Valentine

 

„Gib gut acht, mein Kind – wir kommen gleich nach Deutschland.

In Deutschland ist alles verboten!“

Frau Becker streicht ihrer kleinen Valentine durch das Haar und lächelt sie liebevoll an.

Sie fahren im Zug von Amsterdam in die alte Heimat.

Ihr Vater handelt mit Diamanten an der Börse, konnte nicht mitkommen, weil er fleißig ist. Ein Belgier.

 

Der Flieger kommt. Der Flieger kommt.

Der Flieger aus Paris.

Halb Amsterdam ist vor der Stadt.

Auf einem Stoppelfeld landet die Propellermaschine und der Flieger mit der Lederkappe steigt herunter.

Wird umjubelt und bestaunt.

Eine fliegende Maschine. Hat das die Welt gesehen!

Die kleine Valentine hat es gesehen. Anfang des Jahrhunderts.

Später sah und hörte sie das Brummen der vielen Flieger über Berlin im Keller in der Keithstraße.

 

Valentine wird Säuglingsschwester. Arbeitet viele Jahre in diesem Beruf.

Dann viele Jahre in einem anderen.

 

Jeden Morgen betritt sie die Polizeidirektion in Berlin durch einen Hintereingang.

Sie weigert sich, vor der Steinbüste im Eingang den Arm zum Gruß zu heben.

Alle Kollegen werden befördert. Erhalten dann eine hohe Pension. Valentine nicht. Sie bleibt sich treu bis zum Ende.

Sie ist für die Prostituierten der Stadt zuständig, betreut sie streng und liebevoll.

Im Nebenbüro findet ihr Kollege am Morgen einen kleinen handschriftlichen Zettel auf seinem Schreibtisch.

„Nehmen sie ihre Dienstwaffe, gehen sie zu Zelle 13 im Keller und erschießen den Mann in dieser Zelle!“

Er öffnet seine Schublade, nimmt seine…………

Die Kunst des Delegierens.

Valentine erzählt diese und viele andere Geschichten aus ihrem Leben.

Wir wohnen gemeinsam in der Wohnung in der Bambergerstraße 7.

Sie hat immer 2 männliche Studierende bei sich in der Wohnung.

So reicht ihr Geld gerade zum Leben.

Die Bombenangriffe hat sie in der Keithstraße im Luftschutzkeller erlebt mit ihrem kleinen Lederköfferchen.

Hat dort die Kinder und Menschen getröstet und beruhigt wenn die Einschläge kamen.

Zu dieser Zeit war Onkel Konrad in Gatow.

Die Flieger wurden abgeschossen. Ein Fallschirm öffnete sich nicht und der Engländer fiel durch das Dach der Baracke auf den großen Holztisch.

In seiner Jacke steckten 2 Karten für das Konzert in der Londoner Royal Albert Hall für denselben Abend.

 

Jeden Morgen geht Valentine leise singend und summend in das Bad und nimmt dort in der Badewanne eine kalte Dusche.

3 Rollen Toilettenpapier hängen neben dem Klo.

Der Kühlschrank hat 3 Fächer, die jedem von uns persönlich zugeordnet sind.

Es gibt hier keine Konflikte.

Einfachheit. Klarheit.

Minimalismus.

Weniger ist mehr.

 

Sie lächelt mich verschmitzt an, als ich mit meinen 18 Lebensjahren verzweifelt vor ihr sitze und um das kleine Zimmer bettele in der Zeit der Wohnungsnot 1969.

Später spielen legen wir zusammen Patiencen. Wie damals mit meiner Mutter.

Sie betreut den halbwüchsigen Jungen aus dem Haus, spielt mit ihm Spiele und gibt ihm ein Stück Erziehung.

 

Valentine gründete gemeinsam mit Agnes von Zahn-Harnack neu nach dem Krieg den Berliner Frauenbund 1945 e. V. in der Ansbacher Straße 63.

Schon zuvor war sie in den 20ern bis zur Selbstauflösung des Bundes nach der Machtergreifung aktives Mitglied gewesen.

Ähnlich wie bei meinem Vater im Heinrich-Hertz-Institut sollten Jüdinnen von der Mitgliedschaft ausgeschlossen werden und nationalsozialistische Funktionärinnen wollten den Vorstand des Bundes übernehmen.


Durch Agnes von Zahn-Harnack ist der "Berliner Frauenbund" dem nichtfaschistischen "anderen" Deutschland verbunden:

Als letzte Vorsitzende des "Bundes Deutscher Frauenvereine" hat sie 1933 die Selbstauflösung des BDF durchgeführt,

weil der Verband nach Hitlers Machtergreifung Jüdinnen ausschließen und nationalsozialistische Funktionärinnen in den Vorstand aufnehmen sollte.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg trafen sich Agnes von Zahn-Harnack und weitere der früheren Aktivistinnen, um die Gründung eines neuen "Deutschen Frauenbundes" vorzubereiten.

http://www.berliner-frauenbund.de/index.php/geschichte

 

Valentine besucht den Berliner Zoo, besitzt ihre Jahreskarte.

Später lässt sie sich mit dem Taxi in den geliebten Englischen Garten fahren.

Sitzt dort auf ihrer Bank, kann schlecht laufen.

 

Ihr reicher Neffe versorgt sie mit kleinen roten Plastikmessern aus seiner Solinger Messerfabrik. Sie verschenkt die Messer.

 

Valentine besitzt ein altes kleines Radiogerät, einen Atlas, einen Duden, einen Brockhaus und wenige weitere Bücher.

Eine kleine flache Kiste mit Spielen und ihr Patiencekartenspiel.

 

Sie häkelt viele Decken und schenkt einige auch mir.

Sie gibt alte Kleider zu ihrer Weberin, die diese zu Flickenteppichen verarbeitet.

 

Nachdem ich meine erste kleine Wohnung fand, wohnt mein Freund bei ihr.

Nach seinem Drängen darf schließlich auch seine Freundin einziehen.

Die erste Frau als Untermieterin bei Valentine.

 

Wir gehen zu unserem Kleingarten und sie zeigt mir die kleinen blauen Blümchen am Wegesrand. „Das ist Männertreu!“

 

Als sie mit zu einem der großen Bankette von Cornelia und Helmut eingeladen wird, sitzt sie am Tisch neben Hasepampel und Bimbo aus München.

Hasepampel redet und plappert ohne Unterlass.

Valentine Becker sitzt ruhig und geduldig neben ihr und beobachtet die Szene.

Nach einer halben Stunde wendet sie sich Hasepampel zu uns sagt mit klarer Stimme laut:

„So Schätzchen, jetzt hast du aber genug geredet, jetzt kannst du dein Schnäuzchen aber mal zu machen!“

Hasepampel zieht die Augen hoch und ihr bleibt die Spucke weg.

Zivilcourage. Mutter Courage. Valentine.

 

Wir besuchen sie nach ihrem Sturz im Krankenhaus. Die Hüfte ist gebrochen.

Sie will nicht mehr.

Wir holen Eis und essen es gemeinsam. Ich mache ihr Mut und Hoffnung.

Sie schafft es wieder nach Hause.

Liegt viel in ihrem Bett.

Frau Mugay aus der obersten Etage versorgt sie täglich mit leckerem Essen. Ich darf es bei meinen Besuchen auch kosten.

Jahre später wird Frau Mugay von Karen und anderen liebevollen Nachbarn nach ihrem Hüftbruch versorgt.

Eine solidarische Hausgemeinschaft.

 

Am Eingang der Wohnung links an dem braunen kleinen Vorhang über dem Zählerkasten hängt immer dieser Brief.

Schon 1969 sehe ich ihn täglich.

„Wichtige Mitteilungen“

Valentine hat ihren Körper der Medizin vermacht.

 

Ich besuche sie im Krankenhaus in der Nähe des St. Michael-Heimes.

Sie liegt in einem kleinen Raum mit anderen Frauen.

Alle sind nackt und jede wird von einem großen weißen Papiertuch bedeckt.

Neben ihr auf einem kleinen Nachttischchen steht ein Glas mit ihrem Gebiss.

Sie kann nicht mehr sprechen.

Ihr Mund und ihre Zunge sind trocken und ihr Atem stinkt.

Ich rieche den Tod.

 

„Frau Becker, Sie müssen trinken!“

„Frau Becker, Sie müssen trinken!“

 

Valentine lächelt mich mit klarem Blick an und schüttelt ein wenig ihren Kopf.

 

Ihr Neffe erscheint kurz in ihrer Wohnung, sucht das alte Fernglas und verschwindet.

 

 

 

 

 

Wer mag, kann hier die von mir im Februar 2016 aufgeschriebene Version von Valentine lesen

 

 

 

Valentine

 

„Valentine, zieh deine Schnürstiefelchen an, der Flieger kommt heute!“

Ganz Antwerpen geht hinaus zu der Wiese, wo gegen Mittag der Flieger landet.

Ein Mann mit Ledermütze in einer Flugmaschine, es ist unglaublich.

 

„Valentine, jetzt musst du aufpassen, wir kommen nach Deutschland, da ist alles verboten!“

 

Viele Jahre später nach dem ersten großen Krieg arbeitet Valentine als Säuglingsschwester in Deutschland.

Sie lernt verschiedene Berufe.

 

Dann steht da plötzlich im Präsidium in Berlin diese Steinbüste von dem Mann mit dem kleinen Bärtchen unter der Nase.

Valentine will ihn nicht mit dem Arm beim Betreten des Gebäudes grüßen, sie hat ihn schnell durchschaut, nimmt immer einen Seiteneingang, jeden Morgen, geht in ihr Büro und betreut die gefallen Mädchen, die Bordsteinschwalben.

Ihre Kolleginnen und Kollegen werden befördert, brave pflichtbewusste Leute.

 

Eines Morgens betritt ihr Kollege sein Büro. Es grenzt an Valentines Büro.

Er findet einen kleinen Zettel auf seinem Schreibtisch:

„Nehmen sie ihre Dienstwaffe, gehen sie in den Keller und erschießen sie den Mann in Zelle 17!“

Er nimmt seine Dienst……..

Valentine lächelt ein wenig mit zusammengepressten Lippen, als sie mir die Geschichte erzählt. Er macht „Peng, peng, peng!“ sagt sie.

Wie alle anderen hebt auch er den Arm vor der Steinbüste jeden Morgen.

Er wird befördert.

Ein anderer befördert Menschen vom Gleis 17 im am S-Bahnhof Grunewald in die Waggons.

 

Valentine sitzt viele Nächte in den Bombenkellern der Keithstraße.

 

Valentine war eine der Gründerinnen bei der Neugründung des Berliner Frauenbundes 1945 e.V. in der Ansbacher Straße.

 

 

Sie hat wenig Geld im Alter, nur eine kleine Rente, vermietet die beiden Zimmer an 2 Studenten, singt nach dem Aufstehen auf dem Weg zum täglichen kalten Duschbad ihre Liedchen.

Nach dem Sturz und dem Oberschenkelhalsbruch will sie nicht mehr, wir locken sie mit Speiseeis nochmal aus dem Hospital. Für einige Jahre.

An dem Stromzählervorhang hängt ein grauer Briefumschlag – wichtige Mitteilung. Dort steht, wohin ihr Körper gebracht werden soll. Auch zu Studenten.

 

Ein kleines altes Radio, ein Diercke-Weltatlas, ein Duden und Brockhaus und noch 5 weitere Bücher, eine kleine Holzkiste mit Brettspielen, mehr braucht sie nicht. Und ihre Patiencekarten.

 

Als Hasepampel ohne Pause bei einer Gesellschaft plappert, dreht sie sich zu ihr und sagt: „Jetzt ist gut Schätzchen, hast jetzt genug geplappert!“

 

Ich besuche sie in einem Raum in der Nähe des St. Michael Heimes.

Sie liegt – wie mehrere andere Frauen nur mit einem Papiertuch bedeckt – nackt und hilflos.

Man hat ihr das Gebiss rausgenommen, sie kann nicht sprechen, atmet schwer. Es riecht schlecht.

Die Zunge ist dick und trocken.

„Frau Becker, sie müssen trinken!“

Sie lächelt mich an und bewegt leicht den Kopf auf ihrem Kissen hin und her.