Klapprad
Eine
Reise von Berlin nach Hannover
Inhalt
Von Magdeburg nach Hötensleben
Gaststätte Geldmacher in Velchede
Mein 65. Geburtstag am 31. Mai 2016.
65 Jahre alt, wie ist das möglich? Kaum zu glauben, dass
dieses Alter erreicht wurde.
Schon lange fragt mich mein Vetter Michi aus Hannover, wann
ich ihn endlich mal wieder besuchen werde.
Am Samstag, den 18. Juni wird der 90. Geburtstag von meiner
Schwiegermutter in Gütersloh gefeiert.
Ein Plan entsteht.
Ob das noch zu schaffen ist?
Mit meinem kleinen silbernen Klappfahrrad
von Berlin bis nach Hannover fahren – in 4 Tagen.
Lust und Sorge sind in meiner Seele. Werde ich so eine Reise noch
schaffen?
Dienstag, den 14. Juni stehe ich um kurz vor 6 Uhr auf und
fahre nach dem Frühstück mit dem kleinen silbernen Klapprad die Bundesallee
entlang bis zum Bahnhof Zoologischer Garten. Es geht mit dem Fahrstuhl hinauf
auf das Gleis 4.
Eine Japanerin wartet dort auch auf ihren Zug nach Spandau.
Sie wirkt ein wenig verzweifelt. Wir sprechen miteinander und sie freut sich
über meine paar Brocken Japanisch. Der Zug, der sie nach Spandau bringen soll,
fährt erst um 7.43 ab. Sie wird ihren Anschlusszug nach Frankfurt am Main
leider verpassen.
Um 7.47 fahre ich mit dem Regio bis nach Brandenburg.
Erstaunlich gefüllt ist das Abteil bereits um diese Zeit.
4 weitere Fahrräder kommen mit. Neben mir sitzt eine junge
Frau mit ihrem Klapprad. Meine Sorge, dass sich eine Diskussion über die
Mitnahme von Klapprädern ergibt, löst sich langsam auf. Wir werden nicht
kontrolliert und alles ist sehr locker.
Ich denke darüber nach, dass ich keine beruflichen Pflichten
mehr habe und freue mich auf das Abenteuer meiner Reise.
In Brandenburg steige ich um 8.00 Uhr in den Zug nach
Magdeburg. Kurz vor Genthin werde ich kontrolliert und erreiche dann den Ort um
8.18 Uhr.
Das Abenteuer beginnt.
Wolkenbedeckter Himmel, Genthin wirkt nicht sehr einladend
und bald fahre ich auf der Straße Richtung Elbe nach Westen.
Alles ist ruhig, kaum ein Auto begegnet mir.
Eine Brücke wird repariert, ich darf mit dem Rad über die Baustelle
hinüber, es gibt keinen Autoverkehr mehr auf den weiteren Kilometern.
Bald merke ich, dass mein Gefühl, schnell voranzukommen und
die Elbe bald zu erreichen, mich getrügt hat.
Alles dauert lange, die Zeit scheint langsamer zu vergehen. Ich
verändere langsam meine Wahrnehmung.
Wälder, Wiesen, Bäche, Bäume – alles gleitet langsam an mir
vorbei.
Hab ich mir da etwas zu viel vorgenommen?
Im Dorf Bergzow steht ein Storch in
seinem Nest auf dem Schornstein. Schließlich erreiche ich den Ort Elbe-Parey.
Er ist größer als erwartet. Es geht weiter an der Straße und
dann beginnt der erste große Regenguss.
Ich ziehe schnell mein gelbes Regencape über, die Schuhe und
Strümpfe aus und die Flipflops an.
Unter einem Baum stehe ich eine halbe Stunde, wie die Schafe
im Wasser bei Sturmflut. Sie warten einfach, bis das Wasser wieder verschwunden
ist, dann erst gehen sie weiter.
Es geht weiter und ich fahre plötzlich durch den Ort Zerben
und an einem kleinen Schloss vorbei. Auf einer Tafel wird beschrieben, dass
hier Elisabeth von Plotho lebte. Sie war das Vorbild für von Theodor Fontanes Effi
Briest.
Am Elbdeich in den Elbtalauen angekommen hört der Fahrradweg
leider auf, denn große Baumaschinen haben die Deichkrone bearbeitet und man
scheint dort einen neuen Radweg zu bauen. Alles ist voller Erde und braunem
Schlamm, den ich über eine kleine Strecke durchquere.
Das Silberrad wird ein wenig eingefärbt.
Auf vielen Umwegen geht es weiter nach Süden Richtung
Magdeburg an dem Ort Burg vorbei bis nach Niegripp.
Dort fahre ich am Niegripper See über einen schönen Waldweg in Richtung Lostau
weiter.
Sonnenschein
wechselt manchmal mit wolkenbruchartigem Regen und Gewittern ab. Ich bleibe
dann einfach unter meinem Regencape stehen, wie die Schafe im Wattenmeer bei
Sturmflut, warte ab, bis es wieder trocken wird und fahre dann einfach in
meinen
Flipflops
weiter.
Nach dem Ort Schartau komme ich zum Niegripper See. Dort gibt
mir ein netter Mann den Tipp, wie ich am Kanal und See durch einen
wunderschönen Hohlweg fahren kann. „Aber passen Sie auf, dass Sie nicht ins
Wasser fallen! ruft er mir noch zu. Der Weg führt tatsächlich sehr nahe an der
Kanalkante entlang.
Es macht Spaß, so durch den Wald zu sausen und die Natur so
hautnah zu erleben.
Kleine Boote liegen auf dem Kanal, ich fühle mich an Momente
in Oregon erinnert.
Nach diesen ersten Stunden haben sich meine Sorgen aufgelöst
und ich kann voller Freude in der Gegenwart radeln. Das Fahrrad hat sich
bereits bewährt und ich bin froh, dass ich ein kleineres Ritzel eingebaut habe,
sodass die Übersetzung angenehmer ist und man nicht so schnell im dritten Gang
treten muss.
Als es wieder ein wenig regnet stehe ich an dem Kanal unter
einer Brücke.
Joanne und Paul aus Perth in Australien sprechen eine halbe
Stunde mit mir, schildern ihre Begeisterung für Deutschland. Sie machen seit 5
Jahren Urlaub mit dem Rad, fahren immer wieder nach Deutschland, weil hier die
Übernachtungen und das Essen so preiswert sind und weil sie die Landschaft und
die Freundlichkeit der Menschen so
lieben.
„Du kriegst erst ein künstliches Knie von mir, wenn du nicht
mehr auf´s Fahrrad kommst!“ hat Paul von seinem Arzt
zu hören bekommen. Seitdem fährt er umso mehr mit dem Rad und es geht ihm nach
einigen kleineren Knie-Ops hervorragend.
Ihre Kinder beschweren sich über die langen Reisen der
Eltern. Ich finde es toll, dass die beiden die Trennung und die weiten Reisen
so gut schaffen. Sie haben eine Liste mit Ortsnamen und fahren hinauf bis nach
Dresden, immer die Elbe entlang, Übernachtungsmöglichkeiten finden sie leicht
auf ihrem Weg, sie reisen in der Gegenwart, sorglos und glücklich, vorbildlich
für mich.
Es gelingt mir mit jeder Minute mehr.
Lustig, eben habe ich die beiden Namen und die Stadt Perth
mal im Netz eingegeben und sie sofort auf Facebook
gefunden. Wir werden also in Kontakt bleiben.
Dann liegt sie plötzlich vor mir:
Die Trogbrücke des Wasserstraßenkreuzes Magdeburg.
Gewaltig. Das Bauwerk wurde im Jahre 2003 vollendet. Riesige
Lastkähne schieben sich in 40 Meter Höhe über die Elbe. Eine Touristengruppe
bewundert das kolossale Bauwerk.
In Hohenwarthe überquert der
Elbe-Havel-Kanal die Elbe mit einer riesigen Trogbrücke, auf der die
Frachtschiffe wie Kraftfahrzeuge auf einer Brücke über die Elbe schweben.
Touristengruppen mit älteren Herrschaften bestaunen das Schauspiel.
Dann fahre ich unter die Brücke und links herum in Richtung
Süden durch die Elbauen nach Magdeburg.
Kurz vor Magdeburg in den Elbauen bei Lostau gibt es wieder
so einen Wolkenbruch mit Blitzen und Donner und ein etwas beleibter Mann flucht
los, versucht sein dünnes gelbes Platikcape überzuziehen, was ihm nur mit Mühe
gelingt, seiner Frau jedoch besser.
Später finde ich dieses Cape auf einem Rastplatz vor
Magdeburg und nutze es anschließend immer zum Abdecken meines Gepäckes auf dem
Rad, damit ich im Regen etwas beweglicher beim Warten auf den Sonnenschein
bin.
In diesem Moment meldet sich Jenny aus New York über Whats App. Sie hat jetzt ihren
Flug geplant und fragt an, ob uns der Termin passt.
Leider verabschiedet sich gerade der Akku bei mir.
Ich wechsel ihn und freue mich dann über ihre
Sprachnachricht, schätze ihre Freundlichkeit und ihren Humor:
„Viel Spaß mit dem Klapprad….. pass auf, dass es nicht
zuklappt!“
Eine große Fahrradbrücke bringt mich hinüber auf das andere
Ufer und an den alten Handelshafen mit seiner großen roten Backsteingebäuden,
ich bin in einer anderen Zeit.
Der Weg geht weiter bis in die Altstadt.
Vor mir liegt das Kloster unserer lieben Frauen.
Nicht weit entfernt stehe ich bald vor der Grünen Zitadelle,
einem Hotel, welches von Friedensreich Hundertwasser entworfen wurde.
(Nach nur 2 Jahren
Bauzeit steht seit dem 3. Oktober 2005 die GRÜNE ZITADELLE VON MAGDEBURG
unübersehbar am Breiten Weg - Friedensreich Hundertwassers Entwurf einer
"Oase für Menschlichkeit und für die Natur in einem Meer von rationellen
Häusern“, Wikipedia).
In einem türkischen Supermarkt kaufe ich einen großen Becher
Naturjoghurt.
Dann fahre ich zur Helmholtzstraße und versuche, meine
Verwandte Toni zu treffen. Sie ist die Enkeltochter der Schwester meiner
Großmutter. Leider ist sie nicht zuhause.
Ein wenig erschöpft geht es die letzten 5 Kilometer die Stadt
hinaus bis zum Flugplatz Magdeburg.
Meine Bleibe für diese Nacht wird das Flughafenhotel sein.
Nur 30,- € die Nacht mit 5,- € Frühstück.
Ein rundlicher, freundlicher Herr öffnet mir.
„Guten Abend, Herr Thoma, hier ist ihr Schlüssel, Herr Thoma,
Zimmer 17 Herr Thoma, bitte füllen Sie noch die Anmeldung aus, Herr Thoma, noch
ein Hinweis, Herr Thoma, dort drüben ist eine gute Pizzeria, Herr Thoma, falls
Sie noch Hunger haben, Herr Thoma!“
Ich habe noch Hunger und genieße die Atmosphäre und den
zuvorkommenden Ober sowie die Spaghetti mit Sahnesoße in der Pizzeria.
Leckeres
Frühstück im Flughafenhotel. Ein guter Tagesbeginn.
Früh fahre
ich los, sitze wieder auf dem kleinen Sattel des Klapprades.
Ich habe die
Schaltung ein wenig justiert und alles ist perfekt.
Keine
Schmerzen, weder im Allerwertesten noch in den Beinen. Kein Muskelkater also.
Möglicherweise
liegt es daran, dass ich oft auch kleine Steigungen bei dem Gefühl von
Anstrengung zu Fuß bewältigt habe.
Gleichmäßiges
Fahren ohne Überanstrengung der Muskeln, prima gelaufen.
Ich entdecke
jetzt neben meiner Orientierung auf den Karten die hervorragende
Fahrrad-Navigation von Google Maps. Früher war ich ja
ein Gegner aller Navigationsgeräte, habe sie aber auf unseren beiden Reisen an
die Westküste der USA schon sehr schätzen gelernt.
Das
Smartphone spricht mit freundlicher weiblicher Stimme zu mir: „In 350 m rechts
abbiegen auf Oscherslebener Straße!“ Dann nach dem
Abbiegen:“Dem Straßenverlauf für 3 KM folgen!“
Das Telefon
steckt in meiner rechten Hosentasche. Wenn die Stimme sich meldet, nehme ich es
schnell heraus und halte es ans Ohr, damit ich die Ansage verstehe.
Es ist ein
Segen, dass ich, ohne anzuhalten, ruhig durch die Landschaft gleite, auf Wege
an Bächen, Kanälen, durch Täler über Wiesen, durch Wälder und durch Orte auf
den abseits des Autoverkehrs liegenden Straßen geleitet werde. Das GPS weiß
immer wo ich bin, pünktlich kommt kurz vor einer Abzweigung die Ansage.
Die Ladung
des Akkus verbraucht allerdings sehr schnell. Ich lege nach einigen Stunden
dann den Ersatzakku ein und schalte das Gerät auch
manchmal aus, um Strom zu sparen.
Viele
Kilometer führt mich der Weg vom südlich gelegenen Flugplatz durch Magdeburg,
um die Außenbezirke der Stadt herum nach Westen. Eine freundliche Dame
begleitet mich mit dem Rad einige Kilometer und beschreibt mir dann den Weg
hinaus aus der Stadt über die Königstraße am Friedhof vorbei und dann um eine
große Mülldeponie herum in Richtung des Ortes Hohendodeleben
und weiter in Richtung des Dorfes Domersleben.
Einige
Kilometer vor Domersleben halte ich betroffen an.
Ich sehe das Auto vor meinem geistigen Auge noch im Kornfeld
liegen.
Auf Tongefäßen mit Kerzen stehen die Worte „Wir vermissen
dich Oma!“ und „Für Mama von Leo und Jule!“
Wie so oft in den vergangen Jahren weine ich, nehme Anteil an
dem Tod der fremden Frau, denke über die Höllenmaschine Auto nach, die mich
auch auf dieser Tour an Bundesstraßen ohne Fahrradwege oft mit rasender
Geschwindigkeit rücksichtsvoll mit weitem Abstand und in einem Fall so nah
überholt, dass ich mit meinem ausgestreckten linken Arm das Metall hätte
streicheln können, sodass mir der Atem stockte und ich überdenke, in was für
eine lebensgefährdende Situation ich mich hier begeben habe.
Der Mut ist jedoch wichtig, mobil bleiben, Abenteuer wagen,
so soll es weiter gehen bis zum Ende.
Ein Radfahrer begegnet mir auf seinem Tourenrad. Er schenkt
mir einen kleinen Zeitungsartikel über die Schönheit des Aller-Radweges,
erzählt mir von seinem Darmkrebs vor 8 Jahren, den er selbst entdeckte, sich
operieren ließ und seitdem jeden Tag mit dem Rad viele Kilometer von zuhause
fährt und von seinen Kindern und Enkeln schwärmt er, von seinen Hobbies.
Nach dem Dorf Domersleben und dann Remkersleben
erreiche ich schließlich einige Stunden später Seehausen.
Auf einer Bank am See sitze ich gemütlich eine Stunde beim
Picknick und ruhe mich aus.
An einem hübschen Kloster mit Café am See geht es vorbei
weiter Richtung Hötensleben.
Wenige Meter hinter Seehausen laufe ich einen Erdweg hinauf.
Beide Seiten des Weges sind von großen alten Kirschbäumen gesäumt.
Wer mag sie wohl gepflanzt haben?
Ich halte an und pflücke die reifen Kirschen in den Mund.
Danach noch in eine Tüte als Wegproviant.
Die Schönheit der Landschaft erfüllt mich mit Freude.
Menschenleere Stunden des Schweigens,
fast wie in einer Meditation gleitet alles vorbei, Wälder,
Felder, Mohnblumen. Kartoffelpflanzen bis zum Horizont, Weizen,
Roggen, Kohl, Mais.
Einige
Stunden später stehe ich wieder im Gewitterregen in einem kleinen Wald unter
meiner gelben Kutte. Warte eine Stunde lang. Danach ist es trocken und die
Reise geht weiter.
Mein
heutiges Ziel sollte die Jugendherberge in Schöningen am Elm sein.
Eigentlich
mag ich Übernachtungen in Jugendherbergen nicht mehr, bin erschöpft und der Weg
bis Schöningen ist noch 30 Kilometer weit.
Plötzlich
sehe ich auf der linken Seite, einige Kilometer vor dem Grenzort Hötensleben,
ein altes großes Gebäude und lese das Schild „Pension zur Kaserne“.
Vorsichtig traue ich mich an dem originalen DDR-Grenzzaun,
der das große Grundstück umschließt, entlang und durch das Tor hinein.
Düstere an die Grenzer erinnernde Figuren mit schwarzen
Plastikkübeln als Helme stehen davor.
Alles erinnert an die Vergangenheit.
An einem der Nebengebäude stehe ich vor einem Schild.
Ich
überlege, ob ich diesen Ort schnell wieder verlassen sollte.
Erst nachdem mich ein kleiner Hund bellend begleitet
erscheint aus einem der vielen Nebengebäude eine freundliche Dame, die mir auf
die Frage nach dem Übernachtungspreis für einen Radfahrer antwortet: „20,- €!“
„Nehme ich gerne!“ sage ich.
Sie zeigt mir ein schönes einfaches Zimmer, das auf dem Gang
gegenüber liegende Bad mit Dusche und Toilette und die große Küche.
Sie erzählt mir von der Geschichte der Kaserne. Hier waren
die Grenzsoldaten der DDR stationiert, kontrollierten von hier aus die Grenze
in Hötensleben. Sie treffen sich jetzt noch manchmal hier für einige Tage in
der Pension und sprechen von den alten Zeiten.
Das Schild wurde auf dem Dachboden der Kaserne gefunden.
Im Keller entdecke ich mehrere möglicherweise alte
Arrestzellen, eine trägt die Nummer 007.
Ich trage mein Rad die
Treppe hoch und stelle es ins Zimmer, sicher ist sicher.
Der Ehemann lädt mich ein, seine Lebensgeschichte anzuhören.
Er ist ein alter Ostpreuße, den es in die Nähe von Ilsede bei Hannover
verschlagen hat. Eine lange Stunde erzählt er mir von seiner Karriere als
Bauunternehmer mit 200 Angestellten, von der großen Pleite nach der
Euroumstellung, von dem Kauf eines kleinen Schlosses nicht weit entfernt von
hier. Von dem Verlust des Schlosses und dem Kauf dieser Kaserne, von der
Renovierung der zerschlagenen Fenster, den Bauarbeiten, dem Ausbau der 3
Wohnungen in den Nebengebäuden in denen jetzt als feste Mieter polnische
Familien wohnen, von seiner Herzkrankheit, seinem Defibrillator und
Herzschrittmacher, den Tabletten, die jeden Monat 400,- € kosten und wie er es
geschafft hat, dass die Krankenkasse diese Kosten trägt.
Ich mache einen Spaziergang, gewöhne mich an das ein wenig
unheimliche Gefühl, dass die Gespenster der Vergangenheit hier noch ausstrahlen
und freue mich, ein gemütliches Zimmer gefunden zu haben, in dem ich mir ein
Spiel der Europameisterschaft am Abend in Ruhe anschauen kann.
Zum Abendbrot gibt es heute nur Kirschen und Schokolade mit
Leitungswasser.
Früh um 6
Uhr geht es heute mal ohne Frühstück weiter mit dem Rad, den Berg durch den
Wald hinunter bis in den Ort Hötensleben.
Am Ausgang
des Ortes bin ich plötzlich an der Gedenkstätte des Mauerdenkmals Hötensleben.
Hier ist die
originale Mauer mit dem Todesstreifen, den Elektrozäunen und den Metallzäunen,
mit den Panzersperren und den Wachtürmen noch zu bewundern.
Ein wirklich
sehenswerter und erinnerungswürdiger Ort deutscher Perfektion.
Es gruselt
mir ein wenig.
Am Paläon vorbei geht es hinunter nach Schöningen. Das moderne
Museum wurde um die im Braunkohletagebau gefunden steinzeitlichen Speere herum
gebaut. Ich habe es vor einigen Jahren schon einmal mit meinem Freund Günter
Firnau besucht.
Der riesige
Braunkohletagebau mit dem daneben stehenden Kraftwerk hat mich schon in meiner
Studentenzeit Anfang der 70er Jahre beeindruckt. Hier konnten mein Freund
Micha, Eberhard und ich damals, als wir verbotenerweise auf einen der großen
Schaufelbagger hinaufgeklettert waren, mit Mühe einem Wachmann entkommen.
Wieder
begeistern mich auf dem kleinen Rastplatz am Tagebau die riesigen vom Eis
abgeschliffenen Findlinge.
Endlich bin
ich in Schöningen angekommen, das Navi führt mich
durch die Stadt bis auf den Burgplatz.
In einem
gemütlichen Café mache ich Rast. Es gibt eine große Tasse Kaffee und ein Stück
Mohnkuchen.
Die fleißige
rundliche Bedienung, die eine lange Schlange der hier um 8 Uhr Brötchen
einkaufenden Kunden abfertigt, füllt meine beiden Wasserflaschen liebevoll auf
und ruft mir auf dem Weg zur Toilette zu: „Junger Mann, nehmen Sie den
Schlüssel mit!“
Ich bedanke
mich bei ihr für den jungen Mann und es geht mir, wie fast immer auf meiner
Reise gut.
Voller
Freude und Beruhigung denke ich darüber nach, dass es mir noch möglich ist, aus
dem Alltag herauszutreten und ohne Auto und Sicherheit der gewohnten Umgebung
diese Fahrt zu machen.
Ich schöpfe
Mut für weitere derartige Unternehmungen, denke an meine Freunde, die solche
Fahrten nicht mehr unternehmen können oder wollen.
Das Navi führt mich aus Schöningen nach Osten Richtung
Helmstedt. Die falsche Richtung, wie ich schnell merke.
An einer
Tankstelle versuche ich meinen Reifendruck zu erhöhen. Die gesamte Luft entweicht
dabei aus dem Hinterreifen. Dann entdecke ich den Schlitz für die 50 Cent, die
es jetzt kostet, wenn man Luft haben möchte.
Ich versuche
an der Kasse zu wechseln. Die Dame sagt, dass die Luft umsonst sei.
Nach einem
weiteren Anlauf weiß ich, dass man den rechten Knopf mit dem Haken drücken
muss, damit der gewählte Luftdruck erzeugt wird.
Es geht
zurück durch Schöningen und bald fahre ich auf der Bundesstraße ohne Radweg 20
Kilometer bis nach Schöppenstedt, der Stadt von Till
Eulenspiegel.
Überall
stehen Holzfiguren von ihm.
Der Weg
führt mich weiter durch schöne Täler auf Radwegen Richtung Wolfenbüttel,
Braunschweig, Salzgitter und Peine.
Eine hübsche
Windmühle steht in einem kleinen Dorf.
In dem
kleinen Ort Salzdahlum in der Nähe von Salzgitter
mache ich im gemütlichen Landhaus Kammerkrug Rast.
Ein sehr
freundlicher junger Ober aus Helmstedt, den es hierher verschlagen hat, lädt
den Akku meines Handys auf. Es gibt leckeren frischen Spargel mit Kochschinken,
Sauce Hollandaise und Butter.
Schließlich
fahre ich viele Kilometer am Mittellandkanal entlang. Eine Gruppe von
Jugendlichen badet im Kanal, lässt sich von einem Seil ins Wasser fallen oder
springt von der Brücke in das kühlende Nass.
Als ich auf
meinem Handy die Reiseroute anschaue, ruft ein Junge der Gruppe zu: „Mensch,
der ruft die Polizei!“
Ich winke
zurück und rufe: „Keine Sorge!“
Ich spreche
dort mit einem Mann, der den Ort Fürstenau erwähnt.
Ich fahre
von meiner Route ab bis in das kleine Dorf, denn hier wuchs meine Großmutter
Hermine Wöckener auf.
Ein älteres
Ehepaar kennt den Namen allerdings nicht und später erfahre ich, dass westlich
von Hannover noch ein weiterer Ort Fürstenau liegt,
in dem tatsächlich meine Großmutter lebte.
Mehrere
Personen haben mir als eine gute und preiswerte Möglichkeit zur Übernachtung
die Gaststätte Geldmacher in Velchede empfohlen.
Ich rufe
dort an und buche ein Zimmer.
Von Fürstenau aus fahre ich die 4 Kilometer durch den Wald nach
Wahle und kurz darauf bin ich in Velchede
und finde die Gaststätte.
„Sind Sie
Herr Geldmacher und machen Sie Ihrem Namen Ehre?“ frage ich den älteren Herrn,
der mir zeigt, wo ich das Fahrrad sicher anschließen kann.
„Nein, ich
heiße Hintze, aber dem Namen versuche ich schon Ehre zu machen!“ antwortet er.
Es gibt noch
ein 3 Gänge Menu. Zwiebelsuppe, Fisch mit Bratkartoffeln, Salat und zum
Nachtisch Eis mit Erdbeeren und Schlagsahne.
Nach einem
gemütlichen Frühstück geht es wieder hinaus aus dem Ort und weiter über die
Bundesstraße Richtung Peine und Sehnde.
Eine kleine
Kubanerin, die den Kaffee serviert, erzählt mir ihre Lebensgeschichte, die
Trennung von ihrem Mann, ihr Kampf in Deutschland um Selbständigkeit, die
Schwierigkeiten beim alleine Großziehen der Kinder.
Das
Navigationssystem führt mich schnell durch die Stadt Peine und weiter zurück
zum Mittellandkanal.
In einem
kleinen Ort kurz vor Sehnde überrascht mich ein neues
Gewitter mit Regenguss.
Schnell kann
ich noch in eine Autowerkstatt fahren und mich dort eine halbe Stunde
unterstellen, bis der Regen aufhört.
Anschließend
geht es noch einige Stunden immer am Kanal entlang, der Hannover im Osten der
Stadt umrundet.
Schließlich
bin ich auf der Brücke an der Podbielskiallee, die mich nach wenigen Kilometern
bis zu dem kleinen Netto-Laden an der Ecke der Pelikanstraße bringt.
Ich schließe
dort das Rad an, lasse das Gepäck auf dem Gepäckträger und kaufe einige
Lebensmittel für meinen lieben Vetter Michi ein.
Im Laden
habe ich dann den einzigen Unfall der Tour:
Ein großer
Angestellter fährt mir von hinten mit einem hoch mit Kartons bepackten Wagen in
den Rücken. Er hat mich nicht bemerkt und entschuldigt sich sofort.
Erfreulicherweise haben die Kartons den Schlag abgemildert, es gibt keine
Verletzungen und ich freue mich, dass mir nicht auf der Fahrt, sondern hier im
Laden etwas Derartiges passiert ist.
Mein lieber
Vetter Michi erwartet mich schon voller Vorfreude.
Wir sprechen
lange miteinander, es ist schön für mich, die Freundlichkeit und Nähe von ihm
zu spüren. Er hat mir viel Gutes getan und ich bin ihm sehr dankbar, konnte ihm
auch ein wenig helfen.
Ich
bewundere, wie er in seinem Leben zurechtkommt.
Von Michi
erfahre ich, dass es die Gräber meiner Großeltern noch auf dem Seelhorster Friedhof gibt und dass dort auch die Gräber
seiner Eltern sind.
Am Abend
essen wir zusammen Chinesisch.
Nach einem
frühen und schnellen Frühstück geht es weiter mit dem Klapprad Richtung
Autobahnabfahrt Bothfeld.
Dort warte
ich auf dem Parkplatz von ALDI auf Charly und Ursel, die schon früh in Berlin
gestartet sind.
Unser Ziel
ist Gütersloh und der 90. Geburtstag von Anna.
Ich klappe
das Rad zusammen und halte meine Lieben endlich wieder im Arm.
Das Rad
verschwindet im Kofferraum des Autos und nach einer guten Stunde haben wir
Gütersloh erreicht.
Die Feier
beginnt.
In der Nacht
geht es zurück nach Berlin. Charly fährt fast die gesamte Strecke, mich hat die
Müdigkeit im Griff.
Gegen 3 Uhr nachts
liegen wir wieder in unseren Betten.
Voller Glück
über die Reise träume ich von meinem nächsten Abenteuer.