung und nachdem dann noch die
finanzielle Frage für mich dadurch erleichtert wurde, daß Mutter Wöchener sich
bereit erklärte, uns 4.000,- M als Darlehen bei meinem Bauvorhaben zur
Verfügung zu stellen, begann man damit, in der Brehmstr.43 den ersten
Spatenstich zu tun. Der Bau wurde von mir und meiner Frau fast täglich
besichtigt und kontrolliert und Ende September 1932 konnten wir unsere „Villa“
beziehen.
Ernst Grete Anne und Lore im Reifen
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Familienleben in der Brehmstraße 1933-1939
Es war zwar keine Villa in
eigentlichem Sinne, sondern mit mehreren anderen gleichartigen Häusern in einem
Block vereint. Die Frontseite betrug nur 7,30 m, aber es war sehr tief bis zu
14 m, sehr geräumig. Von den 7 Zimmern standen uns Eltern 4 zur Verfügung, und
jedes unserer 4 Kinder, die sich ja damals noch nicht von uns abgezweigt
hatten, hatte seinen eigenen Raum; Ernst den größten im Dachgeschoß als Atelier
für seine Betätigung als Künstler.
Ein kleiner Garten – etwa
20 m tief – war eine wesentliche Bereicherung, und der Balkon im Sommer unser
Hauptaufenthaltsort, auf dem wir auch sämtliche Mahlzeiten einnahmen. Im
Vorkeller befand sich eine kleine Werkstatt für mich, in der ich ungestört
„basteln“ konnte. In ihr entstand dann später für meine Großkinder mein
„Meisterstück“, ein Karussell mit springenden Pferden, sich drehenden Kutschen
und elektrischen Beleuchtung, die bei der Drehung abwechselnd in grün und rotem
Licht erstrahlten. Auch baute ich dort einen Pferdestall, in dem sich möglichst
viel bewegen mußte. An einer Winde konnten die
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Säcke nach oben befördert
werden, auf dem Taubenschlag drehten sich die Tauben im Kreise, auf den
Hühnersitzen hüpften die Hühner beim Eierlegen auf und ab und der Hund sprang
aus seiner Hütte, und ein Knecht hackte Holz. Kurt, es war alles dran.-
Karussell und Pferdestall sind am 9.Okt.1943 zusammen mit den anderen
Spielsachen, die ich für unsere Großkinder sorgsam aufbewahrt hatte, grausam
vernichtet.- Im Garten pflegte ich mich im Liegestuhl zu sonnen, seine
Betreuung – in erster Linie die Pflege unserer Beete - war nach meinem
Schuldienst eine willkommener Dienst. Privatstunden gab ich nur noch wenig,
eigentlich nur noch an die Sprösslinge von meinen Kollegen und Nachbarn,
meistens auch ohne Entschädigung, denn ich war ja jetzt finanzkräftig. Mein
Arbeitszimmer – nicht groß – aber sehr behaglich, das Esszimmer Unser
Festraum mit einem Ausbau überaus vornehm – unser Schlafzimmer im I. Stock
ruhig und sonnig, - es war geradezu
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geradezu ein ideales Heim.
Unsere Kinder haben es allerdings nur kurze Zeit genossen, Ernst verheiratete
sich 1935, Lore 1936 zu Ostern und Grete im Herbst gleichen Jahres. Die beiden
Hochzeiten unserer Töchter wurden in unserem Hause gefeiert, es gab der
Festgesellschaft von etwa 25 Personen genügend Raum. Eine Polonaise durch den
Garten und das ganze Haus unter Führung von unserem Ernst bildete dabei den
Höhepunkt.
Diese beiden Hochzeiten
veranlassen mich, an dieser Stelle von den Ehepartnern unserer 3 ältesten
Kinder zu sprechen – man wird allerdings nicht erwarten, daß ich auch sie
meiner Kritik unterziehe, das wäre abwegig und geschmacklos.- Ernst
verheiratete sich mit Anneliese Lache[UT25] , die er auf der Kunstschule in Berlin als seine
Mitstudentin kennen und lieben gelernt hatte. Lore´s Wahl war auf Dr. phil.
Alfred Thoma gefallen, einen bedeutenden Physiker, der als Schwingungsforscher
(Oszillograph) am Heinrich-Herz-Institut in Charlottenburg angestellt war. Sie
hatte ihn, als sie unseren Ernst in Berlin besuchte, auf einer Sylvesterfeier
kennen gelernt. Unsere Grete
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hatte ähnlich wie unser Ernst
bei ihrem Studium zuerst hier und später auch in Dortmund sich mit einem
Mitstudenten Ernst Niemagen[UT26]
angefreundet und war ihm bis zur Besiegelung dieses Bündnisses treu geblieben.-
Nachdem drei Kinder uns
verlassen hatten, war es bei uns leer geworden. Wir vermieteten 2 Räume an
Studentinnen der pädagogischen Akademie, unter denen auch zwei Verwandte meiner
Frau – Grete Wöch[UT27] ener
(die Tochter von meinem gefallenen Schwager Fritz W.) und Lore Heumann (Tochter
einer Cousine) waren. Auch die anderen „Damen“, die uns fremd waren, haben sich
in unser häusliches Leben gut eingefügt.- Es blieb also nur noch unsere
Anneliese bei uns, die dann Jahre lang mit uns alle Sorgen – die ja aber
gottlob nicht zahlreich waren – und alle Freuden teilte. Dadurch fällt sie auch
jetzt noch, nachdem auch sie sich 1941 verheiratete mit dem Innenarchitekten
Fritz Vogel, der mit uns und ihr bekannt geworden war, als er für die Aus-
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stattung unserer ältesten
Tochter die von ihm entworfenen und in eigener Werkstatt hergestellten Möbeln
empfahl – nebenbei bemerkt mit Erfolg – mit uns und mit der Brehmstraße
besonders verbunden. Es ist gegenwärtig ihr sehnlichster Wunsch, daß dieses
verlorene Paradies für sie und für uns wieder zurückgewonnen wird; natürlich
wird diese Hoffnung von uns mit ihr geteilt.-
Unser Wohnen in der
Brehmstraße hatte auch das Schöne, das in unserer unmittelbaren Nachbarschaft
Kollegen wohnten, mit denen wir eng verbunden waren. Der lustige Rheinländer
Gustav Meyer mit seiner Liesel, der Vater Brüggemann mit seinen vielen Kindern,
der Philosoph Engelmann mit seiner uns sehr sympathischen Gattin, die dann in
der Schreckensnacht 1943 mit ihrer Tochter mit uns in dem Luftschutzraum war.
Mit diesen Kollegenfamilien kamen wir oft ganz zwanglos zusammen, Ehepaar Meyer
im besonderen waren bei 2 Hochzeiten unsere Gäste, wobei Freund Gustav durch
sein Klavierspiel und seinen Humor viel zur Unterhaltung unserer Gäste beitrug.
Auch mit unseren Nachbarn
verstanden wir
Seite 152
uns gut, bes. mit denen
links von uns wohnenden Kaufmann Richter und seine Frau. Beide waren stets
hilfsbereit und vermittelten auch die Telefonanrufe für uns. Die Geburt unserer
Großkinder wurde uns regelmäßig freudestrahlend durch Frau Richter übermittelt.
An ihrem Fernsprechautomat erfuhr ich dann allerdings auch den Tod unseres
Großsohnes – das ist eine trübe Erinnerung (der kleine Christof[UT28] war einer Diphtherieerkrankung zum Opfer gefallen).
Mit diesem Verlust fiel
ein schwerer Schatten auf unsere Familie; wir mußten aber doch dankbar sein,
daß seine Mutter, unsere Tochter Lore – die ebenfalls an Diphtherie schwer
erkrankt war – uns erhalten blieb.
Rückschauend erscheint mir
die Zeit in der Brehmstraße als der Höhepunkt meines Lebens.
Bevor ich mich nun den
Jahren nach 1939,
also nach dem
Ausbruch des II. Weltkrieges zuwende, will ich noch eine kleine Übersicht
nachtragen über die größeren Reisen, die ich in der Zeit von 1927-1939 mit
meiner Gattin unternommen habe.-
Seite 153
Ich sagte vorher schon,
daß uns dazu in den früheren Jahren die Geldmittel fehlten. Aber nun glaubten
wir, uns diesen Luxus leisten zu können. Auf diesen Reisen habe ich viele
Photographien selbst aufgenommen, sie sind gerettet und werden ein besseres
Bild von unseren Erleben geben, als ich es in Worten schildern kann. Auch diese
Reisealben sollten mit meinem Lebensbericht und der Familiengeschichte des
Hauses Wolfhagen zusammen aufbewahrt werden.
Unsere Reisen führten uns
ins Gebirge, - die Alpen, - für die konnte ich mich nicht begeistern.
Regelmäßig wurde daher München besucht, wo wir auch mehrere Tage Station
machten. Durch meine Studiensemester und unsere Hochzeitsreise war uns München
sehr vertraut. Von dort aus ging es in dem neuen Jahr nach Mittenwald – wo wir
mit Freund Meyer zusammentrafen, weiter bis Innsbruck. Ein anderes Mal weilten
wir in Garmisch-Partenkirchen, später in Oberstdorf.
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Einmal haben wir uns sogar
bis in die Schweiz vorgewagt, zur Jungfrau, Grindelwald, Interlaken,
Vierwaldstätter See. Zur Abwechslung haben wir dann auch n dem einen Sommer den
Schwarzwald durchquert, Freudenstadt, Wildbad, Hinterzarten am Titisee und
Feldberg, anschließend Bodensee und Konstanz. Ferner haben wir das
Salzkammergut aufgesucht, Gmunden, Traunsee – dabei war unsere Grete unser
Begleiter. Mit Anneliese waren wir kurz vor ihrer Verheiratung in Tegernsee,
immer nach einem mehrtägigen Aufenthalt in München, wo damals der Tag der
Deutschen Kunst, eine Schöpfung des Nationalsozialismus mit einem prunkvollen
Festzug glänzend gefeiert wurde, Symphonie-Konzerten auf den größten Plätzen
und einem Sommerfest im englischen Garten. Dabei kreuzte auch der „Führer“ Adolf
Hitler zum ersten und einzigen Mal meinen Weg. Meine Frau war sehr begeistert,
als sie ihn vorbeifahren sahen und wartete stundenlang darauf, bis er
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auf dem Balkon des Theaters
der jubelnden Menge zeigte. Ich selbst war wohl schon damals skeptisch und
sehnte mich nach einem behaglichen Bierlokal mit lauter Blasmusik, als
fröstelnd auf der Straße stehen zu müssen. Den Festzug habe ich allerdings gern
genossen, wenngleich wir bei der riesigen Menschenansammlung nur die Köpfe der
kostümierten Teilnehmer erspähen konnten.- Als ich später, als sich auch unsere
Anne verheiratet hatte, also im Sommer 43, allein mit meiner Gattin wieder über
München nach Tirol fuhr – ins Stubaital, nach Zell am See und nach dem schönen
Meisingen -, wurde auch wieder in München dieser Festzug gestartet. Bei
strömenden Regen auf dem Bordstein der Kaufingerstraße mußten wir 4 Stunden
lang dieses Schauspiel genießen und waren froh, daß wir uns hinterher in einem
molligen Lokal bei Kaffee und Bier wieder für unser geneigtes Kunstinterresse
belohnen konnten. Wir wohnten in München immer in demselben Privatquartier, das
aber in diesem Jahr so stark
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belegt war, daß wir das
Zimmer mit Chaiselonge vereint mit einem anderen Ehepaar, nur durch einen
Wandschirm von ihm getrennt, teilen mußten. Wir hatten aber die genügende
Bettschwere und haben uns gegenseitig kaum gestört. Die Quartierfrage war ja
überhaupt in der Reisesaison oft schwer zu lösen, und ich entsinne mich, daß
wir in der Schweiz in Wangen einmal auf dem Fußboden einer Veranda über dem
Schweinestall übernachten mußten. Hotels oder Gasthäuser haben wir nur selten
aufgesucht; durch das Wohnen bei den „Eingeborenen“ lernten wir das Leben der
Einwohner besser kennen, auch war es billiger, und wir waren nicht so gebunden.
Mittags aßen wir natürlich in einem Lokal, aber sonst speisten wir „zu Hause“.
wobei das Beschaffen der Lebensmittel uns auch Freude machte. Mit unseren
Quartierswirten haben wir, besonders meine Gattin, uns im allgemeinen
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und an ihrem Familienleben
interessiert teilgenommen. Die dabei oft vorgefundene Aussichtslosigkeit in
ihrer Ernährung gibt uns in dieser trüben Gegenwart, so wir auch nichts auf das
Brot zu schmieren haben und uns mit Suppen begnügen müssen, eine gute Lehre,
bescheiden zu sein. So wirken sich unsere Reisen – abgesehen von den schönen
Erinnerungen, die uns noch mit ihnen verknüpfen – für unsere Ansprüche an das
Leben noch günstig aus. Wir haben viel von der Welt gesehen und uns doch nach
Abschluß unserer Fahrten zu Hause am wohlsten gefühlt.
Wer weiß, ob die Zukunft
es uns ermöglicht, noch einmal die Alpen und das so mir ans Herz gewachsene
München wieder zu besuchen. Ist es nicht der Fall, will ich auch zufrieden sein
und mich damit begnügen, anhand meiner Bilder und der teilweise noch
vorhandenen, von meiner Frau geführten Reisetagebücher, noch einmal die
Gegenden im Geiste zu
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durchwandern, in denen wir
einst so glücklich waren, und die mir Erholung und Kraft für meinen Beruf
gegeben haben. Ich muß dabei besonders dankbar sein. daß ich nie irgendeines
Defektes wegen, Kurorte oder Heilstätten habe aufzusuchen brauchen, auch meine
Gattin war nicht dazu gezwungen. „Herz und Nieren“ sind ja auch jetzt noch bei
mir gesund, und wenn meine Nerven überanstrengt waren, habe ich auch durch
eigene Kraft diesen Zustand überwinden können.
Von den wenig erfreulichen
Jahren nach 1939 will ich erst sprechen, nachdem ich mich vorher meinen
beruflichen Ergehen, den dabei gemachten Erfahrungen, dem schulischen Geschehen
im allgemeinen und meinen Erlebnissen im besonderen rückwirken gewidmet habe.
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Mein Leben als Studienrat 1906-1945
Am 1. Oktober 1906 wurde
ich, wie ich schon vorher sagte, am hiesigen Realgymnasium als Studienrat
angestellt. An dieser Anstalt bin ich ohne Unterbrechung 40 Jahre lang tätig
gewesen. Im Laufe der Zeit habe ich unter 3 Direktoren „gedient“, deren erster
der Geheimrat Tietze war, ein Aristokrat von reinstem Wasser, vornehm in seiner
Erscheinung und vornehm in seinem Wesen, zweifellos weltklug und ein guter
Pädagoge. Seinen Untergebenen – speziell auch mir – gegenüber reichlich
reserviert, unnahbar, überlegen. Ich bin mit ihm nie warm geworden. Beim
Kegeln, das wöchentlich stattfand und als offizieller Dienst – wenigstens
für mich galt – taute er etwas auf und kam mir menschlich näher. Er aber hat
mich ja angestellt und dafür muß ich ihm dankbar sein.
Das Kolleg bestand in der
Hauptsache aus älteren um nicht zu sagen, alten Herren, der Unterschied von mir
bis zum jüngsten betrug wohl mindesten 15 Jahre. So kam ich mir ziemlich
verlassen vor, bis dann später
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Freund Andreesen, - auch
in meinem Alter, - und nach Abgang mehrerer Seniorenwitwen jüngere Kräfte
eingestellt wurden. Unter diesen Senioren waren eine große Zahl wirklich
verkalkter Erzieher, die ich nur mit mürrischem Gesicht ihre Aufgabe der Jugend
gegenüber habe erfüllen sehen. Einige hatten absolut keine Disziplin und wagten
kaum, die Klasse zu betreten,- es war Zeit, daß diese den Schauplatz verließen.
An einen von diesen ergrauten Pädagogen erinnere ich mich aber gerne, es war
der „ „(?) Scheizmann, der mir
insbesondere durch seine Ruhe als Vorbild erschien. Nach den Konferenzen, in
denen vieles leeres Stroh gedroschen wurde, pflegte er zu sagen: Fislito,
Fisilitas, es bliwet alles, wie es war (es bleibt alles, wie es war).Was
Fislito übersetzt hieß, habe ich nie ergründet. Er hatte mit dieser Ansicht
vollkommen recht; auch damals wurde bei den „Beratungen“ viel geredet, ohne daß
hinterher danach gehandelt wurde. Dieser, mein Eindruck wurde verstärkt, durch
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ein kleines Erlebnis, das
ich schon in der ersten Zeit hatte. In der Konferenz hatte der Direktor eine
Verfügung, über die Körperschaften verlesen und darauf hingewiesen, daß
Schläge an den Kopf unter allen Umständen verboten seien. Am nächsten Morgen
hatte ich in der Pause Aufsicht auf dem unteren Flur, und der Direktor ging
ebenfalls auf ihm auf und ab, vielleicht, um mich zu kontrollieren. Plötzlich
kam beim Klingelzeichen ein Schüler in das Gebäude gestürmt, kam ins Rutschen
und sauste dem würdigen Direktor vor den Bauch mit dem Erfolg, daß dieser dem
Attentäter eine wohlgezielte Ohrfeige verabreichte. Ich muß ihn daraufhin – an
die Konferenz denkend – wohl ziemlich erstaunt angesehen haben, jedenfalls
sagte er ironisch lächelnd: “Gestern, Herr Kollege, das war die Theorie, dies
ist die Praxis.“ Nun wusste ich ja Bescheid, was ich von Anfang an von
Konferenzbeschlüssen zu halten hatte. Doch noch einmal zu meinem Freund
Scheizmann. In der Pause pflegte er das Lehrerzimmer zu betreten
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mit den Worten: „So, nun
woll`n wir erst einmal ordentlich freustücken. Das tat er dann auch sehr
ausgiebig, bevor er sich seinen Karrikaturen zuwandte. Er war ein großer
Naturfreund und Wanderer, von dem erzählt wurde, daß er seine Durchquerung
unseres Vaterlandes nicht danach richtete, ob die Gegend besonders schön war
oder nicht, sondern nur auf den Längen- und Breitengraden marschiert sei. Nun,
trotz dieser Schrulle ein Prachtmensch und ein Freund der Jugend. Dann tritt
noch ein anderer alter Schulmeister in meiner Erinnerung wieder hervor. der
allerdings nicht mehr im Dienst war, aber doch seine frühere Zugehörigkeit zum
Kolleg dadurch betonte, daß er regelmäßig zum Kegeln erschien. Dieser würdige
Herr sah so aus, wie ich mir als Kind den Weihnachtsmann vorgestellt habe, und
man nannte ihn Schett-Meyer, weil er die falschen Antworten der Schüler in
seiner weit zurückliegenden Dienstzeit mit dem Urteil: ohlens Schett – alten
Sch… quittiert
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haben soll. Von ihm ging
das Gerücht, daß er die deutschen Aufätze nie korrigiert haben soll, und seine
Schüler wenn sie ihn nach der Rückgabe fragten, gesagt haben soll mit den Worten
….. (Dialekt) „Mit euren Aufsätzen habe ich Pech gehabt, mein Dienstmädchen,
das Biest, hatte sie in den Ofen geschmissen …. oder, sie sind mir in die Ihne
(einen Fluß, der er auf dem Weg in seine Wohnung überqueren mußte) geweht. Er
hat um das Jahr 1890 herum auch in der Schule oft „Platt“ gesprochen, und man
sagte von ihm, daß er bei Behandlung der Nibelungensage sich auch nicht des
Urtextes bedient, sondern die Werbung Siegfrieds bei Gunther um seine Schwester
Kriemhild drastisch mit den Worten geschildert habe: ….. (Dialekt). „Wenn
Du mir das Mädchen nicht gibst, schlage ich Dir die Knochen im Leibe entzwei)“.
Ich traue ihm
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diese Art der Verstellung
voll zu. Es gab aber auch unter meinen ersten Kollegen eine Anzahl sehr
tüchtiger Lehrer, die ich mir zum Vorbild nehmen konnte.
Insbesondere erwähne ich
Prof. Brömer, der Hauptmathematiker und Chemiker, an den ich mich oft bei
meinen Vorbereitungen für den Physikunterricht gerichtet habe, und dem ich
manchen guten Rat und Anleitung verdanke. Ich nenne ferner Ballerstedt, der
auch später der Deutsch- und Religionslehrer von unserem Sohn war und von ihm
sehr verehrt wurde. Der am vielseitigsten Gebildete war entschieden Micha, der
sowohl als Alt- als auch als Neuphilologe, daneben auch als Germanist an der
Schule tonangebend und führend war. Micha ist noch am Leben und unterrichtet,
nachdem er sein hiesiges Heim verloren hat – immer noch, wenngleich wohl jetzt
nahezu 80 Jahre alt ist an einer Privatschule außerhalb. Ein richtiger Lehrer
kann eben sein Handwerk nicht lassen. Als Lehrer für die Sextaner war Prof.
Lehmann,
Seite 165
der mich auch in meinem
Verhalten zu meinen Schülern oft gut beraten hat. Mit diesen „älteren“ Herren
stand ich durchweg auf gutem Fuße, natürlich war ich mit ihm nicht befreundet,
dazu war der Altersunterschied doch zu groß. Erst im Laufe der Zeit fand ich im
Kollegenkreise meine gleichaltrigen Freunde, und zuletzt stand ich mit einigen
anderen als senior in Führung und konnte die jüngeren Lehrkräfte etwas betreuen,
bis ich dann am 1. März 1945 in den wohlverdienten Ruhestand versetzt wurde. In
Anerkennung meiner Dienste erhielt ich das Treudienstehrenzeichen in Gold
– ein Orden, der vom Nationalsozialismus geschaffen wurde. Ich habe ihn nur
wenige Male bei feierlichen Anlässen tragen können, nach dem Umstieg hat er an
Wert verloren, außerdem ist er mir von den amerikanischen Truppen, als von
ihnen meine jetzige Wohnung belegt war, gestohlen worden. Wie vergänglich sind
solche äußerliche Ehrungen.-
Ich bin glücklich,
behaupten zu dürfen,
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daß ich mich ausnahmslos
mit meinen Kollegen gut vertragen habe und auch bei meinen vorgesetzten
Direktoren eine gute Nummer hatte. Nach dem Abgang meines ersten Direktors
übernahm 1912 Dieter Münch die Leitung meiner Schule. Ein bekannter
Schulreformer, mit dem ich bei seinen Plänen zur Umformung des Unterrichts
nicht immer Schritt halten konnte. Mir ist übrigens nie recht klar geworden,
welche Methode ich meinem Unterricht zu Grunde gelegt habe, es kam mir darauf
an, wobei es auf den Weg, der zu diesem Zweck führte, nicht so sehr ankam.
Unter Münch nahm unsere Anstalt einen großen Aufschwung und wurde zu einer
„bedeutungsvollen“ Schule erklärt. Die Wesensart von meinem zweiten
Vorgesetzten habe ich nie recht erkennen können, er war stets freundlich – aber
doch undurchsichtig.- Etwa um 1928 wurde Münch zum Leiter der hiesigen
Pädagogischen
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Akademie ernannt und sein
Nachfolger wurde .
Ruhl hatte seine Wahl zum Direktor wohl in erster Linie dem Umstand zu
verdanken, daß er politisch in der Volkspartei stark hervorgetreten war. Er war
ein guter Organisator, ei angenehmer Vorgesetzter, der mich im besonderen so
schalten und walten ließ, wie ich das für richtig hielt. Bei den
gesellschaftlichen Zusammenkünften, auf die er großen Wert legte, durchaus
kameradschaftlich, aber kein vorbildlicher Erzieher. Für die Belange der Jugend
hatte er wohl nicht das richtige Verständnis, im Abitur war er oft hart und
rücksichtslos. Ich darf mir einbilden, daß er mich als Lehrer und auch als
Kollege geschätzt hat. In seinem Lebenswandel hat er wohl seinem Körper zu viel
zugemutet, jedenfalls ist er völlig verbraucht und noch nicht 60 Jahre alt 1942
verstorben. Er war politisch sehr geschult und weltklug und hat die Katastrophe,
die über Deutschland hereingebrochen ist, schon am Anfang des Krieges, als es
noch viele Optimisten gab, vorausgeahnt und in unserem Kreise auch
vorausgesagt.
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Wie die oberste
Schulbehörde mich beurteilt hat, ist mir im einzelnen natürlich nicht bekannt.
Allerdings haben sich die Schulräte beim Abitur über die Leistungen meiner
Schüler – und damit auch über meine Verdienste – anerkennend geäußert, und
soviel ich weiß, ist auch von Schüler- oder Elternseite nie eine Beschwerde
beim Schulkolleg über mich eingegangen. Da ich ja nun angeblich nach Urteil
meiner Kollegen und meiner Direktoren, nach Lob aus Elternkreise und dank
vieler Schüler ein guter Lehrer gewesen sein soll, frage ich mich bisweilen,
weshalb ich nicht zu höheren Würden aufgestiegen bin.. Darauf habe ich zu
sagen: Einmal hatte ich dazu wenig Ehrgeiz, ich fühlte mich wohl in meinem
Lehrerbetrieb und wusste nicht, ob ich den Aufgaben eines Oberstudienrates
gewachsen sein würde. Ferner bin ich nie nach außen hin hervorgetreten, habe kaum
Vorträge gehalten, keine Schriften veröffentlicht und insbes.
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Im Philologenverein mich
nur selten sehen lassen.- Einmal habe ich außerdem Pech gehabt, als mein
Direktor Münch meinem Physikunterricht beiwohnte, um , wie mir später klar geworden
ist, festzustellen, ob er mich für einen Aufstieg in Vorschlag bringen konnte.
In dieser Stunde mußte ich die Beugungserscheinung des Lichts zeigen. Ich hatte
mich, wie übrigens meistens, am Tag vor auf diesen Versuch im Physikzimmer
vorbereitet, insbes. die Beugungslampe, die dabei eine wesentliche Rolle
spielte, genauestens eingestellt. Als sie aber am nächsten Tag eingeschaltet
wurde, misslang mein Versuch, und trotzdem ich Angst schwitzend immer wieder
herummanövrierte, um die gewollte Erscheinung zu erzielen, ich hatte keinen
Erfolg. Ich merkte, daß mein Direktor missbilligend den Kopf schüttelte und
ersichtlich enttäuscht war.- Hinterher stellte ich fest, daß die Bogenlampe
nach meiner von einem
jüngeren Kollegen benutzt war, und daß dadurch meine Vorbereitung hinfällig
geworden war. Ich war also völlig unschuldig, habe aber nicht versucht, meinen
Direktor in diesem Sinne aufzuklären.
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Diesem Mißgeschick
verdanke ich vielleicht, daß ich am Realgymnasium geblieben bin – ich sage bewusst
„verdanke“. Selbst auf die Gefahr hin, in den Verdacht des Eigenlobes zu komme,
möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen, daß der Schulrat Bösch mich nach
einem erfolgreichen Abitur einmal gefragt hat: „Weshalb sind Sie nicht
eigentlich Oberstudienrat geworden.“ Nun, ich weiß es auch nicht, und, wenn ich
es in der Zeit nach 1933 geworden wäre, dann wäre ich jetzt wahrscheinlich als
„Nutznießer des nationalen Regimes abgebaut“ worden.
Man sieht, es hat alles
sein Gutes. Ich bin aber doch in gewissem Sinne stolz, daß mir am Schluß meiner
Carriere Oster 1993 (?) durch Leitung des mathematischen Seminars (zur
Ausbildung der Studienreferenden) übertragen wurde. Diese, wenn auch nur
kurze Tätigkeit, denn im Herbst 1963 flog das Semester auf, - hat ich sehr
befriedigt. Noch stolzer bin ich aber in
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dem Gefühl, daß die
meisten meiner Schüler mich in gutem Andenken haben.
Von diesen meinen Schülern
will ich jetzt sprechen.
Ich habe oft darüber nachgedacht,
wie groß wohl die Zeit derer sein mag, die im Laufe der 40 Jahre durch meine
Hände gegangen sind und glaube, daß sie mit 1500 nicht zu hoch geschätzt ist.
Einen Teil von ihnen habe ich nur kurz unterrichtet – auch nur in wenigen
Wochenstunden, viele habe ich aber auch viele Jahre hintereinander betreut. Die
erste Gruppe ist inzwischen wieder aus meinem Gesichtskreis entschwunden, die
letzte dagegen haftet noch fest in meinem Gedächtnis. Oft tauchen sie wieder in
meiner Erinnerung auf mit ihren Vorzügen und mit ihren Schwächen. Dabei
besonders diejenigen, die ich durch das Abitur geführt habe und die, deren
Klassenlehrer ich war. In den ersten Jahren wurde ich nur in der Unter- und
Mittelstufe zugelassen, Sekunda und Prima war das Domi….
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der älteren Herren, Später
stieg ich dann aber empor und etwa seit 1920 hatte ich meistens den Unterricht
in Physik und Mathematik auf der Oberstufe zu erteilen und war Klassenlehrer in
OII-OI, meistens 3 Jahre hintereinander. Im allgemeinen war es nicht Sitte,
denselben Lehrer die gleichen Schüler eine längere Zeit hindurch als Ordinarius
anzuvertrauen, und als ich einen Jahrgang schon über die Zeit hinaus zu
Sexte-Untersekunda geführt hatte, wollte man ihn mir aus obigem Grunde
fortnehmen. Als das in den Schülerkreisen bekannt wurde, reichten meine
Untersekundaner durch ihre Eltern eine Petition an den Direktor ein,
dahingehend, mich als Klassenlehrer bei ihnen zu belassen. Das war ja für mich
natürlich eine große Ehrenrettung, der dann auch von Dir. Rühl stattgegeben
wurde. Ich führte die Klasse bis zur Oberprima einschließlich weiter. Das war
das letzte Friedensabitur 1939.
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Nach dem Examen, bei dem
von25 Abiturienten 23 bestanden, luden meine Schüler mich und meine Gattin zu
einer Abitour ein, die in 6 von den Schülern selbst gesteuerten Autos der
betreffenden Familien auf meinen Wunsch nach meiner Heimatstadt Einbeck
gestartet wurde. Dort wurde dann mein Geburtshaus besichtigt. Die sonstigen
Sehenswürdigkeiten gezeigt und auf dem „Hasenjäger“ (siehe Jugendzeit) Kaffee
getrunken. Dieser Tag wird in unvergesslicher Erinnerung bleiben.
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Ich glaube mir einbilden
zu dürfen, daß ich unter meinen Schülern kaum Freunde gehabt habe. Gewiß
standen ja viele von Ihnen mit der Mathematik auf Kriegsfuß und übertrugen die
Antipathie auf mich als denjenigen, der sie damit quälen mußte. Aber ich nehme
nicht an, daß sie mich deshalb gehasst, wenn auch vielleicht gefürchtet haben.
Dazu lag ja wohl auch kein
Grund vor, denn ich habe sie, soviel ich weiß, wegen ihres „Nichtkönnens“ nicht
drangsaliert, wenngleich ich das „Nichtwollen“ natürlich andererseits nicht
dulden konnte. Zu ernsten Zusammenstößen mit den mir Anvertrauten ist es nicht
gekommen, einige kleine Zwischenfälle will ich aber doch erwähnen. In meinen
ersten Dienstjahren – als ich noch nicht festen Fuß gefasst hatte – versuchten
natürlich auch einige kleine „Verbrecher“, mir das Leben sauer zu machen. In
der saß damals ein Schüler von Kaisemberg (der Sohn eines hohen
Offiziers),
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der oft durch seine
Frechheit meine Autorität zu untergraben versuchte. Ich befand mich in Notwehr
– und nur durch diese Lage erkenne ich als Grund an, den Angreifer sofort
nötigenfalls durch eine Ohrfeige in die Schranken zurückzuweisen, - und haute
ihm eine runter. Darauf sagte mein Kontrahent: „Sie dürfen mich nicht schlagen,
ich werde es meinem Vater sagen.“ Einen Moment war ich ratlos, dann aber hielt
ich es für das Richtige, ihm noch eine Ohrfeige zu verabfolgen mit den Worten:
damit sich deine Beschwerde lohnt, bekommst du noch eine.“ Er hat sich nicht
bei seinem Vater über mich beklagt und von da ab war meine Stellung in dieser
Quarta gesichert.
Etwa 1938 machte ich in
der Oberprima in der Physik bei der Behandlung der elektrischen Wellen die Bemerkung:
„Hierbei dürfen Sie sich den Hermann „Hertz“ merken, wenngleich er ein Jude
war.“ Darauf erhob sich der Schüler Köcher und fragte: „Was wollen Sie damit
sagen?“
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Es war mir bekannt,, daß wir
Lehrer damals von der HJ in unserer Stellung zum Nationalsozialismus
kontrolliert wurde, war aber mutig genug, diesem fanatischen Nationalsoz. zu
antworten: „Ich wiederhole meine Bemerkung wörtlich und empfehle ihnen, sie zu
Protokoll zu nehmen, im Übrigen möchte ich sie bitten, die Klasse zu verlassen.“-
Er hat sich nachher bei mir entschuldigt. Es war damals ein gefährlicher Boden,
und ein Führer der HJ durfte es wagen, in der Aula vor versammelter
Schülerschaft die Schüler vor uns Lehrern, denen der „Kalk aus der Hose
rieselt“, zu warnen, ohne daß unser sonst mutiger Direktor den Mut gehabt
hätte, die Jüngling hinauszuwerfen. Es ist dann aber von Elternseite aus eine
Beschwerde gegen diesen Hetzer eingereicht, und er wurde daraufhin seines
Postens enthoben.-
Ich habe immer den Eindruck
gewonnen, daß unsere Schüler oft nicht zu lenken waren, wenn man sie gerecht
behandelte.
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Mein Bestreben war dann
auch, in dieser Hinsicht mir keine Verfehlung zu schulden kommen zu lassen. Aus
diesem Grunde führte ich auch bei der Beurteilung der Klassenarbeiten das
Punktsystem ein, das gestatte, jede Leistung wirklich gerecht zu
bewerten. Es kam nicht so sehr darauf an, ob die Arbeiten rechnerisch richtig
oder falsch waren, sondern das gezeigte mathem. Verständnis war für die Zensur
maßgebend. So konnten die Schüler aus der Zahl der ermittelten Punkte mein
Urteil genau nachprüfen. Glaubten sie, daß sie für eine Teilleistung nicht
genügend „Punkte“ erhalten hatten, konnten sie dann weiterhin ein
Schiedsgericht anrufen. In ihm waren der Führer der Klasse, je ein Vertreter
des Schülers und ein von mir bestimmter Richter;- das ich mich bei der
sonstigen Beurteilung der Schüler, insbes. bei meiner Stellungnahme zu
eventuellen Entgleisungen bemüht habe, gerecht zu sein, darf ich noch
erwähnen: Gerechtigkeit ist die Genugtuung des Lehrers.
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Eine weitere Gefahr, das
Verhältnis zu den Schülern zu trüben und sie zu verbittern sehe ich darin, daß
oft zu hohe Anforderungen gestellt werden, ohne daß man die Schüler genügend
vorbereitet hat, um sie erfüllen zu können. Wenn bei einer Klassenarbeit
beispielsweise 70% unter genügend ausfüllen, dann stimmt etwas nicht, und der
Lehrer trägt dabei die Schuld und muß daraus die Folgerungen ziehen. Ich habe
deshalb immer bei den Arbeiten die Durchschnittszensur errechnet, und, wenn sie
unter 0,2 lag, die Arbeit als ungültig kassiert und nach nochmaliger Durchnahme
des Stoffes wiederholt. Auf diese Weise glaubte ich zu erreichen, daß die
Schüler nicht mutlos wurden, und ein wahres Vertrauensverhältnis zwischen ihnen
und mir entstand.-
Wenn es auch mein Bestreben
war, mich der mir anvertrauten Jugend als älterer Kamerad zu erweisen, habe ich
doch darauf Wert gelegt, daß das Vertrauensverhältnis nicht zu intim wurde. Ich
hatte einen Kollegen, der sich von seinen
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Schülern mit du-sagen mit
seinem Vornamen anreden ließ,- kein
Verständnis gehabt. Der Respekt muß bleiben, aber er darf nicht in Angst
ausarten, wie das in meiner Jugend der Fall war. Zur Belebung meines
Unterrichts – bei dem ja infolge des trockenen Stoffes die Gefahr der langen
Weile entstand – habe ich ihn oft unterbrochen durch kleine humoristische
Einlagen „Schwänken“ aus meinem Leben und auch „mathematischen Scherzen“. Dafür
waren die Schüler sehr empfänglich. Die dabei verlorene Zeit wurde durch eine
darauf freudige
arbeit mehr als aufgeholt. Ich habe
meine Jungen teilnehmen lassen an meinem Familiengeschehen, mich überhaupt
ihnen gegenüber als Mensch, der auch seine Fehler macht, gezeigt und nicht als
unfehlbarer Herrgott. Dazu bot sich ja oft Gelegenheit bei unserem Landheimaufenthalt.
Dieses Landheim ist etwa um 1926 herum von unserer Schule in der Nähe von
Springe am Rande des Deisters erbaut.
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In ihm verbrachten die
Klassen mit ihrem Ordinarius jährlich 10-14 Tage, die durch Wanderungen, Sport
aber auch durch Unterricht besonders den Umständen angepasstem Ort ausgefüllt
wurden. Für die oberen Klassen stand der Winter zur Verfügung, und so habe ich
dann meistens im November das Leben im Landheim genießen können. Damit fiel ja
manches Schöne fort, was dort im Sommer geboten wurde und die Tage dort waren
für den Lehrer wahrlich keine Erholungszeit. Nebel, unpassierbare Wege,
dauernder Lärm, unruhige Nächte bildeten fast das Charakteristikum. Aber ich
kam meinen Schülern näher, lernte sie sozusagen außerhalb der Schule kennen und
konnte sie damit auch bei den von mir beim Abitur geforderten Charakterbildern
besser und gerechter beurteilen. Man wurde im Landheim gut verpflegt, es gab
auch Alkoholika zur Einschläferung des Nachts, und ich konnte ohne Kontrolle
seitens meiner Gattin meinem Laster, dem Rauchen, huldigen,
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und das hatte ja auch seine
Vorteile. So denke ich dann auch an die diversen Landheimwochen zurück; seit
1939 kann das Landheim von unserer Schule nicht mehr benutzt werden, das ist
bedauerlich und insbesondere für unseren Landheimwart, meinem Kollegen Basche –
der aber jetzt auch im Ruhestand lebt – eine große Enttäuschung.
An den Sonntagen und
besonderen Besuchstagen erschienen die Eltern der Schüler in großer Zahl
in Springe – auch meine Gattin leistete mir dann oft Gesellschaft und tröstete
mich in meiner Einsamkeit. Dadurch
lernte ich sie auch einmal außerhalb der Sprechstunden kennen, und es entstanden
manche freundschaftliche Beziehungen, auf die ich großen Wert gelegt habe. Noch
heute bestehen diese Bindungen mit den Elternhäusern, wenngleich dies infolge
der Zeitverhältnisse nicht mehr so stark nach außen hin in Erscheinung tritt
wie früher. Ich bin der Ansicht, daß man den Schülern nur darum völlig gerecht
werden kann, wenn man auch über ihre häuslichen Verhältnisse einigermaßen
orientiert ist, habe deshalb die Elternbesuche in meiner Sprechstunde
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eventuell auch in meiner
Wohnung nicht als Belästigung empfunden, im Gegenteil dazu aufgefordert. Ich
wollte nicht nur die Eltern kennenlernen, sondern schwachen Schülern oder
denen, die etwas „verbrochen“ hatten, sondern auch die von den guten, die
keinen direkten Grund hatten, mit mir Fühlung zu nehmen. Von meinen
Sprechstundenerlebnissen könnte ich viel erzählen, von Müttern, die glaubten,
am Leben verzagen zu müssen, weil ihre Sprösslinge nicht versetzt werden
konnten, von fluchenden Vätern - die ich
aber meistens besänftigt habe, und weiblichen Anwälten ihrer Kinder, die glaubten,
durch allerlei Zaubermittel mich milder stimmen zu können. Es kam häufig vor,
daß junge Sextanermütter mir gegenüber ihre Reize spielen ließen, durch
vielsagendem Augenaufschlag, betörende Düfte und ein kokettes Raffen ihrer
Gewandung versuchten, meine Sinne zu umnebeln. Eine kleine Aussprache möchte
ich aber dennoch festhalten, die charakteristisch ist für die Einschätzung
Söhne durch ihre Mütter.
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Es erschien Frau Putowski
und teilte mir mit, daß sie ihren Sohn Siegfried von uns abmelden und auf ein
Gymnasium schicken wollte. Als ich sie nach ihrem Grund für den geplanten
Schulwechsel fragte – ihr Siegfried war Quartaner – erzählte sie, daß auf einer
Geburtstagsfeier ihres Sohnes die eingeladenen Festgäste „Trauung“ gespielt
hätten, wobei ihrem Sohn die Rolle des Pastors zugefallen wäre. Dabei hätte er
derartige Qualitäten gezeigt, daß sie ihn für einen Pfarrer als geeignet halte,
und daß er somit einmal Theologie studieren solle. Daher der Übergang auf das
Gymnasium. „Es liegt ein tiefer Sinn im Kind`schen Spiele.“ Ob Siegfried ein
guter Seelsorger geworden ist, und ob sich seine als Quartaner gezeigten
Fähigkeiten im Leben als ausreichend bewiesen haben, ist mir nicht bekannt.
Daß die Eltern ihre Wünsche
und Bitten durch allerlei Mitbringsel – Alkohol, Cigarren, im ersten Weltkrieg
auch durch Fettigkeiten zu unterstützen suchten, war schon früher eine
Zeiterscheinung – gegenwärtig wird dies wohl
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bei der allgemeine
Korruption noch mehr der Fall sein. Ich darf zu meinem Lobe sagen, daß ich
dadurch nicht schwach geworden bin und derartige Freundlichkeiten dankend
abgelehnt habe, was ja aber selbstverständlich ist. Nur bei meinem Geburtstage
durften mir meine Schüler einen von der Klasse gemeinsam gestifteten
Blumenstrauß überreichen, darin sah ich nicht den Versuch einer Bestechung,
vielmehr einen Beweis ihrer freundschaftlichen Gesinnung.
Mein Bestreben, mit den
Eltern gut auszukommen, gilt in entsprechender Weise auch für meine
dienstlichen Beziehungen zu meinen Kollegen. Da ich in Zusammenstößen
zwischen Lehrern und meinen Schülern nicht ohne Weiteres den Schüler für
schuldig hielt, mich vielmehr als dessen Anwalt fühlte, und auch Entgleisungen
oder Irrtümer der Lehrer für möglich hielt, bestand ja die Gefahr zu
Konflikten, die ich aber im allgemeinen durch geschicktes Manövrieren vermieden
habe. Nur einmal wäre es fast
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zum Krach zwischen mir als
Klassenlehrer der OI und der in ihr
unterrichtenden Kollegen gekommen und zwar aus folgendem Anlaß. Man hatte den
Musikunterricht in dieser Klasse einem jüngeren Referenden übertragen, der als
Lehrer absolut ungeeignet war und sich in der Art wie er die Schüler
behandelte, dauernd grobe Missgriffe zuschulden kommen ließ. Dabei hatte er
nicht die geringste Disziplin, die Schüler, auch die sich sonst musterhaft
betrugen, - tanzten ihm auf der Nase herum. Das führte schließlich dahin, daß
meine Musterknaben ihn kurzerhand in den Musterschrank eingesperrt hatten. Die
Folge war eine Klassenkonferenz, die, - allerdings nur mit geringer Majorität,
beschloß – alle Schüler, die kurz vor dem Abitur standen, von der feierlichen
Entlassung nach derselben zur Strafe für diesen Akt der Selbsthilfe
auszuschließen. Diesen Schimpf konnte ich auf meinen Schülern nicht sitzen
lassen, stellte mich daher in Widerspruch zu meinen Kollegen und plädierte bei
Schulrat auf Freisprechung mit dem Hinweis, daß nicht
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meine Schüler schuldig
seien, sondern der Lehrer, der trotz seines besten Mannesalters nicht imstande
war, mit ihnen fertig zu werden. Ich hatte Erfolg und dem jungen Kollegen wurde
dringend geraten, sich nach einem anderen Beruf umzusehen. Was wäre aus diesem
„Karzer“ für eine traurige Lehrerfigur geworden; ich glaube, ich habe ihm für
sein späteres Leben manches Martyrium erspart. Jedenfalls habe ich die Ehre
meiner OI – es war der Jahrgang 1939 – gerettet.
Doch das war, wie ich schon
sagte, auch der einzige ernste Konflikt. Manche meiner Kollegen hielten mich
für zu milde, da ich meine Schüler ohne Strafen zu erziehen suchte und kein
Freund von rigorosen Maßnahmen war, aber auch mit diesen anders gearteten
Pädagogen habe ich mich im allgemeinen verständigt. Der Erfolg meiner
Erziehungsmethode war jedenfalls der, daß die von mir geleiteten Klassen in
ihrer Gesamthaltung nicht zu den schlechtesten gehörten.
Soviel von meinen
persönlichen Erlebnissen und Unterrichtserfahrungen.
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vom Standpunkt des
Weihnachtsmannes gesehen
In dem folgenden Abschnitt
will ich von dem allgemeinen Schulgeschehen sprechen, das ja besonders
nach 1933 abwechslungsreich genug war.
Bis dahin war das schulische
Leben im allgemeinen in denselben Bahnen verlaufen. Als wesentliche Neuerung
wurde etwa 1920 der Arbeitsunterricht
eingeführt. Dabei ist der
Grundgedanke, daß der Lehrstoff und die Wissenschaft dem Schüler nicht fertig
vorgetragen werden sollten, sondern von ihm erarbeitet werden muß. Der Lehrer
soll – kurz gesagt – weniger reden, und der Schüler mehr aktiv sein. Eigentlich
eine Selbstverständlichkeit, die in meinem Unterricht auch schon vorher gültig
war.- Wie ich diese angebliche Neuerung beurteilt und welche Folgen ich aus ihr
gezogen habe, ist wohl am besten erkennbar an der Art, wie ich in meiner
Eigenschaft als Weihnachtsmann des Kollegs darauf reagiert habe. Diesem Amt und
was damit zusammenhängt, werde ich nachher noch ein besonderes Kapitel widmen,
muß aber schon an dieser Stelle des besseren Verständnisses halber
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erklären, daß es meine
Aufgabe war, einmal die Kollegen in ihren kleinen Schwächen anzuöden, zum
anderen aber auch das Weltgeschehen, soweit es die Schule betraf, zu
glossieren.
Nach dieser Erläuterung wird
nun das „Gedicht“ über den Arbeitsunterricht, das ich meinem Direktor Münch
gewidmet habe, verständlich sein: - ich überreichte ihm dabei 2 Hampelmänner
1928.
In dem Arbeitsunterricht,
gilst Du als mein großes Licht,
zu uns kamen Deinetwegen,
viele der Provinzkollegen
um zu lernen die Methode,
die bei uns jetzt oft in Mode.
Vorher heißt es exerzieren,
um die Sache zu probieren,
damit, wenn man die Frage stellt,
sofort die richtige Antwort fällt.
Ich schenke Dir heute diese
Knaben,
an ihnen wirst Du Freude haben;
und merke Dir die Sache so:
hier der sagt „yes“ und der sagt „no“.
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Das war also der
Arbeitsunterricht, so wie ich ihn gesehen habe.
Schon seit altersher war es
ja Sitte, daß im Laufe des Jahres mehrere Wandertage eingelegt wurden,
an denen die Lehrer mit ihrer Klasse kleine bis auf bisweilen weite Touren oder
Reisen unternahmen, einmal um mit ihren Schutzbefohlenen außerhalb der Schule
zusammen zu sein, dann aber auch, um auf diesen Ausflügen andere Gegenden
kennen zu lernen und das allgemeine Wissen zu erweitern. Dabei wurden diese
Exkursionen im allgemeinen ohne vorherige große Planung – ohne besonderes Ziel
– ohne Genehmigung des Direktors für die Art der Ausführung angesetzt.
Das sollte nun anders
werden. Laut einer Verfügung des Schulkollegiums mußten diese Wanderfahrten
vorher genauestens projektiert und vor allem hinsichtlich des Unterrichtsziel`s
festgelegt werden.
Meine Stellung zu dieser
Neuerung geht aus dem „Gedicht“ hervor, das ich dem Turnlehrer Hadenberger
gewidmet habe unter Überreichung einer Topfblume.
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Bemerkung:
Langenhagen ist ein Dorf
1930 bei Hannover, in dessen Nähe
das Heidekraut zu finden
ist.
Die Schule sollte legen an,
sich einen Musterwanderplan,
durch den man sich schnell orientiert,
wohin man seine Schüler führt.
Der hat den Wanderplan gedichtet,
und uns zu großem Dank verpflichtet.
Man sieht aus ihm die Kilometer,
man weiß nun auch, ob früh ob später,
geht’s mit den Jungen auf die Reise,
ringsum, der Plan ist ganz famos,
und wir sind manche Sorge los.
Doch eins dabei nicht gefiel,
es fehlt bisweilen noch das Ziel
des Unterrichts, daß doch sehr wichtig,
sonst ist die Wanderung nichtig.
Damit der Plan das Ziel auch hat,
helf ich Dir heut mit meinem Rat.
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Geht man im Mai nach Langenhagen,
so in den
ersten Frühlingstagen,
dann ist das Ziel vom Unterricht:
„Die Heide blüht im Mai noch nicht.“
Wenn man
im Juni dann muß wandern,
zum Heidehof und zwar zum andern,
dann heißt dabei das Unterrichtsziel,
„Man sieht von Heide noch nicht viel“.
Doch wenn man im August raus zieht,
dann heißt das Ziel: „Die Heide blüht“.
Vier Wochen drauf ist`s ebenso:
„Die Heide blüht noch irgendwo.“
Auch für Oktober ist`s nicht schwer,
das Ziel: „Die Heide blüht nicht mehr.“
Man sieht, die Sache ist nicht schwierig,
doch nun bist Du bestimmt begierig,
womit dann wohl der Weihnachtsmann
zum Danke
Dich erfreuen kann?
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Du kriegst zur steten Augenweide,
den Blumentopf, gefüllt mit Heide.
Doch Heide konnt ich nicht erwischen,
nimm Alpenveilchen nun inzwischen.
Soviel vom Wandertag in dem neuen Gewande.
Der Sieg des
Nationalsozialismus hatte 1933 eine ganze Reihe einschneidender Änderungen für
unsere Schule zur Folge.
Der Name „Realgymnasium“
wurde umgewandelt in „Tellkampfschule (?) (Tellkampf hatte vor etwa 8o Jahren
die Schule geleitet und war ein bedeutender Schulmann geworden). Die
Klassenmützen wurden abgeschafft, die Jungen trugen nunmehr ihre Kappen oder
Hüte. Bisher hieß die unterste Klasse Sexta Klasse 1 und Prima Klasse 8.
Die Zahl der Tage, an denen der Unterricht ausgesetzt wurde, wurden immer
größer und infolge dieser Störungen war es kaum
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noch möglich, das
vorgeschriebene Pensum zu erledigen. Wie ich darüber dachte, geht aus meinem Auftrittsgedicht Weihn.1933 hervor. In
meinem Auftritt als Weihnachtsmann pflegte ich, bevor ich die Geschenke
verteilte, von meinem eigenen Ergehen zu berichten, wobei ich dann das
schulische Geschehen übertrug auf mein Erleben, dabei erschienen also die Schüler
in der Verkleidung als meine Zwerge.
Ich will deshalb erzählen
von meinen Zauberlingen.
.
Sehr große Sorge machen mir die Zwerge.
Die Zwerge müssen doch für mich jetzt fertig
machen,
für all die Kinder – ihre Weihnachtssachen.
Ich bin in großer Sorge, ob die Arbeit fertig
sei,
die Zwerge sagen täglich, es sei arbeitsfrei.
Am Montag müssen sie in der SA
marschieren,
am Dienstag sollen sie exerzieren,
am Mittwoch machen sie `nen Krieg in der
Nacht,
und das Üben müde macht,
ist auch der Donnerstag verloren,
der Freitag ist dagegen auserkoren,
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zu einem großen Kinderfest,
am Sonnabend, am Wochenrest
sie dann beim Fußballspielen schwitzen,
und ich bleib dann mit meiner Arbeit sitzen.
Das war meine Ansicht über die
vielen freien Tage nicht nur als Weihnachtsmann, sondern auch als Lehrer.
Der Beginn der Beginn
des Schuljahres wurde von Ostern auf August verlegt und es gab eine neue
Ferienordnung. Als geniale Erfindung von dem Kulturminister Karst wurde der
rollende Stundenplan eingeführt, der allerdings nur von kurzer Dauer war.
Dieser rollende
Stundenplan wirkte sich auch 1935 auf mich als Weihnachtsmann in
folgender Form aus:
Erst kürzlich haben sie vorgeschlagen,
`ne Bindung in den Arbeitstagen,
und meint er, daß ein Rollsystem
sich würd` erweisen als bequem.
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Bisher hat jeder Tag `ne ganz besondere Pflicht,
das gibt es nun in Zukunft nicht.
Damit ein Beispiel werde aufgeführt:
Der Montag war stets reserviert
fürs Backen, nun hat man daran gedacht,
daß in der nächsten Woche
das am Dienstag wird gemacht.
Am Dienstag wurde stets lackiert,
das wird das nächste Mal am Mittwoch
ausgeführt,
die nächste Woche dann am Donnerstage,
bis dann der Freitag kommt dafür in Frage.
Ich muß gestehen, ich hab das nicht erfasst,
für mich das Rollsystem nicht passt.
Das geht in meinem Gehirn nicht mehr hinein,
die Folge davon würde sein,
daß ich zu Pfingsten dann im Mai,
ich glaube, daß Weihnachten sei,
weil ja die Zeit inzwischen rollte,
ich das nicht mehr kapieren wollte.
Soviel von dem rollenden
Stundenplan, er war doch mal etwas Neues.
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Einschneidender in unseren
Lehrbetrieb war dann die Verfügung, daß die Schüler von OII ab entsprechend ihren Anlagen und Neigungen
sich entscheiden konnten, ob sie von da ab dem Neusprachlichen – oder den
Mathematisch Naturwissenschaftlichen Zweig besuchen wollten. Es wurde gegabelt,
wie man diese Teilung nannte; ich muß gestehen, daß ich diese Neuerung sehr
begrüßt habe. Man gab mit ihr den Schülern die Möglichkeit, entsprechend ihrem
in Aussicht genommenen Beruf den geeigneten Weg der Vorbildung zu wählen, und
wir Lehrer würden damit manchen für unser Fach nicht geeigneten Schüler los
dadurch, daß er sich für die andere Seite entschied. Es gab allerdings Schüler,
denen die Wahl schwer wurde, weil sie in allen Fächern gute Leistung und
Interesse zeigten, und andererseits solche, die infolge ihrer allgemeinen
Unbegabtheit in keinem der beiden Zweige Erfolg hatten.
Über dieses
Gabelungsverfahren sagte der Weihnachtsmann 1937 folgendes:
Die Zwerge wollen nicht mehr jede Arbeit machen,
früher halfen alle mit bei den Schulsachen,
doch heute will der eine Kuchen backen,
andere will sie nur verjacken
der eine chaßt nur für die Tischlein,
der andere nur ein Maler sein.
Kurzum, ein jeder wählt sich seine Suppe,
und alles andere ist ihm schnuppe.
In der Beurteilung
der Schüler trat eine Veränderung ein, die vom PIK verfügt wurde, daß in
Zukunft für Leistungen, Fleiß, Aufmerksamkeit nicht mehr wie bislang Zensuren
verteilt werden sollten, sondern daß man über die Haltung der Schüler sich nur
ganz allgemein äußern sollte. Diese Anordnung konnte ich nur begrüßen, denn
eine gerechte Beurteilung der sittlichen Haltung und des häuslichen Fleißes
halte ich für sehr schwierig. Diesen Gewissensbedenken konnte man aus dem Wege
gehen, in dem man sich beschränkte, mit ganz unverbindlichen Redensarten die
Schüler zu charakterisieren. Schwierig war es
Seite 198
allerdings, dabei immer
andere Worte zu finden, um zu vermeiden, daß alle Urteile gleich lauteten. Für
diese neue Art der Beurteilung gab ich als Weihnachtsmann folgendes Muster:
Ein solcher Standpunkt bringt mich in
Verlegenheit,
ich muß jedoch
von Zeit zu Zeit,
den Zwergen die Bescheinigung geben,
daß sie auch zeigen geistiges Streben.
Es kommt hinzu, man muß das Urteil richtig
fassen,
wobei es sich nicht wird vermeiden lassen,
daß sich die Sätze zu sehr gleichen.
Gut ist es aber, in den Worten abzuweichen.
Daher muß ich bei diesem Urteil, das zu füllen,
die Ausdrucksweise stets umstellen.
Wie man das dabei macht,
das habe ich mir so gedacht:
Ich nehme an, daß ein Zwerg sei,
nicht schlau und auch wohl faul dabei,
beim ersten
Satz dann natürlich genau,
„Er ist zu faul und auch nicht schlau.“
Seite 199
Beim zweiten denkt man etwas um,
„Er ist nicht fleißig und auch dumm.“
Beim dritten schreibt man dann vielleicht,
daß er faul und dumm sich erweist.“
Man sieht, es sind stets andere Worte,
und doch sind alle Zwerge von der gleichen Sorte.
Außerdem wurde verfügt, daß
bei der Beurteilung des Charakters der Schüler und des weiteren auch
ihrer Eignung für de erwählten Beruf ihr Verhalten bei den Leibesübungen und
beim Sport stark zu berücksichtigen sei, und daß damit das Urteil des
Turnlehrers sehr wesentlich sei.
Aus diesem Grund hieß es in
meinem „Gedicht“ für den Turnlehrer – der schon bei den Wandertagen der
Leidtragende war - am Schluß so: (als
Geschenk erhielt er eine Turnhalle):
Seite 200
Man findt in jedem Kriege,
besondere Charakterzüge,
auch wird ja der Beruf, in dem der Schüler
steckt,
beim Turnen einwandfrei entdeckt.
Es galt deshalb, bei dieser Halle nicht zu
sparen,
besonders kann beim Laufen man erfahren,
wozu der Schüler passt im späteren Leben,
dafür will ich ein Beispiel geben:
Läuft jemand seine 100 Runden,
zu 13,2 Sekunden,
die Zeit ist wahrlich gar nicht lang,
dann passt er zum Kassierer von `ner Bank.
Denn falls er auskratzt, ist es wichtig,
daß er im Laufen dann ist tüchtig.
Doch wir die Runde langsam gemacht,
vielleicht nur 13,8
dann steht als Ingenieur er seinen Mann,
falls er auch denken, nicht nur laufen kann.
Doch wenn die Zeit noch länger sei –
und erst bei 15,3
Seite 201
die Einzelrunde wird gezogen,
dann passt der Schüler gut zum Philologen.
Bei dem Beruf gibt`s nichts zu ,
da kann er ruhig die Zeit .
Das war also meine Stellungnahme
zu der angeordneten Beurteilung der Schüler durch ihren Turnlehrer.-
Jedoch die Wichtigkeit der
Leibesübungen wurde dann noch mehr hervorgehoben, durch den Erlaß, daß die
sportliche Betätigung in Zukunft nicht mehr in einer Zensur zusammenfassend
beurteilt werden solle, sondern daß die einzelnen Teilgebiete Turnen, Sport,
Schwimmen etc. einzeln zu bewerten sei.
Auf Grund dieser Verfügung
mußte mein Kollege Hastenberger bei der
nächstjährigen Weihnachtsfeier wiederum folgenden Rat von mir über sich ergehen
lassen:
Als man den Unterricht hat umformiert,
da hat der Sport vor allem profitiert.
Seite 202
Halt nur die Stundenzahl ist stark vermehrt,
jetzt wird in ihm auf vielerlei gelehrt,
und alles das, was dort wird aufgeführt,
das wird auch einzeln jetzt zensiert.
Früher wurde eine Nummer festgelegt,
wie man`s auch sonst zu tuen pflegt,
doch jetzt sind 5 stattdessen zu verfassen:
wie sich der Schüler am Gerät benimmt,
und wie er boxt und wie er schwimmt,
aber in Leichtathletik auf der Höhe sei
und ob er tüchtig in der Wanderei,
das alles man jetzt zu entscheiden hat,
ich helfe dir deshalb mit meinem Rat.
Du darfst dich mit 5 Nummern nicht begnügen,
die Schüler müssen mehr Zensuren kriegen.
Ein Blatt ein Zeugnis wird für Turnen 5
reserviert
und dann wird einzeln ausgeführt:
Im Bocksprung kriegt der Schüler eine 2,
am Reck dagegen reicht`s nur zu `ner 3,
das Linksummachen zeigt ein gutes Können,
Seite 203
dagegen „Rechtsum“ ist nur 5 zu nennen.
Auf diese Weise sieht man klar,
ob es ein guter Turner war.
Jedoch das Urteil für die Wissenschaft,
das wird in eine Zahl zusammengerafft.
Und man schreibt irgendeine Zahl –
denn die Zensur ist doch egal.
Soviel über die tragung des Turnunterrichts; nebst ihm wurde
ja auch die Biologie, Rassenkunde, Erbgesetz stark in den Vordergrund gedrängt.
Meine Auffassung über die Rassenkunde geht aus einem Gedicht hervor, daß
meinem Kollegen Engelmann unter einer Puppe gewidmet war.
Du bist ein hochgeehrter Mann,
den eine Gabe nur erfreuen kann,
sofern er kann benutzen diese,
für seine Büroanalyse.
Das galt wohl in den frühen Jahren,
doch jetzt ist anders zu verfahren,
wenn weiter du willst konkurrieren,
dann musst `nen vollführen.
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Nur der gilt geehrt in
heut`ger Stunde,
der was versteht von
Rassenkunde.
Der Rasseforscher,
der ist wichtig,
die Seele, die ist
nicht mehr wichtig.
Aus diesem Grunde ich
erfasse,
für dich -, daß du studierst
die Rasse.
Hier zunächst dieses schöne
junge Mädel.
Zunächst betrachte mal den
Schädel,
und stelle fest dann auch
dabei,
ob dieser Typ auch nordisch
sei.
Dann untersuche Aug`und Ohr,
das letzte kommt mir
spanisch vor.
Wenn man betrachtet dann die
untere Partie –
im allgemeinen sieht man
leider sie ja nicht -,
weil sie ist meist verhüllt
–
bei dieser dann wird der
Wissensdurst gestillt,
dann möchte man auf fälisch
schließen.
Den Anblick der Pedale
kannst du auch genießen,
ich möchte diese für dunarisch (?) halten
mit einem Einschlag nach dem Stamm der Balten.
Du siehst - -die lehrt dich allerlei
darüber, wie die Rasse sei.
Seite 205
Doch stelle fest, beachte meinen Rat,
ob diese Jungfrau Rasse hat.
Denn alle Rasse wenig nützt,
sofern man Rasse nicht besitzt.
Wie ich über die
übersteigerte Beteuerung der Mendel`schen Erbgesetze, wie sie bei
dem Kollegen Luking besonders in der
Reifeprüfung zu erkennen war, dachte oder besser, denke, mag man aus dem ihn in
Verbindung mit einem „Kugelkasten“ – wie sie die Kinder zum Spielen benutzen –
überreichtem Gedicht entnehmen:
Du bist als Geologe jetzt der großen Mann,
und in dem
Abitur kommst du am meisten dran,
du hast den Schülern sehr viel beigebogen,
die Prüfung war entschieden richtig aufgezogen.
Die Regeln, die nicht Mendel hat erdacht,
hast du den Schülern beigebracht -
und deine Schüler mußten wissen,
wie die Zahl sich kann verbinden müssen.
Was resultiert, sofern 2 Elemente sich vereinen?
Wie kommt es, daß die einen blond erscheinen?
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Vielleicht ist bei der einen das Auge blau?
Weshalb ist mancher doof und mancher schlau?
Weshalb ist jener krank und der gesund?
Weshalb ist einer mager, einer rund?
Weshalb ist mancher farbenblind?
Weshalb vermißt in mancher Ehe man ein Kind?
Das alles hast du treu gelehrt
und manches Rätsel aufgeklärt.
Gibt`s nun noch irgendwas zu enthüllen,
ist meine Frage noch zu stillen,
dann greif zu diesem Kugelkasten,
du bist mir dankbar, wenn du hast `nen.
Nun suche diese Kugeln zu gruppieren,
laß sie in Reihen aufmarschieren,
hinein 2 von dort und 3 von diesen hier,
beziehungsweise 1 und 4,
auch 5 von rot und 2 von dieser Gruppe,
vielleicht auch 3 – das ist ganz schnuppe;
kurzum, du brauchst um zu „mandeln“ )?)
diese Schar
und das Geheimnis der Natur wird klar.
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Am Schluß dieses Kapitels
über das Geschehen, will ich noch ein Gedicht festhalten, daß mein Kollege zusammen mit einer Flasche Likör
erhielt, nachdem er in einer Konferenz uns ausführlich darüber informiert
hatte, wie man der Forderung unserer vorgesetzten Behörde – den Gedanken:
Blut und Boden – mehr als bisher im Unterricht zu pflegen – Rechnung
tragen zu können.
Sehr
schwierig – ohne Zweifel – ist die Frage,
wie
man verbringt im Landheim seine Tage.
Du
gabs`t uns in der Konferenz den Bericht
wie
dort verlaufen muß der Unterricht.
Wenngleich
schon recht ausführlich war dein Plan,
man
ihn doch noch ergänzen kann.
Und
was dem noch hinzuzufügen wäre,
das
geb ich dir in dieser Lehre.
Streift man mit seinen Schülern durch die Wälder,
besichtigt man mit ihnen mal die Felder,
dann ist es gut, wenn man die Schüler unterweist,
darüber, wie der Bauer heißt,
dem dieses oder jenes Land gehört.
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Auch
ist es nötig, daß man sie belehrt,
wie
alt der Bauer und seine Frau,
die
Zahl der Kinder nennt man auch genau,
ob
Heinrich heißt der Sohn – ob Fritze –
das
alles ist dem Schüler nütze.
Hierdurch
wird mit Blut und Boden er verbunden,
und
außerdem vergehen dabei die Stunden.
Dann
muß man auch zum Friedhof gehen,
die
Form des Grabsteins ist zu besehen.
Vielfach
man dann dabei erblickt,
daß
solch ein Grabstein ist mit einem Bild geschmückt.
Bei
diesem Bild muß man auf die Kleidung achten,
studieren
muß man jene Trachten
der
Menschen, die vor 100 Jahren
Bewohner
vom Kreis Springe waren.
Das
ist sehr wichtig – und vor allen Dingen –
muß
man den Schüler dazu bringen,
bei
welchem Schneider mancher Landesmann,
der
vielleicht hieß,
den
Sonntagsanzug machen ließ.
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Wenn
es sich handelt um eine Frau, mit Namen Rieke,
dann
ist es nötig, daß man ganz genau bekieke,
das
Bild auf ihrem Monument,
nicht
nur, damit man ihre Kleider kennt.
Vielmehr
der Schüler auch sofort dann folgern muß,
von
welcher Farbe war das Dessous,
man
kennt bekanntlich nie genug.
Nur
dadurch wird mit Blut und Boden man verbunden,
und
außerdem vergehen dabei die Stunden. –
Ich
möchte glauben, daß aus der Angabe dieser verschiedenen Neuerungen in der Zeit
von 1933-39 zur Genüge hervorgeht, daß im Unterrichts- und Schulbetrieb von
Ruhe nicht die Rede sein konnte. Man kann nicht behaupten, daß diese Jahre
langweilig waren, aber ebenso wenig, daß diese Inkonstantheit sich für den
Erfolg günstig ausgewirkt hat. Daß neben diesen Umstellungen auch wir Lehrer
uns nach den Wünschen des Hitler-Regimes mehr oder weniger richten mußten – von
mir kann ich behaupten, „wenige“ -
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liegt ja auf der Hand. der
erzwungene Beitritt zum NS-Lehrerbund mit seinen Pflichtversammlungen, bei
denen man seine Teilnahme durch seine Unterschrift
auf einen am Eingang des Sitzungsraumes ausgelegten
Zettel bekunden mußte, war für mich ein Gewissenskonflikt. Die Pflichtbesuche
des Gaudiums (?), ebenso von allen möglichen Ausstellungen in den Kriegsjahre,
auch von militärischen Manövern, um die Schüler für die einzelnen
Waffengattungen anzuwerben, waren keine reine Freude. Vorträge von hohen
Parteifunktionären fanden nicht immer meinen Beifall, und das Abschwanken der
Schüler von der Interessensphäre der Schüler zu dem Betätigungsfeld in der HJ
war für die Pflege der Wissenschaft nicht von Vorteil.
In dem nächsten Kapitel soll der Humor zu Wort kommen,
der mir in der Schule begegnet ist.
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Da meine Kinder mir zu Hause meistens meine Bleistifte
ablotsten, um damit ihre Zeichenkünste zu betreiben, hatte ich es mir
angewöhnt, ganz kleine zu benützen, mit denen die Kinder nichts anzufangen
wussten. Allmählich sah ich einen Sport darin, deren Grüße (?) immer weiter zu
vermeiden, bis nur noch eine Länge von wenigen mm übrig blieb, und hatte nun
wahre Sammelwut nach diesen kostbaren Schreibgeräten. Die Schüler kamen
natürlich dahinter und übertrafen sich darin, - natürlich um mich anzuöden -,
auf dem Katheter immer winzige
Bleistifte zu deponieren, die ich aber dankend an mich genommen habe zur
Bereicherung meines Bestandes.
Mit diesen kleinen Dingern, die ich kaum zwischen
meinen Fingern halten konnte, wurden auch die Zensuren in mein Notizbuch geschrieben
aber mit einer Ausnahme: Wenn ein Schüler eine besonders dumme Antwort gegeben
hatte, die man
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weder aus Unkenntnis in der Geometrie noch in der ansehen konnte, dann bekam er eine
schlechte Note auf das „allgemeine Intelligenzkonto“ und diese wurde dann
nicht mit dem , sondern
mit meinem goldenen Füllbleistift eingetragen. „Eine 5 auf das allgemeine
Intelligenzkonto“ eingetragen und mit dem goldenen „Füllbleistift“ war also
gleichbedeutend damit, als wenn ein Psychiater einen Angeklagten für geistig
unzurechnungsfähig erklärt hätte.
An dieser meiner Eigentümlichkeit hat mich noch
kürzlich ein alter Herr, der früher einmal mein Schüler war, und mich hier
in anredete, erinnert.
Das hatte er behalten, die ihm von mir beigebrachten
Kenntnisse wir er wohl inzwischen vergessen haben.
Damit der von mir so sehr belastete Schüler nicht aus
unberechtigtes Mitleid bei dem Leser erfährt, füge ich noch hinzu, daß er oft
später von mir doch wieder für geistig normal erklärt werden konnte.
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Ich hatte und habe noch die Gewohnheit, in
geschlossenen Räumen häufig mehrmals hintereinander stark niesen zu müssen. War
dies in der Schule der Fall, dann entstand leicht bei meinen Schülern bei
dieser Procedur, während der ich ja nicht eingreifen konnte, eine gewisse
Unruhe. Um das zu verhindern, kam ich auf die originelle Idee, den Schülern ein
Erlassen meiner häuslichen Aufgaben für den nächsten Tag zu versprechen, sofern
es mir gelänge oder besser sofern ich gezwungen war, mehr als 8 Mal
hintereinander zu niesen. Ich behauptete, daß sie den Weltrekord, und falls er
von mir überschritten wurde, müsste diese Leistung gebührend gefeiert werden.
Diese Vereinbarung möge zunächst blödsinnig erscheinen, hatte aber das Gute,
daß von nun ab die Schüler meinem Niesen meinem Niesen mäuschenstill und voller
Spannung lauschten, - und das war ja meine Absicht gewesen. Selbstverständlich
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hatte ich mich
somit in der Gewalt beim 7.Male aufzuhören oder meine Explosionen auf 9 zu
steigern, das hing davon ab, wie ich in Laune war, oder besser, ob ich die
Schüler an dem betroffenen Tage für würdig hielt, diese Auszeichnung der
Arbeitsbefreiung zu genießen.
Einmal hatte ein Quartaner versucht, meine Leistung
durch Niespulver künstlich zu steigern, das er ausgestreut hatte – er ist nicht
von mir bestraft worden, - aber dieser Klasse ging für ¼ Jahr dieses Vorrecht,
sofern der Weltrekord gebrochen wurde, keine Hausaufgaben erledigen zu
brauchen, verloren. Und das von Rechtswegen. Ob man meine Maßnahme für richtig
halten wird, weiß ich nicht, ich bereue sie jedenfalls nicht -, auch sie wird
aber meinen ehemaligen Schülern in der Erinnerung an mich weiterleben.
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Bei den häuslichen Aufgaben wurde natürlich auch bei
mir oft gemogelt in dem Sinne, daß sie von einem Mitschüler sinnlos
abgeschrieben wurde. Ich pflegte sie ständig zu kontrollieren und achtete dabei
auf diese Möglichkeit. Gewann ich den Eindruck, daß ein Schüler auf diesem Wege
seiner „Pflicht“ genügt hatte, den habe ich nicht erst lange verhört, was ja
doch wahrscheinlich dazu geführt haben würde, daß er meinen Verdacht bestritten
hätte. Vielmehr stellte ich dann kurz die Frage: Wann, wo und von wem? Das hieß
also wann, wo und von wem ist die Arbeit abgeschrieben? Die Antwort mußte dann
etwa lauten: „Heute Morgen, in der Klasse, von meinem Mitschüler Walter
Schulze.“
Gab er eine solche Auskunft, dann war der Fall
erledigt und er wurde nicht bestraft – versuchte er aber zu leugnen, dann wurde
die Sache näher untersucht, und der Schüler, da er meistens überführt werden
konnte, erhielt seine verdiente Strafe.
Seite 216
Somit die Vorgeschichte des folgenden Erlebnisses. Vor
wenigen Jahren erhielt ich zu Neujahr eine Postkarte, auf der war zu lesen:
Herzliche Grüße und Wünsche
Wann:
am 3.Oktober 1935
Wo: in Sumatra
Von wem: von ihrem alten Schüler Kurt
Felsmann.
Man sieht,
solche
charakteristischen Eigentümlichkeiten des Lehrers bleiben einem Schüler – auch
wenn er nach Sumatra verschlagen ist,- im Gedächtnis und dienen dazu, das Bild
seines Lehrers richtig zu formen.
Auf einem Schulfest in der Stadthalle forderte mich
vor Jahre bei der Damenwahl ein junger Backfisch zum Tanzen auf und stelle sich
vor mit den Worten: ich bin Inge Bockhacker. Nun hatte ich in der Quinta einen
Schüler Hans Bockhacker, der im Rechnen nicht gerade eine Leuchte war, im
übrigen wusste ich mit diesem Namen
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nicht viel anzufangen, folgte natürlich ihrer
Aufforderung und drehte mich mit dieser anmutigen Tänzerin stolz im Walzertakt
unter den erstaunten Blicken meiner Schüler und den Eltern. Leider wurde ich
bald ernüchtert, dann, als ich diese Inge zu ihrem Platz zurückleiten wollte,
fragte sie mich verschämt: Nicht wahr Herr Studienrat, sie geben doch meinem
Bruder keine 5 im Rechnen?
Soweit kann also die Bruderliebe führen, daß die
Schwester bereit ist, für Interesse einen Tanz zu opfern. Ich weiß aber nicht,
ob ihre Fürsprache Erfolg gehabt hat – möchte es aber bei meinem
Gerechtigkeitssinn kaum glauben.
Und nun noch ein letztes Erlebnis auf dem Fest bei
100jährigen Bestehen meiner Anstalt, das bei einer Teilnahm von fast 200
Personen in der Stadthalle gefeiert wurde. Nach Mitternacht kam ein kleiner
Mann von etwa 50 Jahren
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auf mich zu und begrüßte mich mit der Frage, ob ich
mich noch seiner erinnern könne, er sei Fritz Brams und vor etwa 30 Jahren in
der OII mein Schüler gewesen. Nun, ungefähr schwebt er mir noch vor. Er lud
dann mich und auch meine Gattin zu einer Flasche Sekt ein und versprach mir, nun
dann zu verkünden, aus welchem Grunde er sich zu dieser Spende gedrängt fühle.-
Er war, so berichtete er dann der größeren
Sektgesellschaft, ein schlechter Mathematiker gewesen, und es habe die Gefahr
bestanden, daß er in der =II – sofern ich ihn seinen Verdiensten entsprechend
mit 4 (mangelhaft) beurteilt haben würde -, zum zweiten Male sitzen bleiben,
was den erzwungenen Abgang von der Schule zur Folge gehabt haben würde.
Er habe mich daraufhin kurz vor Ostern in einer Pause
gefragt: „Herr Studienrat, können Sie mir in der Mathematik nicht eine 3 geben,
wenn ich eine 4 bekomme, bleibe ich sitzen, muß abgehen und kann demnächst
nicht
Seite 219
Baumeister werden.“ Meine Antwort hat nach seiner
Erzählung gelautet: „Brams, sie bekommen keine 4, sie bekommen erst recht keine
3, sie kriegen eine 5!! – aber so endete sein Bericht – „ich erhielt
dann zu Ostern in meinem Zeugnis in der Mathematik eine 3, wurde versetzt und
stehe nun als wohlbestallter Baumeister vor Ihnen.
Hatte der Mann nicht recht, daß er mich auf Grund
meiner vor 30 Jahren gezeigten Milde zu Sekt einlud? Als die Stimmung noch
gesteigert wurde, erbat er sich, mir aus Dankbarkeit ein eigenes Haus völlig
gratis aufbauen zu wollen, leider aber hatte ich schon damals ein Eigenheim.
Diese kleine Auslese mag zeigen, daß mir meine
Dienstzeit manche fröhliche Erinnerung gegeben hat, an die ich in dieser trüben
Gegenwart gern zurückdenke. Ich Zahl ist erfreulicherweise weit größer als die
trüben sorgen, die natürlich
auch nicht fehlen.
Seite 220
Zu der schönsten Rückschau gehört aber mein Beruf als
Weihnachtsmann, von dem ich vorher schon wiederholt gesprochen habe.
Dieser meiner Stellung im Kolleg des Realgymnasiums =
Tell Kampfschule und des weiteren von dem Verlauf unserer Weihnachtsfeier sei
der nächste Abschnitt gewidmet.
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Bereits als Student und danach auch im hiesigen
Ortsverband hatte ich dem Weihnachtsmann bei unseren Feiern als Knecht Ruprecht
assistiert. Ich hatte davon gelegentlich im Kollegenkreise gesprochen und die
Folge davon war, daß beschlossen wurde, auch bei uns
eine Weihnachtsfeier zu veranstalten, wobei ich gebeten wurde auf Grund meiner
Vorbildung das schwere Amt des Weihnachtsmannes zu übernehmen.
Aus kleinen bescheidenen Anfängen heraus, gewann dann
im Laufe der Jahre unsere Feier immer festere Formen, bis es sich zum Höhepunkt
im gesellschaftlichen Leben des Kollegs entwickelt hat.
Schon im Oktober fing ich mit den Vorbereitungen an.
Nachdem ich im Laufe des Jahres ständig aufgepaßt hatte, ob die Kollegen mir
für meine Kritik Angriffspunkte bieten würden und auch das Zeitgeschehen
daraufhin verfolgte, setzte ich mich in der Lerchenstr. in meinen bequemen
Sessel, steckte mir
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eine gute Cigarre an, leistete mir nun eine Flasche
Burgunder und fing an „zu dichten“, - Bilde mir aber nicht ein, daß ich ein
Dichter war.-
2 Wochen vor unsere Feier tagte dann bei mir die
Festkommission bestehend aus Freund Bruggemann, Gustav Meyer und mir. Es wurde
die Tischordnung festgelegt, wobei die Frage besonders schwierig war, welche
Dame unser Direktor zu Tisch führen sollte.- Diese „Auszeichnung“ mußte genau
der Rangordnung nach verglichen werden. Dann waren die Ehrenplätze zu vergeben,
ein Ehepaar wollte vereint bleiben, ein anderes getrennt, das alles mußte
berücksichtigt werden.- Dann kam der Festabend heran. Kurz vor ½ 8 erschien bei
mir ein Auto, um mich, meine Frau und Tochter Anneliese sowie meine Assistentin
Liesel Meyer zum Hansahaus zu befördern. In einem Koffer wurden mein Kostüm und
die „Geschenke“ transportiert. Im Hansahaus empfing Gustav Meyer, der schon
vorher für
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die Herrichtung des Festraumes und dem Schmuck des
Tannenbaumes gesorgt hatte, die Gäste und machte der .
Ich wurde von den Kollegen, die z.T. ein schlechtes
Gewissen hatten, forschend begrüßt – sie versuchten wohl,
aus meinem Verhalten zu entnehmen, ob ich sie sehr
durch „den Kakao ziehen würde“. Unter den Klängen
einer kleinen Kapelle (3 Mann) wurden die Plätze an
der Festtafel eingenommen, und das Abendessen wurde
gestartet. Vorher war ausgiebig erwogen, ob
Kalbsbraten, Rinderfilet oder Schinken in Burgunder als
Hauptgericht verabreicht werden sollte. Das war eine
wichtige Frage. Am Schluß gab es Eis, und dabei
erschienen dann die Nachzügler, vor allem die
Kollegentöchter und Söhne, um noch an dem Eisgenuß
des weiteren aber an dem folgenden Programmnummern
teilzunehmen. – Bei unsere Jugend wollte man das
Essen sparen.- Ich selbst mußte dann schon, nachdem
ich mir eine gute Cigarre zum Schluß des Soupe`s
angesteckt hatte, - den Saal verlassen, um mich
umzukostümieren.
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Dabei trat dann L. Meyer in Aktion, zog mir die
Lackschuhe aus und die Filzstiefel an, und unsere Anneliese
legte mir die Perücke – bestehend aus einem Drahtbügel,
an dem Flachssträhnen befestigt waren, - aufs Haupt
und schmückte mich mit dem Weihnachtsmannbart. Ich
trug meinen alten braunen Schlafrock, der bereits mit
mehreren Mottenlöchern verziert war, einer wollenen
Pudelmütze und einen großen Schal und sah wohl
wie der richtige Weihnachtsmann aus. Inzwischen war
der Saal verdunkelt, der Tannenbaum angezündet. G. Meyer
spielte auf dem Flügel „O Tannenbaum“, und beim
letzten Verse betrat ich langsam den Festraum, hinterher
zog ich regelmäßig ein kleines Holzpferd, - das dann
ein Kollege als Geschenk erhielt. Das Pferd gehörte unbedingt
zur Tradition.Dann begrüßte ich den Tannenbaum und die
Festveranstaltung und es folgte dann mein
Auftrittsgedicht, von dem ich eben schon gesprochen
habe. Ich hatte es sorgfältig
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auswendig gelernt und bin nie stecken geblieben.
(Hatte aber auch zur Vorsicht eine Souffleurin). In der Nähe von
Platz, auf dem mein Freund Gustav saß, stellte ich
mich auf und verteilte die Gaben mit den „Gedichten“ an die
einzelnen Kollegen. Dabei mußte mir dann Gustav Meyer
von Zeit zu Zeit ein Glas von seinem Moselwein reichen,
damit meine Stimme und Stimmung stets neu belebt
wurde. Meine Gattin verfolgte die „Hilfestellung“ mit einiger
Sorge, fürchtend, daß ich mich dabei übernehmen
könnte. Ich habe aber meinen Auftritt, der über eine Stunde
dauerte, stets wohlbehalten, wenn auch nicht ganz
nüchtern überstanden.
Bevor ich den Saal verließ, wurde mir durch den
Vertrauensmann des Kollegs, auch in
Einkleidung der Dank
für mein Wirken als Weihnachtsmann ausgesprochen und
eine Flasche „Kirsch mit Rum“ überreicht
Nach der noch oft durch Liedervorträge von Frau
Engelmann (unsere Nachbarin in der Brehmstraße)
und andere instrumentale Sololeistungen umrahmten Weihnachtsfeier
kam der Tanz, und damit die Jugend –
ber auch noch das Mittelalter und die Senioren zu
ihrem Recht; er wurde eröffnet mit einer Polonaise.
Ich selbst zog mich, - doch etwas erschöpft, - in
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eine stille Ecke zurück und versuchte, meine
Weihnachtsmannstellung allmählich wieder in eine menschliche
Natur wieder zurückzuwandeln.
Oft etwas schwankend pilgerten wir nach Mitternacht
nach Hause, ich einerseits froh, daß ich meine Aufgabe hinter
mich gebracht hatte, andererseits betrübt, daß die
schöne Feier vorüber, und man wieder ein Jahr älter geworden war.
Meine Weihnachten 1938 am Schluß geäußerte Hoffnung:
„Mög`es geschehen,
daß wir im Jahr uns wieder
sehen.“
ging leider nicht in Erfüllung.
1939 war Krieg, und es gab keine Weihnachtsfeier mehr
in diesem Stile.
Um zu zeigen, welcher Art die Gedichte waren, mit
denen ich die Kollegen beglückte, geb` ich eine kleine
Auswahl – bin mir aber durchaus bewußt, daß unter ihnen
viele völlig minderwertig waren.
Seite 227
1927 bekam mein Kollege Brüggemann, der glücklicher
Vater von 7 Kindern war, von dem der älteste Sohn Dieter
mein Schüler war, einen Weihnachtsmann aus Honigkuchen
mit folgendem Begleitschreiben: (er war der Vorsitzende
des Bundes der Kinderreichen).
Du nimmst dich der Kinder an
Einst so wie der
Weihnachtsmann,
Drum erhältst du auch als
Gabe,
heut`das Beste, was ich habe –
sei diesmal ,
brings nach Hause deinen
Göhren,
daß sie mich mit Lust verzehren.
Sie, diese wäre was
für den kleinen Andreas,
hier das Stück mit der Rosine
ist genügend fürSabine,
Hänschen hat besonderes Glück,
denn er kriegt das Mittelstück.
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Und den Kopf gleich mit der
Mütze,
den bekommt der kleine Fritze.
Lotte – Irmchen – sich beeilen,
Brust und Arme sich zu teilen,
Dieter kriegt, daß keiner fehle,
dann das Beste „meine Seele“.
Besonders leicht zu behandeln war
Gustav Meyer einmal, als ich ihn als meinen Freund genau kannte,
dann aber auch, weil er in seiner
beschwingten Lebensart manche „Angriffsfläche“ bot.
Hier ein Gedicht für ihn, 1938, wobei
er ein Fernrohr erhielt.
Man soll mit seinem Fach befassen sich
nicht nur allein,
vielmehr muß man auch allgemein
gebildet sein.
Nicht nur den Sprachenwidmest du dich
gern,
Du interessierst dich für den Lauf der
Stern,
um zu entfliehen den Sorgen dieser
Welt betrachtest du das Himmelszelt.
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Doch fehlen dir die Instrumente,
die man dabei gebrauchen könnte,
deshalb ist dieses Fernrohr für dich
wichtig,
erst dadurch wirst als Astronom du
tüchtig.
Mit ihm kannst du in die Ferne blicken
und die Distanzen überbrücken.
Das wird gewißlich für dich lohnen,
du kommst dadurch in höhere Regionen.
Du wirst dann die Planeten gern
studieren,
doch laß dich von der Sonne nicht
verführen.
Die Venus ist ein Stern der wandelt,
nicht ratsam ist, daß man mit ihr
anbandelt.
Es ist auch fraglich, ob sich`s lohnt,
man guckt doch nachher in den Mond.
Wenn du nach Hause kommst in dieser
Nacht,
dann gib mal auf den „Augenprüfer“
acht.
Das ist ein Doppelstern im
Himmelswagen,
bekanntlich will sein Name ja besagen
–
Wer diesen Augenstern erkennt mit
bloßen Augen,
wer weiß, daß seine Augen etwas
taugen.
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Mit diesem Fernrohr kannst du
besser sehen, sofern es sollt dabei geschehen,
daß du anstatt der beiden Sterne
dann suchst „viere“,
dann merke dir:
„Das kommt von sieben Biere.“
Das war Gustav Meyer, der oft, wenn er mit mir von
seiner alkolholischen Sitzung des Kollegs nach
Hause wanderte, sich astronomischen Studien hingab und
mich dadurch zu obigem Geschenk angeregt hat.
Zum Zeichen, daß ich mich selbst auch nicht verschont
habe bei meiner Kritik, gebe ich einen Vers wieder,
den meine Gattin erhielt, als in dem einen Jahr statt
der Männer die Damen beschert wurden.
Es erhielt Frau Wolfhagen,
1933,
eine Tüte mit 5
Cigarren und folgendem Begleitschreiben:
Für dich hab ich mir manche
gute Lehre ausgedacht,
das wird gelegentlich zwischen
uns ausgedacht.
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Dagegen, was betrifft den
Ehemann,
verschiedenes man variieren
kann.
Doch komm ich nicht gern mit
ihr in Streit,
drum schweige ich, wenngleich
in letzter Zeit
zu meinem Kummer er dem
Nikotin verfällt,
er raucht zuviel – das hab`
ich leider festgestellt.
Ich muß, das ist es, das dich
sehr betrübt,
daß außer dir er wohl noch `ne
andere Flamme liebt.
Es scheint mir ratsam, daß am
besten man,
den Teufel mit Beetzebub
austreiben kann.
Cigarren drum ich dir heute
überreichen mag,
der Vorrat ist bestimmt für
einen Tag.
Die erste übergibst du
ihm am Morgen,
verschwinden werden dann
sofort die Sorgen.
Die zweite raucht er in
der Pause,
die dritte nachmittags
zu Hause,
die vierte ihm am Abend
schmeckt,
die fünfte – rat ich
dir, ihm gib,
sofern er war besonders lieb.
Seite 232
Ich werde fragen dich in einem
Jahr,
wie es bestellt mit dieser
Liebe war.
Hat er die fünfte dann
nicht oft geraucht,
dann folgt daraus, er hat nicht
viel getaugt.
Sofern du also willst, daß deine Ehe,
ich als der Weihnachtsmann stets
glücklich sehe,
dann mußt du stets an diese fünfte
denken,
doch wenn du willst, kannst du sie mir
auch schenken.
Schade, daß ich meiner Frau keine Cigaren
mehr schenken kann, ich könnte sie wahrlich gut
gebrauchen bei meiner Zuteilung von 24
Cigarillos für 6 Wochen.
Ich glaube, meine Wirkungszeit an der
Tell Kampfschule in Ernst und Scherz ausführlich
geschildert zu haben und muß jetzt
noch über mein Nebenamt als Ausbilder der weiblichen
Jugend kurz sprechen.
Ferner muß ich noch meine Tätigkeit
als „Redner“ im Planetarium Revue passieren lassen.
Seite 233
Mein Dienst an Mädchenschulen und am Planetarium
Bereits um das Jahr 1912 herum bekam
ich durch Vermittlung von meinem Kollegen Erdmann den
ehrenvollen Ruf an der Privat
Mädchenschule von Fräulein Breckdecke den Mathematikunterricht in
der obersten Klasse zu übernehmen.
Dieser Nebenverdienst war mir damals
sehr willkommen, wenngleich mich dieses mein Amt wenig
befriedigte. Diese Schule wurde in der
Hauptsache besucht von solchen Schülerinnen, die auf anderen
Anstalten keinen Erfolg hatten und
wissenschaftlich nicht interessiert waren, besonders
nicht für mathematische Probleme.
Ich hatte kein dankbares Publikum und
wenig Erfolg, war deshalb auch nicht betrübt, als nach kurzer Zeit
die Schule einging, und ich meine
Stellung verlor.
Von der Erziehung und Belehrung der
weiblichen Jugend hatte ich fürs erste genug.
Erst etwa 15 Jahre später, als ich
meine Nichte Ilse Winkelmann (siehe oben), die bei uns in Pension gegeben
werden sollte, um das Privatlyzeum von
Geschwister Sudhaus (?) zu besuchen,
Seite 234
bei der Leiterin dieser Anstalt anmeldete, trat diese
mit der Frage an mich heran, ob ich bereit sein würde - da
ich ihr vermutlich eingefallen war - mich noch einmal auf dem Gebiet der
Töchterschulen zu betätigen.
Nun hatte diese Anstalt einen sehr guten Ruf, ein
ausgezeichnetes Schülermaterial, außerdem legte ich auf
Nebeneinnahmen wert, also griff ich zu und habe das
nie bereut. Sicherlich wich der Unterricht auch
in seiner äußeren Gestaltung wesentlich von dem an der
Knabenschule ab. Die jungen „Damen“ mußten
anders behandelt werden wie ihre männlichen
Altersgruppen. Sie waren im allgemeinen , zwar nicht
offen rebellisch, aber doch bisweilen versteckt
widerspenstig. Doch ich war ja schon von meinem Vater - der ja
auch zuletzt eine Töchterschule geleitet hatte - auf die weibliche Wesensart vorbereitet,
hatte ja auch
selbst drei leibliche Töchter und habe mich deshalb
leicht an das neue Milieu gewöhnt. Ich glaube auch Erfolg
gehabt zu haben,
Seite 235
jedenfalls zeigtenb die mathematische Aufgaben der
Abschlußprüfung ein erfreuliches Ergebnis, was auch von
der
Schulrätin Frau Dr. Warmle anerkannt wurde.
Kontakt mit meinen früheren habe ich kaum noch,
bisweilen begegnet mir einmal eine strahlende Mutter und
begrüßt mich als ihren alten Lehrer, doch das sind
Ausnahmen.
Der Unterricht an der Sudhaus Schule lag natürlich
auch vormittags und mußte mit meinem Hauptamt verzahnt
werden. In meinen Zwischenstunden konnte ich also
nicht im Lehrerzimmer wie früher bei einer kleinen Cigarre
mich ausruhen und für die nächsten Stunden
vorbereiten, sondern mußte schleunigst zum Warmbuchen , -
wo die Schule sich befand -, herübersausen und abends
wieder zurück. Ich kam also kaum zur Besinnung; habe aber
diese Belastung gern auf mich genommen, zumal meine
Arbeit gut honoriert wurde (M 7 die Stunde).
In den gleichen Jahren – also von 28-31 (31 mußte das
Privatlyzeum einen eigenen
Seite 236
Mathematiker einstellen laut Verfügung der Behörde,
und ich wurde dadurch überflüssig) war außerdem auch
noch als Vortragender im hiesigen Planetarium
im Anzeiger Hochhaus angestellt.
In diesem Planetarium wurden dreimal täglich (um 3 , 6
und 8 ) der Sternenhimmel gegen ein Entre für M 1,-
dem staunenden Publikum vorgeführt. Dazu waren mehrere
Studienräte, die etwas Ahnung von Astronomie
hatten – ich glaube, es waren 6 verpflichtet, die bei
der Drehung des Sternenhimmels, die von einem Mechaniker
Killmeyer an einem sehr komplizierten Apparat geleitet
wurde, die nötigen Erklärungen zu geben hatten.
Dazu war ich also mit ausersehen und mußte etwa 12 Mal
im Monat gegen ein Honorar von M 10,- etwa
45 Minuten lang von meinem Podium aus, stehend hinter
dem versteckt angebrachten Mechaniker, meinen Vortrag
halten. Bei meinem Probevertrag, der nur vor dem
Leiter des Unternehmens und zu meinem Schutz mitgenommenen
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Gattin stattfand, erlitt ich allerdings eine ziemliche
Pleite. Ich hatte mich natürlich vorbereitet, so etwa wie für meine
astronomische Belehrung der Primaner fand aber damit
keinen Beifall. Es wurde zwar von den Herren anerkannt,
daß ich eine sehr schöne, laute und tragende Stimme
hatte, aber meine Ausführungen wären zu wissenschaftlich.
Das Publikum, so meinte er, sollte nur sehen und
nichts lernen. Er mochte Recht haben, jedenfalls mußte ich mein
Niveau senken.
Allerdings habe ich dann doch, sofern ich feststellte,
daß unter meinen Zuhörern eine große Anzahl „gebildete
Personen“ waren, aus bes. Schulklassen, die auch von
außerhalb nach Hannover kamen, um dieses Sternenwunder
kennenzulernen, eine Extraeinlage hinzugefügt. Das war
aber sicher nicht angebracht, als bei einem großen Sängerfest
zu einer Extravorstellung am Sonntag Vormittag etwa
200 Sangesbrüder im Planetarium erschienen, um anstelle
eines Frühschoppens etwas für ihre Bildung zu tun.
Sei es, daß sie am Abend vorher zu viel getrunken
hatten, sei es, daß
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ihr Magen auch sonst nicht in Ordnung war, jedenfalls
konnte eine große Zahl von ihnen das Drehen des Himmels
nicht vertragen. Ihnen wurde schlecht, sie schrien
nach Luft, ich mußte meinen Vortrag abbrechen, und die
Patienten suchten das Freie bzw. die Toiletten auf. Es
wäre ihnen wahrscheinlich noch schlechter geworden, wenn
ich ihnen astronomische Grundbegriffe vorgesetzt
hätte.
Das war also
meine Tätigkeit an den Mädchenschulen und am Planetarium, und damit habe
ich ja wohl meine
berufliche Seite erschöpfend behandelt.
Jetzt komme ich zu der schwersten Aufgabe, nämlich der
Schilderung der „Kriegszeit“ und der auf sie folgenden
„Friedensjahre“ bis zur Gegenwart.
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Erleben im Kriege 1939-1945
Der Ausbruch des II.Weltkrieges im Sept. 39 hatte für
uns zunächst keine schweren Folgen. Abgesehen von unserem
Schwiegersohn Adolf Niemeyer, der bei der
Fliegertruppe – und zwar zunächst in der Heimat – seinen Dienst antreten
mußte, hatten wir ja keinen Krieger in unserer engen
Familie. Das Einzige war, daß die „Verdunkelung“ in Aktion trat,
da man mit
rechnen mußte. Aber in der ersten Zeit hattren wir kaum darunter zu
leiden, immerhin standen wir
immer bei der Angst vor Fliegeralarm unter einer
gewissen Spannung. Man konnte sich nicht mehr frei bewegen
wie früher und darunter litt auch das
gesellschaftliche und kulturelle Leben ein wenig.
Wir waren in dieser Zeit – auch schon einige Jahre
vorher – besonders eng befreundet mit meinem alten Kollegen –
einem pensionierten Oberschullehrer Wilhelm Rehbock
und seiner Frau Lotte und tagten mit ihnen und Freund
Andreesen regelmäßig abwechselnd in unseren Wohnungen
bei einem soliden Doppelkopf.
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Diese schöne Einrichtung blieb bestehen, wenngleich
wir bei den immer etwas
besorgt Luftschutz-
sirenen uns umhörten. Das Zusammensein mit Ehepaar
Rehbock hat uns viele schöne Stunden beschert, die ich
gegenwärtig – nachdem es nach Verlust der Wohnung in
Hannover auf das Land zu seinen Kindern gezoen ist – sehr
vermisse. Meine Gedanken sind oft bei den wahrhaft
treuen Freunden.
Neben diesem Doppelkopf besuchten wir aber auch noch –
wenn auch seltener – Theater und Konzerte.
Auch meine Geburtstagsfeier – es war der 60. im
September 1940 wurde noch bei uns in der Lerchenstr. im Kreise
mehrerer befreundeter Familien abgehalten. Aber als
der letzte Kuchen gereicht werden sollte, und ich meine
Blitzlichtaufnahmen machen wollte, kam Alarm und die
Gäste mußten uns fluchtartig verlassen.
Das war das erste Kriegserlebnis.
Andererseits standen ja die ersten Jahre ganz unter
dem Zeichen unserer Erfolge in Polen und im Westen. Fast
täglich gab es Sondermeldungen, die
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die Stimmung belebten. Doch allmählich ließen diese
Siegesbotschaften nach, und die Luftangriffe nahmen zu.
Unsere Bewegungsfreiheit wurde weiter eingeschränkt,
der Luftschutz verstärkt, und ich wurde zum
„Luftschutzwart“ eines Teils der Lerchenstraße ernannt,
mußte an Versammlungen teilnehmen, die
Luftschutzkeller kontrollieren, Beiträge einsammeln,
auf die Verdunkelung der mir unterstellten Häuser achten,
eine wenig befriedigende Tätigkeit, die ja auch, wie
sich später herausgestellt hat, uns nicht hat retten können.
Als einziges gesellschaftliches Ereignis in diesen
Jahren kann ich die Sonntagsbesuche unserer Tochter Grete –
deren Mann abwesend war – mit ihren beiden, später 3
Trabanten bei uns bezeichnen und meine Radfahrten
nach Kirchrode, um sie in ihrer Einsamkeit zu trösten.
Unser Sohn Ernst wurde zu den Landesschützen
eingezogen und mußte dann zunächst an der Westgrenze als
Zollwächter Dienst tun.
Auch Fritz Vogel (siehe Anneliese) mußte kurz nach der
Hochzeit, die aber noch einigermaßen friedensmäßig
1930 in unserem Hause
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gefeiert wurde, Soldat werden und unsere Anneliese
verließ uns häufig, um ihren jungen Ehemann in seinen
verschiedenen Quartieren – auch er war wie Adolf
Niemeyer im Lande geblieben – zu besuchen.
Größere Sorge hatte also bis dahin das Völkerringen
für uns nicht zur folge gehabt. Das blieb so bis Februar 42,
wo auch Hannover der erste größere Luftangriff
erfolgte.
Ehepaar Vogel war im Theater, meine Gattin und ich
allein in unserem Schutzraum. Ich war dort ermüdet
eingeschlafen, dann aber durch ein unheimliches Sausen
aufgeschreckt, dem ein dumpfer Einschlag folgte.
Aber wir waren verschont geblieben, vielmehr glaubten,
daß die Gefahr bei uns vorübergegangen sei, bis an dem
nächsten Morgen Fritz Vogel als Fliegersachverständiger
feststellte, daß in unserem Garten ein „Blindgänger
niedergegangen war.- Daher das Sausen.
Die Polizei wurde benachricht wir und auch unsere
Nachbarn mußten das Haus räumen und zogen zu unserem
Ernst bis die Gefahr beseitigt war.
Der Versuch, den Blindgänger zu bergen
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oder zu „entschärfen“ hatte keinen Erfolg, er mußte
gesprengt werden. Die Folge war, daß die Rückwand
unseres Hauses, die Treppen zum Keller zerstört wurden
und auch sonst mehrere größere Risse entstanden.
Der Garten war natürlich dabei besonders stark
mitgenommen.
Doch die Schäden wurden auf Kosten des Reiches wieder
beseitigt, was also M 5000 ausmachte. Nach
mehreren unruhigen Wochen, für meine Frau und Anneliese arbeitsreich,
war unser Haus in neuem Glanze
entstanden, auch der Garten noch schöner als bisher,
von einem Gärtner wieder angelegt.
Wir haben dann auch bald diesen Kummer wieder
vergessen und freuten uns, daß die Sache für uns
noch so glimpflich abgelaufen war.
Leider war unsere Freude nur von kurzer Dauer, denn
nachdem im Juli 43 bereits ein schwerer Angriff auf Ha.
erfolgt war, bei dem die besonders stark gelitten
hatte, kam der Unglückstag, der 8./9. Oktober 1943.
Wir hatten den Abend mit unserem Nachbarn Richter,
dessen Frau kurz vorher zu ihrer verheirateten Tochter,
die ihr erstes Kind erwartete, gereist war
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in unserer Wohnung verbracht und waren gegen 11h zur
Ruhe gegangen. Wir hatten noch nicht geschlafen,
als die Sirenen ertönten. Das war zuletzt häufiger der
Fall gewesen, ohne daß die Flieger Ha. heimgesucht hätten.
Glücklicherweise waren wir gegen diesen Warnruf nicht
abgestumpft und begaben uns mit unserer Anneliese
und ihrem kleinen, am 26. Mai 1940 geborenen Matthias in
den Luftschutzkeller von Nachbar Richter. Er war
kurzum als Musterkeller besonders stark (Wandstärke 80
cm) ausgebaut und stand mit unserem Hause durch
eine Tür in der Waschküche in Verbindung. Wegen seiner
Sicherheit wurde er von unserer Nachbarin Frau
Engelmann und ihrer 18jährigen Tochter aufgesucht.
Wir merkten sehr bald,daß die Sache diesmal
ernstgemeint war und kaum einer von uns wagte sich aus dem
Schutzraum heraus, was wir sonst wohl zu tun pflegten,
um „Ausschau“ zu halten.
Das war unser Glück, denn plötzlich hörten wir ein
gewaltiges Brausen, der Boden und die Wände zitterten, man
spürte einen starken
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Luftzug und hörte einen starken Einschlag. Das Licht
erlosch und wir mußten zu unserem Entsetzen wahrnnehmen,
daß unter furchtbarem Krach, Prasseln von Steinen
unser Haus zusammenfiel. Dieses Geräusch habe ich noch
heute oft in den Ohren.
Der starke Staub zwang uns, den Raum zu verlassen,
wenngleich die Flugzeuge noch immer über unsere Gegend
kreisten, und die Gefahr nicht vorüber war. Unter dem
Licht meiner Taschenlampe versuchten wir ins Freie
zu gelangen und mußten nun zu unserem Schrecken
feststellen, daß die Tür zu unserer Waschküche durch
Trümmer versperrt und ebenfalls die Ausgänge von dem
Richter`schen Keller sämtlich verschüttet waren.
Ratlos irrten wir umher, ich versuchte aus dem Schutt
herauskriechend eine Öffnung am oberen Rand der
Kellermauer zu erreichen, ich rutschte ab, es war
vergeblich.
Unsere Anneliese mit dem kleinen Matthias auf dem Arm
war auch am Verzweifeln, wir alle glaubten, daß wir
verloren wären, zumal dann noch eine Brandbombe auf
unsere Trümmer fiel, die aber
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Gottseidank nicht zündete. Ich hatte bei dem Angriff
glücklicherweise einige Cognacs getrunken. Auch meine
beruhigende Cigarre war nicht ausgegangen, sonst hätte
ich vielleicht die Besinnung verloren. So behielt ich einen
einigermaßen klaren Koprf und entdeckte nach
minutenlangem Suchen – es mögen auch nurSekunden gewesen
sein – daß sich an einer Kellerwand oben eine Öfnung
gebildet hatte – eine andere als die vorher schon erwähnte.
Mit Hilfe eines Stuhles konnte ich hinausklettern und
dann meine Angehörigen hinausziehen.
Da standen wir nun gegen 1h auf den Trümmern unseres
schönen Hauses – überall standen die Häuser in Flammen.
Es war infolgedessen taghell, ein unheimlicher
Feuersturm sauste (die feindlichen Flugzeuge waren glücklicher-
weise abgeflogen) und doch mußten wir dankbar sein,
daß wir mit dem Leben davongekommen waren, ja nicht
einmal Verletzungen erlitten hatten. Dem kleinen
Matthias insbesondere war kein Leid geschehen.
Wir rannten dann auf die
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Lerchenstraße, um dort einen Unterschlupf zu finden.
Aber da noch mehrere Häuser, wenn
auch nur leicht, beschädigt waren und die sonst so freundlichen
Nachbarn Schneider durch die ausgestandene
Angstsich meistens zurückzogen, dauerte es eine ganze
Weile, bis wir einen Raum entdeckten, wor wir unterkriechen
konnten. Infolge der Erchöpfung haben wir sogar etwas
geschlafen.
Am nächsten Morgen gingen wir zu unserem Hause, um
eventuell noch etwas zu bergen. Aber es gab nichts zu retten,
alles vernichtet.
Durch einen Nachbarsohn wurden aus den Trümmern noch
einige Anzüge, Mäntel und Kleider geborgen,
aus dem Luftschutzraum konnten wir unsere Koffer, in
denen ein Teil unserer Garderobe und Wäsche aufbewahrt
war, sowie die wichtigsten Akten – auch meine Photographiealben – bergen, sowie den
Kinderwagen – das war alles.
Das Haus bis auf einen Teil des Kellers vernichtet,
alles Hab und Gut, die ganze Tradition unseres Familienlebens,
meine Bücher insbes. meine wertvolle Sammlung von
mathemat. Aufgaben – meine Lebensarbeit in 40 Jahren –
verloren.
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Daß man dabei nicht den Verstand verloren hat, nimmt mich
heute noch Wunder. Später hat dann Fritz Vogel
aus meinem Schreibtisch und Bücherschrank – begraben
unter dem Schutt und zerstört – noch einige für mich
wichtige Erinnerungsstücke herausgeholt und aus
unserem Vorratskeller Weckgläser, Obst und einige Flaschen
Wein.
Nachdem wir einige Tage bei unserer Tochter in
Kirchrode verbracht haben – unser Ernst war aus dem Lager an
Rheuma erkrankt – auf unsere telegr. Nachricht, daß
unser Heim vernichtet aber wir selbst unversehr seien, nach
Ha. geeilt, ebenso Fritz Vogel und Adolf Niemeyer –
siedelten wir zu den Schwiegereltern unserer Anneliese nach
Alferde über, Familie Niemeyer nach Alfeld. Die 1 ¼
stündige Wanderung von Kirchrode nach Wiefel (Die Züge
fahren in den Tagen nicht bis Ha. durch) mit Kinderwagen,
Fahrrad und viel Gepäck wird mir auch stets in
Erinnerung bleiben. In W. unendlich viele Menschen,
die auch aus Ha. fliehen wollten,
Wir fanden
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aber noch Platz in dem Zuge, der Kinderwagen wurde in
einem Bremserhäuschen verstaut. An die Fahrt schloß sich
ein Weg von etwa 1 Stunde abends gegen 7h nach Alfeld.
Dort wurden wir von denEltern freundlich aufgenommen
und mit Unterstützung der NSV bewirtet. Nach den
Aufregungen der letzten Tage war das alarmlose oder besser
nicht bedrohte Dorf für uns ein wahres Paradies. Aber
wir konnten und sollten dort in den immerhin engen
Verhältnissen nicht länger bleiben und begaben uns von
dort nach Einbeck. „Wir“, das
heißt meine Gattin und ich.
Meine in Einbeck wohnende Schwester hatte sich dankenswerterweise
erboten, uns arme Flüchtlinge in ihrem
Haus aufzunehmen.
Dort haben wir dann eine geruhsame Zeit verlebt – ich
hatte 6 Wochen Urlaub erhalten, um mich von meinem
„Schreck“ zu erholen und sind von ihr liebevoll
betreut worden. Auch hat sie uns mit allerlei Kleidungsstücken
beschenkt – für diese ihre Hilfeleistung gebührt ihr
unser herzlichster Dank.
In Einbeck fanden wir dann noch eine mildtätige Seele,
die uns sehr geholfen hat, unsere Nichte (keine Blutsverwandte)
H. Wittram.
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Von ihr stammen eine Vielzahl von „Gegenständen“, die
für uns sehr wertvoll waren, z.B. ein
Regenschirm von
dem in meiner Jugendzeit erwähnten Onkel Ernst.
Aber auch ihre seelische uns gewährte Hilfestellung
und die später unseren Kindern stets gezeigte Freundlickeit
sichern ihr bei uns ein dankbares Gedenken. Wenngleich
wir über den Egoismus einiger Mitmenschen enttäuscht
waren, die nach den Grundsätzen „wer hat, der hat“
handelten und für unsere Not kein Verständnis zeigten,
haben wir in Einbeck eine gütige Seele gefunden, vor allem unsere Tochter Anneliese, als sie
nach einigen
Wochen auch nach E. übersiedelte, da die engen
Verhältnisse in Alferde und die dortige Einamkeit sie niederdrückten.
Es ist eine Bekannte meiner Schwester, Frau S.
Rothermund. Bei ihr und ihrer Schwester, Frau Krama hat unsere Anne
mit ihrem ½ jährigen Matthias auf die Dauer von 1 ½
Jahren in jeder Weise ein ideales Heim gefunden, in dem auch
wir Eltern bei unseren späteren Besuchen uns sehr
wohlgefühlt haben.
Die beiden Damen haben damit ein großes Opfer
gebracht, vorallem
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wegen der nicht zu vermeidenden Unruhe, die durch
unseren kleinen Stiefsohn in ihr sonst stillesHaus gebracht
wurde.
Ende November mußte ich wieder zurück nach Hannover,
mein Urlaub war zu Ende, und der Schulbetrieb kam
langsam wieder in Gang.
Unsere Schule, an der ich 40 Jahre gewirkt hatte, war
am 9. Oktober auch völlig zerstört und zusammen in einem
anderen Gebäude untergebracht. In der Anstalt selbst hatte
ich aber an 3 Tagen Unterricht zu erteilen, am Sonnabend
hatte ich keinen Dienst und zweimal wöchentlich mußte
ich in die Flakstellung hinaus, um dort unsere älteren Schüler,
die als Flakschüler eingezogen waren, zu belehren.
Von dieser Tätigkeit muß ich jetzt ausführlicher
sprechen, sie bildet das trübste Kapitel in meiner Amtsperiode. Der
Anmarschweg war schwierig, die Straßenbahn- und und
Omnibusverbindung oft unterbrochen, sodaß ich ganz
zu Fuß hinauspilgern mußte, die Unterbringung der
Flakhelfer überaus dürftig, im Winter oft ohne Heizung,
oder verqualmte Räume
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keine richtige Sitzgelegenheit für den Lehrer, als
Wandtafel ein schwarz angemaltes Kistenbrett, kaum Schwamm
und Kreise. Die Schüler übermüdet, selbst die guten
ohne Interesse. Oft Luftwarnungen oder Alarm, die auch
dann mich aus meinen Lehrgebieten herausgerissen.
Verschiedene Male mußte ich auch einen Angriff auf
Hannover oder seine Nachbargebiete vergehen lassen, einmal
bin ich in der Stellung in dem angeblich sicheren
Befehlsstand geblieben, meistens zog ich mich in das benachbarte
Dorf zurück und suchte dort in einem Laufgraben oder
bei den Bauern Schutz. Bei diesen Flaktouren stand mir
mein Freund Gustav Meyer, der auch in der Gruppe zu
unterrichten hatte, treu zur Seite. Wir beide sind oft durch
die Gegend gezogen.
Kam ich angespannt nach Hause, gab es wieder Alarm
,- oft mußte ich unterwegs in einen
Bunker flüchten –
daß bei dieser Lebensführung ich mich in Hannover
nicht wohlfühlte, läßt sich denken. Es kam hinzu, daß
meine Frau auch dauernd in Angst lebte, und daher ist
es wohl verständlich, daß wir uns
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aus der gefährdeten Großstadt fortsehnten. Dafür
verließen wir fast regelmäßig am Freitag Abend mit dem Zuge
Hannover, um bis Montag früh in ruhige Gegenden zu
flüchten.
Meistens war unser Ziel Einbeck, wo unsere Tochter und
auch unsere Schwiegertochter mit dem kleinen Michael
weilten, und wo ich bei meiner Schwester auf der
Chaiselongue ein Quartier fand. Meine Gattin schlief bei unserer
Anna. Jedesmal holte uns Anna, und oft auch die Frau
von unserem Ernst am Bahnhof ab, glücklich, daß wir
noch gesund zu ihnen zurückkehren konnten.
Zwischendurch fuhren wir auch nach Alferde zu den
Eltern unseres Schwiegersohnes, aber auch dort verfolgte uns
der Alarm und trieb uns in den Schutzraum unter dem
Kirchturm. Ferner besuchten wir unsere Tochter Grete und
ihre Kinder, die in Alfeld bei ihrer Schwiegermutter
wohnten. Dort gab es auch bisweilen Alarm der uns aber
ebensowenig wie in Einbeck gestört hat.
Am Montag mußte ich dann schweren Herzens wieder an
meine Arbeitsstätte zurück.
Diese Fahrten waren aber für mich und meine Frau wahrlich keine reine Freude,
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die Züge immer überfüllt, sodaß wir mehrere Male nicht
mitkamen, kalt, keine Fenster, große Verspätungen und was
dergleichen an Begleiterscheinigungen mehr waren.
Dabei nahm die Gefahr des Reisens immer zu.
Einmal erschien bei Garstedt ein Tieffliegerangriff
auf unseren Zug geplant zu sein, die Reisenden stürzten ins Freie,
warfen ihr Gepäck sinnlos aus dem Fenster – ich aber
blieb ganz ruhig und steckte mir die berühmte
kleine Cigarre
an. Von den ewigen Gefahren war ich allmählich
abgestumpft. Eine Fahrt im Januar 44 ist mir noch im Gedächtnis.
Auf die Station war am Tage unserer Reise nach
Einbeck ein schwerer Fliegerangriff ausgeführt, die Gleise
zerstört und der Verkehr lahmgelegt. Wir aber hatten
davon noch nichts gehört und waren wenig erfreut, als wir in
den
Zug verlassen mußten und aufgefordert wurden, bis zur nächsten Bahnstelle 4 km
zu Fuß zu gehen.
Wie immer hatten wir viel Gepäck – Koffer, Rucksack
und mehrere Taschen. Der Weg führte durch Bombentrichter
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und wir waren daran im Schlamm und unter unserer Last
zu versinken. Völlig erschöpft an der Bahnstelle angekommen,
mußten wir den hohen Bahndamm erklimmen und warteten
dann frierend über eine Stunde lang auf den Hilfszug,
der uns weiter befördern sollte. Da außerdem, um die
Stimmung zu heben, wieder Flugalarm gegeben wurde, waren
wir wie erlöst, als endlich der Hilfszug in Sicht kam.
Wie wir bei dem fürchterlichen Andrang hineingekommen
sind, ist mir heute noch ein Rätsel, jedenfalls landeten wir
mit 2stündiger Verspätung heil in Einbeck und wurden
von unserer Anne mit ganz besonderer Freude begrüßt. In den
2 Tagen, die wir dort verbringen konnten, haben wir
uns dann wieder von dieser großen Strapaze erholt.
Ich hatte in der Aufregung meinen Regenschirm
verloren, erhielt aber von Hermine Wittsam den zweiten von Onkel
Ernst als Ersatz.
Bei unserer Rückkehr nach Hannover erwartete
uns eine neue Überraschung. Beim Betreten unserer Wohnung
fanden wir in ihr unsere Tochter Lore mit ihren
beiden Kindern, ihrem Gatten Alfred und noch einen Freund von ihm
vor.
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Sie waren aus Neiße (Schlesien), als Ende Januar 45
die Russen sich näherten und wollten bei uns Zuflucht suchen.
Unsere Wohnung war nicht geheizt, kein Licht, kein
Wasser, der kleine Andreas, damals 2 Jahre alt, erkrankt
auf der furchtbaren Fahrt von Schlesien nach hier, mit
erfrorenen Backen – ein Bild des Jammers.
Die Zuflucht bei uns war aber doch sehr illusorisch,
wir hatten täglich Alarm, und so mußten dann unsere Flüchtlinge,
trotz ihrer Abspannung, mit in unseren Keller, später
in denSchutzraum der hiesigen Schule. Der Weg dorthin – etwa
5 Minuten – mit den Kindern, der Aufenthalt in dem
Schulkeller war ja auf die Dauer zermürbend, und wir mußten
schweren Herzens, nachdem unser Schwiegersohn uns aus
dienstlichen Gründen nach einigen Tagen wieder verlassen
hatte, unsere Lore bitten, uns mit ihren Kindern
wieder zu verlassen.
Lore war das Patenkind von meiner Schwester Marie, und
diese erbot sich, unsere Tochter mit ihrenKindern bei sich
aufzunehmen. Also Weitertransport nach Einbeck.
Dort hat dann Familie Thoma bis zum August 1946, als
sie nach Königsstein übersiedelten,
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gewohnt; zuerst Lore mit den Kindern, dann auch ihr
Mann (nach dem Zusammenbruch) und schließlich auch dessen
Bruder, der keine Heimat mehr hatte.
Daß bei dieser starken Belagerung meine Schwester
allerlei Unruhe hat über sich ergehen lassen müssen und daß wir
ihr dafür sehr dankbar sind, bedarf ja wohl kaum der
Erwähnung.
Inzwischen aber war mein Herz durch die immer häufiger
werdenden Angriffe – wir mußten oft an einem Tage
dreimal in die angeblich schutzbietende Schule –
derartig zermürbt, daß ich, nachdem ein
Arzt das festgestellte und
bescheinigt hatte, vor dem Zusammenklappen war und um
einen Urlaub von 8 Wochen
. Er wurde
genehmigt, und es ging wieder nach Einbeck.
Dort habe ich dann die Wochen bis zum Abschluß des
Dramas verbracht.
Mein Kollege Oberstudienrat Dr. Erche – nach dem Tode
meines Direktors mein Vorgesetzter, als der er sich aber
nie mir gegenüber gezeigt hat, war ebenfalls mit dem
Herzen zusammengebrochen und nach Einbeck, der Heimat
seiner Gattin, geflüchtet. Mit ihm zusammen habe ich
dann dort oft die Tage verbracht, wir sind gemeinsam
gewandert und
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haben besonders auf meinem geliebten „Hasenjäger“
(siehe Jugendzeit) Kaffee getrunken. Er ist mir in dieser Zeit
ein lieber Kamerad geworden. Durch den Rundfunkapparat
auf dem Hasenjäger hörten wir dann, wie das
Verhängnis immer näher rückte – wie friedlich war
dagegen in früheren Jahren dort die Atmosphäre – bis dann
der Feind vor den Toren Einbecks stand.
Es waren auf mehreren Straßen Sperren gebaut, die
Brücken untermint, man glaubte vielleicht die Truppen
dadurch aufhalten zu können, aber nachdem die
Artellerie von der „ „ aus
während einiger Stunden,
aber in ziemlichen großen Abständen einige Schrapnells
in meine Vaterstadt gefeuert hatte, hat man wohl den
Widerstand aufgegen -
jedenfalls zogen am nächsten Morgen die amerikanischen Panzer in Einbeck
ein,
begrüßt von weißen Tüchern, die auf dem Kirchturm, dem
Rathaus und meisten Privathäusern wehten.
Den Angriff haben wir mit den Kindern in dem Keller
bei über uns ergehen lassen, ich
habe mich aber nicht
sehr dabei aufgeregt, ich war ja
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auch größeren Kummer gewöhnt.
Auf dem Einbecker Marktplatz wurden die Waffen
abgeliefert, überall sah man feindliche Truppen und Fahrzeuge,
auf dem Weg zum „Hasenjäger“mußte ich einem Posten
meinen „Ausweis“ vorzeigen, um 7h war Sperrstunde, das
heißt, man durfte danach seine Wohnung nicht
verlassen, es wurden Häuser beschlagnahmt, wir mußten bei meiner
Schwester, auch Anneliese bei für einige Tage räumen, hatten
aber doch das Gefühl, daß wir in dieser
kritischen Zeit in Einbeck besser untergebracht waren
als in Hannover. Aber mein Urlaub war zu Ende, ich mußte
zurück. Den Willen hatte ich wohl, aber wie sollte ich
ihn ausführen. Es gab keine Verbindungsmöglichkeit. Der
Zugverkehr ruhte völlig, auch der Postverkehr – ich
war ohne Nachricht von meiner Arbeitsstätte und konnte mich
hier wegen meines Fortbleibens auch nicht
entschuldigen.
Mein Gewissen schlug immer stärker, hinzukam die Sorge
um unsere Wohnung in Hannover – sodaß wir, insbes.
nachdem wir unserer Grete, die mit dem Rade von Alfeld
nach Hannover und danach von Alfeld nach Einbeck
gefahren war, erfuhren, daß unser oder
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besser ihr Heim in Kirchrode zeitweise von
amerikanischen Truppen belegt gewesen war, den festen Vorsatz faßten,
nun Mitte Mai
nach einer Transportmöglichkeit energischer als bisher Ausschau zu
halten.
Ich besorgte mir einen „Passierschein“, der dauerte
wieder einige Tage und fand dann nach vielen vergeblichen
Anfragen und Bitten einen Fuhrunternehmer, der uns
zusammen mit 3 anderen beförderte.
Auf einem offenen Lastauto bei Kälte und Regen,
hockend auf dem Fußboden, mit Decken umhüllt, von Koffern
und Rücksäcken
umgeben, hielten wir in Hannover unseren Einzug, betraten mit einiger
Spannung unsere Wohnung
und sahen uns folgendem Leid gegenüber.
Die Wohnung war nochmals belegt worden, am Tage vorher
waren die Truppen wieder abgezogen, in den Zimmern
ein wüstes Durcheinander, die Betten zerwühlt und
beschmutzt, in dem Keller Weckgläser,
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mehrere Flaschen Wein, die ich bis dahin gerettet
hatte, geraubt, meine schwere Kassette im Schrank im Keller erbrochen,
aus dem zwei goldene und ein wertvoller Schmuck
entwendet – glücklicherweise meine in ihm aufbewahrten
Scheckkassenbücher und wichtige Akten scheinbar aus
Mangel an Interresse belassen – sämtliche Schlösser in den
Schränken mutwillig zerstört, Lampen unbrauchbar
gemacht und der Hauptverlust: das kostbare Radio von
Niemeyer mitgenommen.
Sogar der Kinderwagen war in die Hände des Feindes
gefallen; ihn haben wir später aus der Wohnung eines jungen
Mädchens – vermutlich des vorübergehenden Schatzes
eines Soldaten, der ihr vorsorglich dieses nützliche verehrt
hatte, wieder holen zu können. Alles andere war und
blieb verloren.
Das war unser Empfang in Hannover.
Zu aller Enttäuschung kam noch hinzu, daß man uns ein
Zimmer fortnehmen und eine Frau und Kind bei uns
einquartieren sollte. Es ist ein großes Verdienst
meiner Gattin, daß es ihr gelungen ist, zu erwähnen, daß unsere Tochter
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Grete mit ihren Kindern die Zuzugsgenehmigung für
Hannover erhielt. Das war damals außerordentlich schwierig.
Aber wie gesagt, es gelang nach vielen schwierigen
Wegen.
Nach einigen Wochen bezog Familie Niemeyer mit
Ausnahme des Hausherrn, über dessen Schicksal wir damals noch
völlig im Unklaren waren, unsere oder besser ihre
Wohnung. Wir verloren damit das bisherige alleinige Verfügungsrecht,
aber waren glücklich über das Zusammensein mit unserer
Tochter und den 3 Großkindern.
Ich meldete mich zum Dienstantritt, mußte den
berühmten Fragebogen ausfüllen, und wartete ab, was man mit mir
vorhatte. Der Schulbetrieb ruhte noch völlig, die
Schüler waren zum Teil dadurch in Dienst gestellt, daß sie auf den
Friedhöfen oder in Gärtnereien arbeiten mußten. Dabei
wurden sie von uns Lehrern beaufsichtig und es begann
nun meine Tätigkeit als Obergärtner.
Die Schüler haben sich nicht totgequält und auch mein
Dienst war nicht gar zu sauer. Auf meinem Fahrrad fuhr
ich von einer Arbeits-
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stätte zur anderen, stellte fest, ob die Schüler
erschienen waren, legte auch mitunter mal Hand an beim Hüten und
Graben, besonders später beim Obtsabnehmen und habe
jedenfalls mein Gehalt leicht verdient.
Unter den Arbeitsplätzen ist mir der große Garten von
einer Frau Haupt am Bunteweg in besonders angenehmer
Erinnerung, da ich von der Besitzerin immer sehr
freundlich begrüßt wurde. Noch heute fühle ich mit ihr und
„Fräulein Else“ verbunden, zumal ich eine Zeit lang der
Großtochter bei ihren mathematischen Studien Hilfsstellung
geleistet habe.
Wir haben noch Tabakbeziehungen zu einander, einmal
dadurch, daß ich in ihrem Besitz einige meiner Tabakpflanzen
dem fruchbaren Boden anvertrauen durfte, zum anderen,
weil ich die Raucherkarten der beiden Damen einlöse.
Daraus ergibt sich dann gelegentlich ein Besuch
meinerseits in dem Keller dieser gebildeten vornehmen Frau, deren
großes Haus auch von den Engländern beschlagnahmt
wurde.
Hoffentlich bleiben auch die „Obstbeziehungen“
erhalten, vielleicht gebraucht mich auch die Großtochter nochmals
zur Unterstützung.
Im Oktober war der Gartenbetrieb zu Ende, außerdem
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wurde der Schulbetrieb wieder aufgenommen. Aber für
mich, dem mein Direktor wieder die OI anvertrauen sollte, war
dabei kein Platz mehr. Da meine Pensionierung infolge
der Altersgrenze von 65 Jahren bevorstand, sollte ich nicht
mehr eingesetzt werden und wurde abkommandiert zur „Ostflüchtlingslehrerhilfe“.
Dort mußte ich am Archiv Akten
ordnen, Privatunterricht vermitteln und konnte auch
manchen aus dem Osten vertriebenen Kollegen vielleicht etwas
helfen.
Am 1. Januar 1946 wurde ich vom Dienst
beurlaubt und am 1. März trat ich in den „wohlverdienten Ruhestand“.
In einer kleinen stimmungsvollen Abschiedsfeier wurde
mein Freund Hermann Andreesen und ich selbst von dem neuen
Direktor Dr. Berneburg unter Würdigung unserer
Verdienste entlassen. Nun war ich Freiherr !
Wie hätte ich dies Gefühl wohl genossen, wenn wir noch
unser Haus in der Brehmstraße gehabt hätten und wenn die
Nachkriegszeit nicht in unsere Lebenshaltung so stark
eingegriffen hätte. Aber so saß ich
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zwar bei unseren Kindern „wohlgelitten“, aber immerhin
ohne Lebensaufgabe. Dazu belastet von allerlei Sorgen.
Sorge in erster Linie um unseren Sohn Ernst, von dem
wir zwar wußten, daß er in russischer Kriegsgefangenschaft ist,
und der uns auch nach langem Warten von Zeit zu Zeit
kurze, aber zufrieden lautende Grüße sandte, aber zu dem
doch oft unsere Gedanken voller Sehnsucht gehen.
Sorge um unseren Schwiegersohn Adolf Niemeyer, der
zwar gesund aus der italienischen Gefangenenschaft zurück-
gekehrt ist, aber dessen Zukunft wegen seiner, wenn
auch leichten, politischen Belastung (er war bei der HS),
noch nicht geklärt ist.
Sorge um meinen
Bruder Walther, der mit seiner Frau ohne rechten Verdienst in Einbeck ein
kümmerliches Leben
fristet, Sorge um meinen Neffen und Patenjungen , Sohn meiner Schwester Grete,
der noch immer als vermißt
gilt.
Sorge um so manchen jungen Freund, Sorge um
unsere Anneliese, die sich in Alfelde
nicht recht wohlfühlt und sich
nach Hannover und einem Zusammensein mit uns sehnt.
Sorge, ob nicht unsere Wohnung doch noch von den
Engländern beschlagnahmt wird,
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Sorge, ob die Ernährungslage nicht noch schlechter
würde, ob die Kartoffeln reichen, ob wir genügend Lernmaterila haben, wie
unsere geldliche Lage demnächst ausehen wird, Sorge aber in erster Linie auch
um unser Vaterland.
Um nicht mutlos zu werden und um diese vielen Sorgen,
wenn auch nicht zu vergessen, zurückzudrängen, stürze ich mich seitdem in die
Arbeit, gebe Privatstunden, in einem Umgfang, daß ich wohl mehr zu tun
habe, als viele meiner noch im Dienst befindlichen Kollegen. Aber ich fühle
mich wohl dabei und außerdem bringt ja meine Arbeit auch allerlei ein. Wenn
auch der Wert des Geldes problematisch ist, kann ich unsere Schwiegertochter
wesentlich unterstützen und auch anderen helfen.
Daneben bekomme ich auch von einigen Kindern
materielle Gegenwerte, wobei die Tabakwaren von mir besonders geschätzt werden.
Da ich nachmittags in unserer Wohnung kaum Ruhe finden konnte – am Vormittag
sind die Kinder in der Schule und im Kindergarten – muß ich dann in die Wohnung
meiner
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Klienten gehen. Das macht mir aber nichts aus, ich bin
froh, wenn ich dort ein ruhiges, warmes Zimmer finde. So verläuft also mein
Dasein -, für häusliche Hilfsleistungen werde ich selten herangezogen, habe ja
dazu auch kaum Zeit.
Besondere Höhepunkte gibt es ja zur Zeit kaum. Zu
weiteren Reisen habe ich nach den vielen Fahrten in den letzten Kriegsjahren
keine Lust mehr, bisweilen besuchen wir Familie Vogel in Alferde, freuen uns
aber, wenn unsere Kinder mit den Großkindern zu uns kommen. Es ist zwar etwas
eng bei uns, und wenn 10, auch 12 Personen bei uns unterzubringen und zu
verpflegen sind, macht das Schwierigkeiten, aber die nehmen wir gerne mit in
Kauf. Bisweilen besuche ich auch meine Freunde in der Brehmstraße oder Kollege
Kleinschmidt, mit dem, sowie mit dessen Gattin wir uns immer mehr angefreundet
haben, und deren Sohn seit kurzem auch mein Klient ist.
Dann tagen auch einmal wir „Senioren des Kollegs“ in
einem Lokal, das ist aber auch alles. Theater, Konzerte, selbst Kinobesuch fallen
aus, schon der weiten Entfernung wegen von uns bis zu ? .
Seit 268
Doch das ist ja auch nicht die Hauptsache – wir müssen
dankbar sein, daß wir bei Familie Niemeyer gut untergebracht
sind. Die Kinder sind zwar lebhaft, aber doch auch für
uns ein Quell der Freude. Unser Schwiegersohn ist rücksichtsvoll,
gefällig und verträglich und unsere Grete betreut uns
liebevoll als ob sie unsere Mutter sei.
So herrscht bei uns volle Harmonie; die einzige
Differenz entsteht bisweilen dadurch, daß unsere Grete mit ihrem stark
ausgeprägten Reinlichkeitssinn und intensivem
Reinemachen in Widerspruch steht mit meiner genialen Unordnung
Doch auch in dieser Hinsicht werden wir noch zu einer
Einigung kommen.
Ich bin am Ende meines Berichtes. Durch grimmige Kälte
und Schneeverwehungen von der Außenwelt so ziemlich
abgeschnitten habe ich in 2 Wochen mein Leben
vorbeiziehen lassen. Allerdings habe ich in den Nächten oft
wachgelegen und überlegt, was wert ist, in diesem Buch
festgehalten zu werden.
Seite 269
Für den Rest meines Lebens ist in diesem mir von Adolf
Niemeyer freundlichst überlassenen Band nicht mehr viel
Platz geblieben. Ich glaube auch kaum, daß es in ihm
noch vieles geben wird, das des Niederschreibens wert wäre und
kann nur hoffen, daß das, was ich vielleicht einstmals
noch hinzufügen werde, ein sonnigeres Gepräge trägt als der
letzte Abschnitt.
14. März 1947
Seit 270 leer
Seite 271
Rückkehr zur Brehmstraße Januar 1947
Es sind fast 2 Jahre vergangen seit dem ich von meinem
Leben erzählt habe. Was soll ich über deren Verlauf sagen.
Wir haben sie bei unserer Tochter in Kirchrode
verbracht und mit ihr, ihrem Mann und den 3 Kindern immer in
Harmonie und Eintracht gelebt. Natürlich war dieser
Zustand für die Familie Niemeyer wie auch für uns selbst
mit allerlei Nachteilen verbunden.
Die Wohnung war für sieben Menschen zu eng, die Unruhe
der Kinder für mich nicht immer wohltuend, der Besuch
unserer anderen Kinder und von Verwandten und Freunden
wurde oft als störend empfunden, alles das legte
den Wunsch nahe, unser zerstörtes Haus wieder
aufzubauen und damit selbständig zu werden.
Es kam hinzu, daß unsere Tochzer Anneliese sich bei
ihren Schwiegereltern in Alferde wenig wohlfühlte und sich
nach Hannover zurücksehnte.
In erster Linie auf ihr Betreiben faßten wir im März
47 den Entschluß
Seite 272
zunächst einmal die Trümmer unseres Hauses beseitigen
zu lassen. Diese Arbeit wurde dann von einem Unternehmer für
etwa M 2000,- ausgeführt, das heißt die Trümmer wurden
nicht sofort abgefahren, sondern zuerst sortiert und
gesammelt. Das Abfahren wurde dann weit später durch
Vermittlung unseres Schwiegersohnes Niemeyer, der als
Dolmetscher bei den Engländern Beziehungen zu
Fuhrunternehmen hatte, ausgeführt durch
annähernd 50 schwer
beladene Autos. Sie beförderten unseren ehemaligen
Besitz auf den Schutthaufen.
Da wir nicht damit rechnen konnten, die Baugenehmigung
zu erhalten - da das Haus ja bis auf die
Kellerräume
zerstört war – mußten wir „schwarz“ bauen immer in der
Angst, daß über kurz oder lang die Baupolizei dahinter
kommen und protestieren würde.
Unsere Sorge war berechtigt, den im November, als das
Haus im Rohbau etwa zur Hälfte fertig war, griff die Polizei
ein und verbot, den Bau fortzusetzen solange nicht
eine Genehmigung erteilt wäre. Glücklicherweise hat man dann
unseren diesbezüglichen
Seite 273
Antrag auf Weiterbau zugestimmt und das Haus konnte
unter tatkräftiger Hilfe unseres Schwiegersohnes Fritz Vogel,
der ja mit in das Haus einziehen wollte, unter Dach
gebracht werden.
Aus finanziellen und auch anderen Gründen haben wir
uns zunächst mit einem Flachdach begnügt, sodaß der früher
ausgebaute Dachgeschoß fortgefallen ist. Im Frühjaht
48 wurde die Centralheizung angelegt, und dann begann ein
Wettrennen mit der drohenden Währungsreform. Das Geld
wurde immer wertloser, Materialien waren kaum zu
beschaffen, die Handwerker mußten durch Naturalien
entlohnt werden – was uns nur mit Hilfe von Fritz Vogel
möglich war.
Meine Frau mußte täglich die Leute verpflegen, das
Essen zur Brehmstraße bringen, ich mußte für Rauchwaren
sorgen und alle möglichen Quellen für Cement, Fliesen
etc. ausfindig machen.
Wir waren oft nahe daran den Mut zu verlieren. Es kam
hinzu, daß die Möbelwerkstatt unseres Schwiegersohnes
Vogel abgebrannt war, und er dann sowohl
Seite 274
geldlich und auch durch seine Mitarbeit uns beim Bauen
kaum noch unterstützen konnte. Die Arbeiten zogen sich
immer noch in die Länge, und der 20. Juni 48 – der Tag
der Geldreform - legten sich zunächst
ganz still.
Jetzt gab es zwar Material und Arbeitskräfte, aber mein
Vermögen war auf den 10. Teil, d.h. wenige M 100,-
zusammengeschmolzen, und ich konnte weder Arbeiter
bezahlen, noch die Materialien kaufen. Damit wurde das
Tempo sehr verlangsamt, ich mußte sämtliche –Reserven
freimachen und durch Privatunterricht noch mehr als
bisher mir einen Nebenverdienst schaffen.
Ich bin in meinem ganzen Leben nie so stark in
Geldverlegenheit gewesen wie in den letzten Monaten. Mein
Bestreben war, kaum Schulden zu machen, und so habe
ich erst dann weiter arbeiten lassen, wenn mir das Geld
dazu wieder zur Verfügung stand.
Zunächst war das Haus zu verputzen, was in der
Hauptsache von jungen Baustudenten in ihren Ferien ausgeführt
wurde – Kosten etwa M 1000,-
Seite 275
dann mußte Licht gelegt werden, und die Installation
von Gas und Wasser durchgeführt. Dabei hat mir wieder
Adolf Niemeyer sehr geholfen. Die Folgearbeiten –
Fenster, Türen. Fußböden, Treppe – wurden natürlich durch
Fritz Vogel erledigt und machten mir weniger Sorge.
Die Treppe ließ allerdings recht lange auf sich warten und
wurde erst nach Weihn. geliefert.
Dann trat der Maler in Aktion und am 15. Januar 49 war
die obere Etage soweit fertig, daß wir einziehen konnten.
Eigene Möbel besaßen wir ja nicht mehr, aber durch Hilfe
von Verwandten und Freunden wurde dieser Mangel
überwunden.
Von meiner Schwester Maria erhielten wir eine
Chaiselongue, Tisch, Stühle, eine Wanduhr von der Mutter unseres
Schwiegersohnes Adolf Niemeyer, einen weiteren Tisch
und eine Couch, von meinem treuen Freund Gustav Meyer,
4 Lederstühle und ein Bett, unser Schwiegersohn Fritz
Vogel hatte für mich einen wertvollen Schrank – für Bücher
etc. angefertigt (das Prunkstück unserer neuen
Einrichtung) ferner 2 Betten – unsere stets um uns besorgte Tochter
Anneliese sorgte für eine Kommode,
Seite 276
einen Sessel, von unserem Sohn Ernst und seiner Frau
wurden uns Möbel für die Küche geliehen – die sie zur Zeit
nicht gebrauchten – und so wurden unsere Räume
gefüllt.
Natürlich fehlte es uns an Hausrat – aber mit der Zeit
wurde auch diese Lücke beseitigt und nach einigen Wochen hatten
wir kaum noch einen fühlbaren Mangel.
Mein Kreis an Privatschülern war erfreulicherweise in
dieser Zeit besonders groß, sodaß mir die Mittel für die Beschaffung
ständig zuflossen.-
Bei unserem Einzug wurden wir von vielen Freunden und
Nachbarn freudig begrüßt. Mit eigenartigen Gefühlen
begannen wir nun unser neues Leben in dem alten
wiedererstandenen Heim. Die vielen Sorgen der Aufbauzeit waren
vergessen und mit neuem Mut sehe ich heute meinem
Lebensabend entgegen. Ich fühle mich noch geistig völlig
frisch, der Körper zeigt bisweilen kleine Schwächen,
aber ernstere Defekte liegen nach Urteil des Arztes nicht vor.
Meine Gattin ist etwas abgekämpft – sie hat sich beim Bau
aktiver eingesetzt als ich selbst, da ich ja durch meine
unterrichtliche Tätigkeit gebunden war. Ihr lag das
Verhandeln mit den Handwerkern mehr als mir, in geschäftlichen
Fragen ist sie mir voll überlegen, was ich gern
eingestehe.
Neben der Sorge um unseren Wiederaufbau, war es die
Sorge um unseren Sohn Ernst, die uns in den beiden vergangenen
Jahren belastete. Wir erhielten zwar von ihm ziemlich
regelmäßig aus seiner Kriegsgefangenenschaft einen kurzen Gruß,
und es ging aus seinen Zeilen hervor, daß es ihm
körperlich im allgemeinen gut erging, aber die Sehnsucht nach ihm
und das Warten auf seine Rückkehr wurde immer stärker
in uns.
Es war ein großer Freudentag, als wir Ende November
von ihm ein Telegramm aus Erfurt erhielten, aus dem hervorging,
daß er in wenigen Tagen wieder bei uns sein würde, und
am 25. Nov. 48 traf er dann wirklich ein. Welche Gefühle mich
bei diesem Wiedersehen beseelten, kann ich nicht in
Worte fassen.-
Inzwischen hat unser Sohn hier in Hannover wieder eine
Wohnung bezogen, zunächst allerdings nur ein Zimmer, in dem
er mit seiner Frau und dem 2-jährigen Sohn natürlich
sehr beengt hausen muß.
Er ist auch wieder als Studienrat angestellt und zwar
in einer Mädchenschule. Eine starke Trübung liegt auf seiner
und auch damit auf unserer Familie dadurch, daß sein
kleiner Sohn Michael seit mehr als einem halben Jahr schwer
erkrankt ist an Gehirnhautentzündung und zur Zeit noch
in der Kinderklinik in Göttingen liegt. Gebe ein gütiger Gott,
daß er bald geheilt zu seinen Eltern zurückkehren
kann.
Um das Ergehen unserer anderen Kinder und Großkinder
brauchen wir uns gegenwärtig nicht zu sorgen. Unsere
Tochter Lore weilt mit ihrem Mann und ihren beiden
Kindern in Königstein/Taunus. Dort nimmt ihr Mann als Studienrat
eine geachtete Stellung ein. Gegenwärtig sind sie
dabei, sich ihr vernichtetes Mobiliar wieder zu beschaffen, und unser
Schwiegersohn Alfred ist sehr fleißig, um die Mittel
dafür zu erwerben.
Meine Frau und ich waren im Sommer 47, sowie auch 48
mehrere Wochen in Königstein zu Besuch und haben uns von
dem harmonischen Familienleben überzeugen sowie die
Schönheiten der dortigen Gegend genießen können.
Die dort verlebte Zeit ist mir in lieber Erinnerung;
ich bedaure nur immer wieder, daß infolge der weiten Entfernung ein
Zusammensein mit Fam. Thoma nicht häufiger möglich
ist.
Mit der Familie unserer Tochter Grete waren wir durch
das Zusammensein natürlich besonders stark verbunden.
Unser Schwiegersohn Adolf Niemeyer war infolge seiner
„politischen Belastung“ immer noch nicht wieder in seinem
Lehrerberuf zugelassen; er hat aber als Dolmetscher
und Verwalter eines englischen Materiallagers genügend Geld
verdient, um seine Familie unterhalten zu können und
bei dieser Tätigkeit mancherlei Vorteile gehabt, von denen wir
- wie ich schon sagte – bei unserem Bau auch
profitiert haben. Er ist ein sehr geschickter Mensch, der auch immer
bereitwillig mir in manchen kleinen Nöten geholfen
hat.
Die drei Großkinder sind wohlerzogen, zwar etwas
temperamentvoll, aber gut begabt und in Erfüllung ihrer schulischen
Pflichten gewissenhaft. Von beiden Eltern besitzen sie
ein gutes Erbgut.
Unsere Tochter Anneliese weilt noch in Alferde, wird
aber in wenigen Wochen die untere Etage in unserem Haus beziehen
und dann mit ihrer Familie wieder mit uns vereint
sein.
Sie hat in den zurückliegenden Jahren immer überaus
treu für uns gesorgt. Ihren Beziehungen zum Lande haben wir
es zu verdanken, daß unsere Ernährungsmöglichkeit
relativ günstig war.
Noch wertvoller aber war für uns ihre seelische
Betreuung. Wir haben von Zeit zu Zeit sie in Alferde besucht und die
Festtage meistens dort verlebt. Unser Schwiegersohn
hat viele Sorgen infolge des schon erwähnten Brandschadens
überwinden müssen. Er hat sich von seinem bisherigen
Compagnon getrennt und in Alferde eine eigene Werkstatt
aufgebaut. Dabei waren viele geldliche Schwierigkeiten
zu überwinden, aber allmählich ist sein Etat ausgeglichen.
Immerhin haben die auf ihn lastenden Sorgen sein
früher unbeschwertes Leben nachteilig beeinflußt und ihn vorzeitig
altern lassen.
Die beiden Kinder Matthias und Christine haben sich
prächtig entwickelt und sorgen für den Sonnenschein in der Familie.
Zusammenfassend habe ich gegenwärtig allen Grund,
dankbar und zufrieden zu sein.
Liebe Margot,
ich glaube, wir sind jetzt fast am Ende, es fehlen nur
noch die beiden Doppelseiten
276 und 267.
Ich habe sie neu abfotografiert und sie liegen mit bei
den Fotoseiten. Keine Eile bitte mit
der Transkription, ich arbeite jetzt erst einmal
weiter an dem gesamten Text und der Formatierung.
Alles Liebe
Dein Uli
E. Gegenwart: Mein Leben im Ruhestand
F. Rückkehr zur Brehmstraße 1949
To be continued….. Stand 14 .August 2011
Hier geht es zum Haus Bernstein
in Tating an der Nordsee
Ernst Wolfhagen Senior in Einbeck
Hier geht es zu den
Lebenserinnerungen meines Urgroßvaters Ernst Wolfhagen
Brief meiner Großeltern Emma und Paul
Thoma aus Neiße an
Hermine und Ernst Wolfhagen in Hannover
Brief meiner Großmutter Emma Thoma aus
Einbeck an
Marion Thoma – Frau meines Onkels
Helmut Thoma – in Berlin
Homepage des Malers Ernst
Wolfhagen
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