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Klapprad

 

Eine Reise von Berlin nach Hannover

Inhalt

1. Tag. 1

Von Berlin nach Magdeburg. 1

Joanne und Paul 14

Die Trogbrücke. 15

Magdeburg. 20

2. Tag. 24

Von Magdeburg nach Hötensleben. 24

Der Tod im Kornfeld. 25

Rast in Seehausen. 27

Gut Kirschen Essen. 28

Pension zur Kaserne. 31

3. Tag. 38

Von Hötensleben nach Vechelde. 38

Paläon. 49

Braunkohletagebau. 51

Schöningen. 54

Mittellandkanal 57

Gaststätte Geldmacher in Velchede. 58

4. Tag. 63

Von Vechelde nach Hannover. 63

5. Tag. 67

Von Hannover nach Gütersloh. 67

 

 

 


1. Tag

Von Berlin nach Magdeburg

 

Mein 65. Geburtstag am 31. Mai 2016.

65 Jahre alt, wie ist das möglich? Kaum zu glauben, dass dieses Alter erreicht wurde.

Schon lange fragt mich mein Vetter Michi aus Hannover, wann ich ihn endlich mal wieder besuchen werde.

Am Samstag, den 18. Juni wird der 90. Geburtstag von meiner Schwiegermutter in Gütersloh gefeiert.

Ein Plan entsteht.

Ob das noch zu schaffen ist?

Mit meinem kleinen silbernen Klappfahrrad von Berlin bis nach Hannover fahren – in 4 Tagen.

Lust und Sorge sind in meiner Seele. Werde ich so eine Reise noch schaffen?

Dienstag, den 14. Juni stehe ich um kurz vor 6 Uhr auf und fahre nach dem Frühstück mit dem kleinen silbernen Klapprad die Bundesallee entlang bis zum Bahnhof Zoologischer Garten. Es geht mit dem Fahrstuhl hinauf auf das Gleis 4.

Eine Japanerin wartet dort auch auf ihren Zug nach Spandau. Sie wirkt ein wenig verzweifelt. Wir sprechen miteinander und sie freut sich über meine paar Brocken Japanisch. Der Zug, der sie nach Spandau bringen soll, fährt erst um 7.43 ab. Sie wird ihren Anschlusszug nach Frankfurt am Main leider verpassen.

 

 

 

 

 

Um 7.47 fahre ich mit dem Regio bis nach Brandenburg. Erstaunlich gefüllt ist das Abteil bereits um diese Zeit.

4 weitere Fahrräder kommen mit. Neben mir sitzt eine junge Frau mit ihrem Klapprad. Meine Sorge, dass sich eine Diskussion über die Mitnahme von Klapprädern ergibt, löst sich langsam auf. Wir werden nicht kontrolliert und alles ist sehr locker.

Ich denke darüber nach, dass ich keine beruflichen Pflichten mehr habe und freue mich auf das Abenteuer meiner Reise.

In Brandenburg steige ich um 8.00 Uhr in den Zug nach Magdeburg. Kurz vor Genthin werde ich kontrolliert und erreiche dann den Ort um 8.18 Uhr.

Das Abenteuer beginnt.

Wolkenbedeckter Himmel, Genthin wirkt nicht sehr einladend und bald fahre ich auf der Straße Richtung Elbe nach Westen.

Alles ist ruhig, kaum ein Auto begegnet mir.

Eine Brücke wird repariert, ich darf mit dem Rad über die Baustelle hinüber, es gibt keinen Autoverkehr mehr auf den weiteren Kilometern.

Bald merke ich, dass mein Gefühl, schnell voranzukommen und die Elbe bald zu erreichen, mich getrügt hat.

Alles dauert lange, die Zeit scheint langsamer zu vergehen. Ich verändere langsam meine Wahrnehmung.

Wälder, Wiesen, Bäche, Bäume – alles gleitet langsam an mir vorbei.

Hab ich mir da etwas zu viel vorgenommen?

Im Dorf Bergzow steht ein Storch in seinem Nest auf dem Schornstein. Schließlich erreiche ich den Ort Elbe-Parey.

Er ist größer als erwartet. Es geht weiter an der Straße und dann beginnt der erste große Regenguss.

Ich ziehe schnell mein gelbes Regencape über, die Schuhe und Strümpfe aus und die Flipflops an.

Unter einem Baum stehe ich eine halbe Stunde, wie die Schafe im Wasser bei Sturmflut. Sie warten einfach, bis das Wasser wieder verschwunden ist, dann erst gehen sie weiter.

 

 

Es geht weiter und ich fahre plötzlich durch den Ort Zerben und an einem kleinen Schloss vorbei. Auf einer Tafel wird beschrieben, dass hier Elisabeth von Plotho lebte. Sie war das Vorbild für von Theodor Fontanes Effi Briest.

 

 

 

 

Am Elbdeich in den Elbtalauen angekommen hört der Fahrradweg leider auf, denn große Baumaschinen haben die Deichkrone bearbeitet und man scheint dort einen neuen Radweg zu bauen. Alles ist voller Erde und braunem Schlamm, den ich über eine kleine Strecke durchquere.

Das Silberrad wird ein wenig eingefärbt.

Auf vielen Umwegen geht es weiter nach Süden Richtung Magdeburg an dem Ort Burg vorbei bis nach Niegripp. Dort fahre ich am Niegripper See über einen schönen Waldweg in Richtung Lostau weiter.

 

 

Sonnenschein wechselt manchmal mit wolkenbruchartigem Regen und Gewittern ab. Ich bleibe dann einfach unter meinem Regencape stehen, wie die Schafe im Wattenmeer bei Sturmflut, warte ab, bis es wieder trocken wird und fahre dann einfach in meinen

Flipflops weiter.

 

Nach dem Ort Schartau komme ich zum Niegripper See. Dort gibt mir ein netter Mann den Tipp, wie ich am Kanal und See durch einen wunderschönen Hohlweg fahren kann. „Aber passen Sie auf, dass Sie nicht ins Wasser fallen! ruft er mir noch zu. Der Weg führt tatsächlich sehr nahe an der Kanalkante entlang.

Es macht Spaß, so durch den Wald zu sausen und die Natur so hautnah zu erleben.

Kleine Boote liegen auf dem Kanal, ich fühle mich an Momente in Oregon erinnert.

Nach diesen ersten Stunden haben sich meine Sorgen aufgelöst und ich kann voller Freude in der Gegenwart radeln. Das Fahrrad hat sich bereits bewährt und ich bin froh, dass ich ein kleineres Ritzel eingebaut habe, sodass die Übersetzung angenehmer ist und man nicht so schnell im dritten Gang treten muss.

 

 

 

 

Joanne und Paul

Als es wieder ein wenig regnet stehe ich an dem Kanal unter einer Brücke.

Joanne und Paul aus Perth in Australien sprechen eine halbe Stunde mit mir, schildern ihre Begeisterung für Deutschland. Sie machen seit 5 Jahren Urlaub mit dem Rad, fahren immer wieder nach Deutschland, weil hier die Übernachtungen und das Essen so preiswert sind und weil sie die Landschaft und die Freundlichkeit der  Menschen so lieben.

„Du kriegst erst ein künstliches Knie von mir, wenn du nicht mehr auf´s Fahrrad kommst!“ hat Paul von seinem Arzt zu hören bekommen. Seitdem fährt er umso mehr mit dem Rad und es geht ihm nach einigen kleineren Knie-Ops hervorragend.

Ihre Kinder beschweren sich über die langen Reisen der Eltern. Ich finde es toll, dass die beiden die Trennung und die weiten Reisen so gut schaffen. Sie haben eine Liste mit Ortsnamen und fahren hinauf bis nach Dresden, immer die Elbe entlang, Übernachtungsmöglichkeiten finden sie leicht auf ihrem Weg, sie reisen in der Gegenwart, sorglos und glücklich, vorbildlich für mich.

Es gelingt mir mit jeder Minute mehr.

Lustig, eben habe ich die beiden Namen und die Stadt Perth mal im Netz eingegeben und sie sofort auf Facebook gefunden. Wir werden also in Kontakt bleiben.

 

 

Die Trogbrücke

Dann liegt sie plötzlich vor mir:

Die Trogbrücke des Wasserstraßenkreuzes Magdeburg.

Gewaltig. Das Bauwerk wurde im Jahre 2003 vollendet. Riesige Lastkähne schieben sich in 40 Meter Höhe über die Elbe. Eine Touristengruppe bewundert das kolossale Bauwerk.

 

 

 

 

 

 

 

In Hohenwarthe überquert der Elbe-Havel-Kanal die Elbe mit einer riesigen Trogbrücke, auf der die Frachtschiffe wie Kraftfahrzeuge auf einer Brücke über die Elbe schweben. Touristengruppen mit älteren Herrschaften bestaunen das Schauspiel.

Dann fahre ich unter die Brücke und links herum in Richtung Süden durch die Elbauen nach Magdeburg.

 

 

Kurz vor Magdeburg in den Elbauen bei Lostau gibt es wieder so einen Wolkenbruch mit Blitzen und Donner und ein etwas beleibter Mann flucht los, versucht sein dünnes gelbes Platikcape überzuziehen, was ihm nur mit Mühe gelingt, seiner Frau jedoch besser.

Später finde ich dieses Cape auf einem Rastplatz vor Magdeburg und nutze es anschließend immer zum Abdecken meines Gepäckes auf dem Rad, damit ich im Regen etwas beweglicher beim Warten auf den Sonnenschein bin.   

In diesem Moment meldet sich Jenny aus New York über Whats App. Sie hat jetzt ihren Flug geplant und fragt an, ob uns der Termin passt.

Leider verabschiedet sich gerade der Akku bei mir.

Ich wechsel ihn und freue mich dann über ihre Sprachnachricht, schätze ihre Freundlichkeit und ihren Humor:

„Viel Spaß mit dem Klapprad….. pass auf, dass es nicht zuklappt!“

 

Magdeburg

Eine große Fahrradbrücke bringt mich hinüber auf das andere Ufer und an den alten Handelshafen mit seiner großen roten Backsteingebäuden, ich bin in einer anderen Zeit.

Der Weg geht weiter bis in die Altstadt.

Vor mir liegt das Kloster unserer lieben Frauen.

 

 

Nicht weit entfernt stehe ich bald vor der Grünen Zitadelle, einem Hotel, welches von Friedensreich Hundertwasser entworfen wurde.

(Nach nur 2 Jahren Bauzeit steht seit dem 3. Oktober 2005 die GRÜNE ZITADELLE VON MAGDEBURG unübersehbar am Breiten Weg - Friedensreich Hundertwassers Entwurf einer "Oase für Menschlichkeit und für die Natur in einem Meer von rationellen Häusern“, Wikipedia).

 

 

In einem türkischen Supermarkt kaufe ich einen großen Becher Naturjoghurt.

Dann fahre ich zur Helmholtzstraße und versuche, meine Verwandte Toni zu treffen. Sie ist die Enkeltochter der Schwester meiner Großmutter. Leider ist sie nicht zuhause.

Ein wenig erschöpft geht es die letzten 5 Kilometer die Stadt hinaus bis zum Flugplatz Magdeburg.

Meine Bleibe für diese Nacht wird das Flughafenhotel sein. Nur 30,- € die Nacht mit 5,- € Frühstück.

Ein rundlicher, freundlicher Herr öffnet mir.

„Guten Abend, Herr Thoma, hier ist ihr Schlüssel, Herr Thoma, Zimmer 17 Herr Thoma, bitte füllen Sie noch die Anmeldung aus, Herr Thoma, noch ein Hinweis, Herr Thoma, dort drüben ist eine gute Pizzeria, Herr Thoma, falls Sie noch Hunger haben, Herr Thoma!“

 

 

Ich habe noch Hunger und genieße die Atmosphäre und den zuvorkommenden Ober sowie die Spaghetti mit Sahnesoße in der Pizzeria.

 

 

 

2. Tag

Von Magdeburg nach Hötensleben

 

 

 

Leckeres Frühstück im Flughafenhotel. Ein guter Tagesbeginn.

Früh fahre ich los, sitze wieder auf dem kleinen Sattel des Klapprades.

Ich habe die Schaltung ein wenig justiert und alles ist perfekt.

Keine Schmerzen, weder im Allerwertesten noch in den Beinen. Kein Muskelkater also.

Möglicherweise liegt es daran, dass ich oft auch kleine Steigungen bei dem Gefühl von Anstrengung zu Fuß bewältigt habe.

Gleichmäßiges Fahren ohne Überanstrengung der Muskeln, prima gelaufen.

 

Ich entdecke jetzt neben meiner Orientierung auf den Karten die hervorragende Fahrrad-Navigation von Google Maps. Früher war ich ja ein Gegner aller Navigationsgeräte, habe sie aber auf unseren beiden Reisen an die Westküste der USA schon sehr schätzen gelernt.

Das Smartphone spricht mit freundlicher weiblicher Stimme zu mir: „In 350 m rechts abbiegen auf Oscherslebener Straße!“ Dann nach dem Abbiegen:“Dem Straßenverlauf für 3 KM folgen!“

Das Telefon steckt in meiner rechten Hosentasche. Wenn die Stimme sich meldet, nehme ich es schnell heraus und halte es ans Ohr, damit ich die Ansage verstehe.

Es ist ein Segen, dass ich, ohne anzuhalten, ruhig durch die Landschaft gleite, auf Wege an Bächen, Kanälen, durch Täler über Wiesen, durch Wälder und durch Orte auf den abseits des Autoverkehrs liegenden Straßen geleitet werde. Das GPS weiß immer wo ich bin, pünktlich kommt kurz vor einer Abzweigung die Ansage.

Die Ladung des Akkus verbraucht allerdings sehr schnell. Ich lege nach einigen Stunden dann den Ersatzakku ein und schalte das Gerät auch manchmal aus, um Strom zu sparen.

 

Viele Kilometer führt mich der Weg vom südlich gelegenen Flugplatz durch Magdeburg, um die Außenbezirke der Stadt herum nach Westen. Eine freundliche Dame begleitet mich mit dem Rad einige Kilometer und beschreibt mir dann den Weg hinaus aus der Stadt über die Königstraße am Friedhof vorbei und dann um eine große Mülldeponie herum in Richtung des Ortes Hohendodeleben und weiter in Richtung des Dorfes Domersleben.

 

Der Tod im Kornfeld

 

Einige Kilometer vor Domersleben halte ich betroffen an.

 

 

 

Ich sehe das Auto vor meinem geistigen Auge noch im Kornfeld liegen.

Auf Tongefäßen mit Kerzen stehen die Worte „Wir vermissen dich Oma!“ und „Für Mama von Leo und Jule!“

Wie so oft in den vergangen Jahren weine ich, nehme Anteil an dem Tod der fremden Frau, denke über die Höllenmaschine Auto nach, die mich auch auf dieser Tour an Bundesstraßen ohne Fahrradwege oft mit rasender Geschwindigkeit rücksichtsvoll mit weitem Abstand und in einem Fall so nah überholt, dass ich mit meinem ausgestreckten linken Arm das Metall hätte streicheln können, sodass mir der Atem stockte und ich überdenke, in was für eine lebensgefährdende Situation ich mich hier begeben habe.

Der Mut ist jedoch wichtig, mobil bleiben, Abenteuer wagen, so soll es weiter gehen bis zum Ende.

Ein Radfahrer begegnet mir auf seinem Tourenrad. Er schenkt mir einen kleinen Zeitungsartikel über die Schönheit des Aller-Radweges, erzählt mir von seinem Darmkrebs vor 8 Jahren, den er selbst entdeckte, sich operieren ließ und seitdem jeden Tag mit dem Rad viele Kilometer von zuhause fährt und von seinen Kindern und Enkeln schwärmt er, von seinen Hobbies.

 

Rast in Seehausen

 

Nach dem Dorf Domersleben und dann Remkersleben erreiche ich schließlich einige Stunden später Seehausen.

Auf einer Bank am See sitze ich gemütlich eine Stunde beim Picknick und ruhe mich aus.

 

 

An einem hübschen Kloster mit Café am See geht es vorbei weiter Richtung Hötensleben.

 

 

Gut Kirschen Essen

 

Wenige Meter hinter Seehausen laufe ich einen Erdweg hinauf. Beide Seiten des Weges sind von großen alten Kirschbäumen gesäumt.

Wer mag sie wohl gepflanzt haben?

Ich halte an und pflücke die reifen Kirschen in den Mund. Danach noch in eine Tüte als Wegproviant.

 

 

 

 

Die Schönheit der Landschaft erfüllt mich mit Freude. Menschenleere Stunden des Schweigens,

fast wie in einer Meditation gleitet alles vorbei, Wälder, Felder, Mohnblumen. Kartoffelpflanzen bis zum Horizont, Weizen,

Roggen, Kohl, Mais.

 

 

Pension zur Kaserne

 

Einige Stunden später stehe ich wieder im Gewitterregen in einem kleinen Wald unter meiner gelben Kutte. Warte eine Stunde lang. Danach ist es trocken und die Reise geht weiter.

 

 

Mein heutiges Ziel sollte die Jugendherberge in Schöningen am Elm sein.

Eigentlich mag ich Übernachtungen in Jugendherbergen nicht mehr, bin erschöpft und der Weg bis Schöningen ist noch 30 Kilometer weit.

Plötzlich sehe ich auf der linken Seite, einige Kilometer vor dem Grenzort Hötensleben, ein altes großes Gebäude und lese das Schild „Pension zur Kaserne“.

 

 

 

Vorsichtig traue ich mich an dem originalen DDR-Grenzzaun, der das große Grundstück umschließt, entlang und durch das Tor hinein.

Düstere an die Grenzer erinnernde Figuren mit schwarzen Plastikkübeln als Helme stehen davor.

Alles erinnert an die Vergangenheit.

An einem der Nebengebäude stehe ich vor einem Schild.

 

 

Ich überlege, ob ich diesen Ort schnell wieder verlassen sollte.

Erst nachdem mich ein kleiner Hund bellend begleitet erscheint aus einem der vielen Nebengebäude eine freundliche Dame, die mir auf die Frage nach dem Übernachtungspreis für einen Radfahrer antwortet: „20,- €!“

„Nehme ich gerne!“ sage ich.

Sie zeigt mir ein schönes einfaches Zimmer, das auf dem Gang gegenüber liegende Bad mit Dusche und Toilette und die große Küche.

 

 

 

 

Sie erzählt mir von der Geschichte der Kaserne. Hier waren die Grenzsoldaten der DDR stationiert, kontrollierten von hier aus die Grenze in Hötensleben. Sie treffen sich jetzt noch manchmal hier für einige Tage in der Pension und sprechen von den alten Zeiten.

Das Schild wurde auf dem Dachboden der Kaserne gefunden.

 

Im Keller entdecke ich mehrere möglicherweise alte Arrestzellen, eine trägt die Nummer 007.

 

 

 

 Ich trage mein Rad die Treppe hoch und stelle es ins Zimmer, sicher ist sicher.

 

 

Der Ehemann lädt mich ein, seine Lebensgeschichte anzuhören. Er ist ein alter Ostpreuße, den es in die Nähe von Ilsede bei Hannover verschlagen hat. Eine lange Stunde erzählt er mir von seiner Karriere als Bauunternehmer mit 200 Angestellten, von der großen Pleite nach der Euroumstellung, von dem Kauf eines kleinen Schlosses nicht weit entfernt von hier. Von dem Verlust des Schlosses und dem Kauf dieser Kaserne, von der Renovierung der zerschlagenen Fenster, den Bauarbeiten, dem Ausbau der 3 Wohnungen in den Nebengebäuden in denen jetzt als feste Mieter polnische Familien wohnen, von seiner Herzkrankheit, seinem Defibrillator und Herzschrittmacher, den Tabletten, die jeden Monat 400,- € kosten und wie er es geschafft hat, dass die Krankenkasse diese Kosten trägt.

Ich mache einen Spaziergang, gewöhne mich an das ein wenig unheimliche Gefühl, dass die Gespenster der Vergangenheit hier noch ausstrahlen und freue mich, ein gemütliches Zimmer gefunden zu haben, in dem ich mir ein Spiel der Europameisterschaft am Abend in Ruhe anschauen kann.

Zum Abendbrot gibt es heute nur Kirschen und Schokolade mit Leitungswasser.

 

3. Tag

Von Hötensleben nach Vechelde

Früh um 6 Uhr geht es heute mal ohne Frühstück weiter mit dem Rad, den Berg durch den Wald hinunter bis in den Ort Hötensleben.

Am Ausgang des Ortes bin ich plötzlich an der Gedenkstätte des Mauerdenkmals Hötensleben.

Hier ist die originale Mauer mit dem Todesstreifen, den Elektrozäunen und den Metallzäunen, mit den Panzersperren und den Wachtürmen noch zu bewundern.

Ein wirklich sehenswerter und erinnerungswürdiger Ort deutscher Perfektion.

Es gruselt mir ein wenig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Paläon

 

Am Paläon vorbei geht es hinunter nach Schöningen. Das moderne Museum wurde um die im Braunkohletagebau gefunden steinzeitlichen Speere herum gebaut. Ich habe es vor einigen Jahren schon einmal mit meinem Freund Günter Firnau besucht.

 

 

 

 

Braunkohletagebau

Der riesige Braunkohletagebau mit dem daneben stehenden Kraftwerk hat mich schon in meiner Studentenzeit Anfang der 70er Jahre beeindruckt. Hier konnten mein Freund Micha, Eberhard und ich damals, als wir verbotenerweise auf einen der großen Schaufelbagger hinaufgeklettert waren, mit Mühe einem Wachmann entkommen.

Wieder begeistern mich auf dem kleinen Rastplatz am Tagebau die riesigen vom Eis abgeschliffenen Findlinge.

 

 

 

 

Schöningen

 

Endlich bin ich in Schöningen angekommen, das Navi führt mich durch die Stadt bis auf den Burgplatz.

In einem gemütlichen Café mache ich Rast. Es gibt eine große Tasse Kaffee und ein Stück Mohnkuchen.

Die fleißige rundliche Bedienung, die eine lange Schlange der hier um 8 Uhr Brötchen einkaufenden Kunden abfertigt, füllt meine beiden Wasserflaschen liebevoll auf und ruft mir auf dem Weg zur Toilette zu: „Junger Mann, nehmen Sie den Schlüssel mit!“

Ich bedanke mich bei ihr für den jungen Mann und es geht mir, wie fast immer auf meiner Reise gut.

Voller Freude und Beruhigung denke ich darüber nach, dass es mir noch möglich ist, aus dem Alltag herauszutreten und ohne Auto und Sicherheit der gewohnten Umgebung diese Fahrt zu machen.

Ich schöpfe Mut für weitere derartige Unternehmungen, denke an meine Freunde, die solche Fahrten nicht mehr unternehmen können oder wollen.

 

 

 

 

Das Navi führt mich aus Schöningen nach Osten Richtung Helmstedt. Die falsche Richtung, wie ich schnell merke.

An einer Tankstelle versuche ich meinen Reifendruck zu erhöhen. Die gesamte Luft entweicht dabei aus dem Hinterreifen. Dann entdecke ich den Schlitz für die 50 Cent, die es jetzt kostet, wenn man Luft haben möchte.

Ich versuche an der Kasse zu wechseln. Die Dame sagt, dass die Luft umsonst sei.

Nach einem weiteren Anlauf weiß ich, dass man den rechten Knopf mit dem Haken drücken muss, damit der gewählte Luftdruck erzeugt wird.

Es geht zurück durch Schöningen und bald fahre ich auf der Bundesstraße ohne Radweg 20 Kilometer bis nach Schöppenstedt, der Stadt von Till Eulenspiegel.

Überall stehen Holzfiguren von ihm.

Der Weg führt mich weiter durch schöne Täler auf Radwegen Richtung Wolfenbüttel, Braunschweig, Salzgitter und Peine.

Eine hübsche Windmühle steht in einem kleinen Dorf.

 

 

In dem kleinen Ort Salzdahlum in der Nähe von Salzgitter mache ich im gemütlichen Landhaus Kammerkrug Rast.

Ein sehr freundlicher junger Ober aus Helmstedt, den es hierher verschlagen hat, lädt den Akku meines Handys auf. Es gibt leckeren frischen Spargel mit Kochschinken, Sauce Hollandaise und Butter.

 

 

 

 

Mittellandkanal

 

Schließlich fahre ich viele Kilometer am Mittellandkanal entlang. Eine Gruppe von Jugendlichen badet im Kanal, lässt sich von einem Seil ins Wasser fallen oder springt von der Brücke in das kühlende Nass.

 

 

Als ich auf meinem Handy die Reiseroute anschaue, ruft ein Junge der Gruppe zu: „Mensch, der ruft die Polizei!“

Ich winke zurück und rufe: „Keine Sorge!“

Ich spreche dort mit einem Mann, der den Ort Fürstenau erwähnt.

Ich fahre von meiner Route ab bis in das kleine Dorf, denn hier wuchs meine Großmutter Hermine Wöckener auf.

Ein älteres Ehepaar kennt den Namen allerdings nicht und später erfahre ich, dass westlich von Hannover noch ein weiterer Ort Fürstenau liegt, in dem tatsächlich meine Großmutter lebte.

 

Gaststätte Geldmacher in Velchede

Mehrere Personen haben mir als eine gute und preiswerte Möglichkeit zur Übernachtung die Gaststätte Geldmacher in Velchede empfohlen.

Ich rufe dort an und buche ein Zimmer.

Von Fürstenau aus fahre ich die 4 Kilometer durch den Wald nach Wahle und kurz darauf bin ich in Velchede und finde die Gaststätte.

„Sind Sie Herr Geldmacher und machen Sie Ihrem Namen Ehre?“ frage ich den älteren Herrn, der mir zeigt, wo ich das Fahrrad sicher anschließen kann.

„Nein, ich heiße Hintze, aber dem Namen versuche ich schon Ehre zu machen!“ antwortet er.

 

 

Es gibt noch ein 3 Gänge Menu. Zwiebelsuppe, Fisch mit Bratkartoffeln, Salat und zum Nachtisch Eis mit Erdbeeren und Schlagsahne.

 

 

 

 

 

4. Tag

Von Vechelde nach Hannover

 

 

Nach einem gemütlichen Frühstück geht es wieder hinaus aus dem Ort und weiter über die Bundesstraße Richtung Peine und Sehnde.

Eine kleine Kubanerin, die den Kaffee serviert, erzählt mir ihre Lebensgeschichte, die Trennung von ihrem Mann, ihr Kampf in Deutschland um Selbständigkeit, die Schwierigkeiten beim alleine Großziehen der Kinder.

Das Navigationssystem führt mich schnell durch die Stadt Peine und weiter zurück zum Mittellandkanal.

In einem kleinen Ort kurz vor Sehnde überrascht mich ein neues Gewitter mit Regenguss.

Schnell kann ich noch in eine Autowerkstatt fahren und mich dort eine halbe Stunde unterstellen, bis der Regen aufhört.

 

 

 

 

Anschließend geht es noch einige Stunden immer am Kanal entlang, der Hannover im Osten der Stadt umrundet.

Schließlich bin ich auf der Brücke an der Podbielskiallee, die mich nach wenigen Kilometern bis zu dem kleinen Netto-Laden an der Ecke der Pelikanstraße bringt.

Ich schließe dort das Rad an, lasse das Gepäck auf dem Gepäckträger und kaufe einige Lebensmittel für meinen lieben Vetter Michi ein.

Im Laden habe ich dann den einzigen Unfall der Tour:

Ein großer Angestellter fährt mir von hinten mit einem hoch mit Kartons bepackten Wagen in den Rücken. Er hat mich nicht bemerkt und entschuldigt sich sofort. Erfreulicherweise haben die Kartons den Schlag abgemildert, es gibt keine Verletzungen und ich freue mich, dass mir nicht auf der Fahrt, sondern hier im Laden etwas Derartiges passiert ist.

 

Mein lieber Vetter Michi erwartet mich schon voller Vorfreude.

Wir sprechen lange miteinander, es ist schön für mich, die Freundlichkeit und Nähe von ihm zu spüren. Er hat mir viel Gutes getan und ich bin ihm sehr dankbar, konnte ihm auch ein wenig helfen.

Ich bewundere, wie er in seinem Leben zurechtkommt.

Von Michi erfahre ich, dass es die Gräber meiner Großeltern noch auf dem Seelhorster Friedhof gibt und dass dort auch die Gräber seiner Eltern sind.

Am Abend essen wir zusammen Chinesisch.

 

 

 

 

 

5. Tag

Von Hannover nach Gütersloh

 

Nach einem frühen und schnellen Frühstück geht es weiter mit dem Klapprad Richtung Autobahnabfahrt Bothfeld.

Dort warte ich auf dem Parkplatz von ALDI auf Charly und Ursel, die schon früh in Berlin gestartet sind.

Unser Ziel ist Gütersloh und der 90. Geburtstag von Anna.

Ich klappe das Rad zusammen und halte meine Lieben endlich wieder im Arm.

 

 

Das Rad verschwindet im Kofferraum des Autos und nach einer guten Stunde haben wir Gütersloh erreicht.

 

 

 

 

 

Die Feier beginnt.

In der Nacht geht es zurück nach Berlin. Charly fährt fast die gesamte Strecke, mich hat die Müdigkeit im Griff.

Gegen 3 Uhr nachts liegen wir wieder in unseren Betten.

Voller Glück über die Reise träume ich von meinem nächsten Abenteuer.