MEIN  LEBENSTRAUM

 

ERINNERUNGEN AN VERGANGENES

 

VON

 

ULRICH O. E. THOMA

 

 

2020-04-04 19.00.55

 

 

IMMER NEUE WEGE GEHN

UND DU WIRST SEHN

DAS LEBEN IST SCHEEN

 

 

 

Tod.

Du magst nicht daran denken!

Dummheit oder Angst?

Oder bist du noch ein Kind?

Er ist da.

 

Mach die Augen auf!

Werde bewusst!

 

Frei!

 

 

Inhalt

 

Der kleine Uli an der Regentonne  6

Die Goldene Taschenuhr  33

Die Weihnachtskrippe von Kurt Sohns  38

Fehlervogel Pick   42

Erste Erinnerungen   44

Die Rechenmaschine  61

Onkel Nikolaus und die Krähen   63

Der Rollersturz  67

Mein Patenonkel Otto Schäfer  69

Traum vom Teufel 83

Leckere Pfirsichschnitzel 87

Mein kleiner Bruder Christoph   97

Freundin meiner Mutter  113

Zigaretten, Kaffee und Patiencen   133

Vogelschornstein, Rattenjagd und andere Geschichten   140

Peter Braun in Weyhers  227

Der Vogelfänger  234

Weihnachtsfest  237

Die Volksschule am Gallasiniring  243

Erster Kontakt mit dem lieben Gott  258

Beichte  276

Freiherr-vom-Stein Gymnasium    284

Hermann Vogt  350

Jagdlust in Eichenzell auf die 3 Eschen   356

On the Road mit meinem Bruder Andreas  372

Mein herrlich verrückter Schwager Peter von Taysen   396

Die geliebte Brehmstraße 43 in Hannover  406

Peter Braun   424

Mein Freund Rüdiger  429

Gabi 444

Meine Freundin Marion Scott aus Toronto   446

Pfarrer Kretschmar macht einen Überraschungsbesuch   457

Meine erste Autofahrt alleine  460

Stefan Schimmer mit Marion Scott beim Aale-Angeln   473

Ich habe mich wieder verliebt  478

Der Tod schleicht sich heran   482

Der Birnbaum    515

Leben in meinem Dachzimmer  519

Die Untermieterin   526

Mein Freund Reinhard Keller  533

Alkoholrausch   546

Herr Wehner lernt Latein   550

Tanzschule Gerhard Dücker  554

Haschisch mit Pink Floyd   559

Meine schöne Alpenreise mit Vati 564

Mein Absturz vom Nebelhorn   578

Der Tod von Oma Hermine Wolfhagen   589

Yoga und das deutsche Yoga-Institut von Dr. Isbert in Fulda  591

Ruth   596

Das Märchenbesteck   600

Meine erste Fahrstunde  616

Abschiedstraum    623

 

 

 

Lieber Leser.

Ich habe diese Erinnerungen bereits vor über 40 Jahren aufgeschrieben.

 Jetzt, im Januar des Jahres 2025, ergänze und überarbeite ich sie.

Aus diesem Grunde tauchen einige Episoden und Gedanken im Text doppelt auf.

Meine Lebenszeit ist kostbar und wird täglich kostbarer.

Mein Festhalten an Regeln wird mir in zunehmendem Maße bedeutungsloser.

Deshalb einfach lesen oder auch nicht.

Alles ist sowieso nur eine persönliche Illusion.

Viel Spaß!

 

 

Der kleine Uli an der Regentonne

 

Der kleine Hühnerstall. Zusammengezimmert aus alten Holzlatten und etwas Maschendraht für Sonnenlicht.

Zwölf Hühner, ein schönes Leben.

Eine Kastenfalle aus Holz, selbstgebaut alles von Herrn Wehner.

 

Mittendrin eine kleine Metallwaage. Die Maus wird für zu schwer befunden und fällt.

Ich stehe mit Johannes neben der Regentonne, mit Teer innen und außen beschmiert, halb voll Wasser, rote Mückenlarven, die an der Oberfläche schweben

und bei Berührung der Wasseroberfläche sofort mit zuckenden Bewegungen nach unten sinken.

 

Herr Wehner kommt gebückt aus dem Hühnerstall, die Falle unter dem Arm, öffnet sie und lässt die Maus ins Wasser springen.

Sie schwimmt immer im Kreis herum um ihr Leben.

Wir stehen da mit Tränen in den Augen.

Mit einem Stöckchen helfe ich ihr, sich am krustigen Teerrand festzuklammern.

Herr Wehner stößt sie mit einem Metalllöffel wieder ins Wasser.

Schließlich taucht sie unter und schwimmt auf dem Rücken.

Mit dem Löffel raus gefischt und auf den Acker geworfen.

 

Wir haben Tränen in unseren Augen.

 

 

Dicke, fleischige Blätter der Steingartenpflanzen. Die zur Mauer aufeinandergetürmten runden Kalksteine.

Wenn man die herunterhängenden Pflanzen anhebt, krabbeln Kellerasseln schnell aus dem Sonnenlicht.

Kleine Asseln, die sich zu Kugeln zusammenrollen können.

 

Ich sitze auf meinen Lederhosen auf dem warmen Zement und brenne den Teer in den Fugen mit meinem kleinen Brennglas, bis er schmilzt.

Die warme Sonne auf meinen Beinen.

Plötzlich ein Schmerz und ein Jucken in meinen Knien und Beinen.

Lachen und Weinen.

 

Eine Mauer grenzt den Garten von der Bachwiese oberhalb der Bachmühle mit den großen Kastanienbäumen ab.

An der Mauer steht der gerade gewachsene Birnbaum, dessen untersten Ast ich geradeso mit einem Mutsprung über den Abgrunde erreichen kann.

Wie gut die harten, süßen Birnen schmecken. Ich sitze auf dem Baum und betrachte das Haus.

 

Irgendwann komme ich zu meinem Birnbaum und er ist verschwunden!

 

Der kleinen Pfirsichbaum in Muttis Garten.

Ich pflücke einen Wäschekorb voll mit den Pfirsichen.

Auch er ist plötzlich fort!

 

Hinter mir die Bachwiese und unten der Kastanienhain des Bachmüllers mit den großen hochgewachsenen Bäumen, von denen wir im Herbst

immer die Kastanien mit dicken Stöcken herunterwerfen. Kleine Kastanienmännchen und Tiere mit Streichholzgliedern.

 

Die große untere Bachwiese mit dem kleinen Bach und den beiden Weiden. Ich zündel mit Johannes.

Wir schießen kleine Streichhölzer hinüber in das hohe vertrocknete Gras. Der ganze Hang brennt ab und wir löschen das Feuer mit Mühe

bevor es das Kornfeld erreicht.

 

Im Frühling mit dem kleinen Fotoapparat unterwegs auf der Wiese.

Ein See hat sich gebildet und ich traue mich auf das Eis.

Breche ein bis zur Hüfte und an mir kleben grüne Algenfäden.

 

Der Friedhof dehnt sich weiter über die Bachwiese aus. Röhren werden verlegt und ich krieche durch eine enge Röhre unter der Erde zweihundert Meter bis zum Ausstieg.

Mutprobe bestanden.

 

Der Bumerang fliegt durch die Luft, und mein Bruder Andreas lässt den Drachen auf der großen Bachwiese steigen, wirft die Drachenschnur dann über die Hochspannungsleitung und wir rennen die kleine Bachwiese hinauf und binden die Schnur an unser Balkongeländer.

Als der Wind nachlässt sinkt der Drachen und die Autos fahren über die Schnur. Andreas rennt hinunter und lässt ihn wieder steigen.

 

Als das große Haus des Bachmüllers gebaut wird finde ich auf dem Baugrundstück mit Johannes viele Ammoniten. Dicke schwarze Schnecken in dem gelben Kalkstein. Es ist wie ein Wunder. Wir suchen weiter.

Ich lege sie dann unter die kleine Treppe, die auf den Balkon hinaufführt.

Irgendwann habe ich sie vergessen und sie sind verschwunden.

 

Im Mai stehen Andreas und ich abends in der Dunkelheit auf unserer kleinen Wiese und hören dem Brummen der Maikäfer zu, schlagen sie mit einem Federballschläger in das Gras und sammeln sie mit der Taschenlampe auf.

 

In der Nacht schaue ich von meinem Zimmer unter dem Dach mit dem Fernglas was mir mein Schwager Peter schenkte hinunter zu der Straßenlaterne, um zu sehen, ob dort Maikäfer sind. Als ich einen entdecke, laufe ich runter und klettere die 10 Meter hohe Laterne hinauf, fange den Maikäfer.

 

Mein großer Bruder Andreas beobachtet zwei Männer mit Gewehren, die auf dem Feld oberhalb der Bachwiese Hasen schießen.

Er rennt hinunter und über die Straße, schreibt die Autonummer auf und übergibt sie der Polizei.

Im Herbst bekommen wir dann immer einen Hasen vom Jagdpächter.

Ich hänge ihn im Keller auf und ziehe ihm mit meinem Taschenmesser das Fell ab.

Es tropft nur wenig Blut von dem Hasenkörper auf den Kellerboden.

 

Die Mutprobe bestand darin - es war übrigens Stefan Schimmers eigene Idee - dem lebendigen Maikäfer den Kopf abzubeißen, für fünf Mark, damals als die Jugend schon fast vorbei war. Stefan machte es einige Male.

Er aß auch Regenwürmer gegen Geld und schüttete uns Gläser voll Bier von hinten in die Hosentaschen.

Stefan, der Försterssohn, lebt noch in Eichenzell, wo wir die 3 Eschen in den toten Armen der Fulda mit der Hand fingen, in denen sie sich bei Hochwasser verirrt hatten.

 

Manchmal werden in der Bachmühle unter den riesigen Kastanienbäumen Holzbänke und Tische aufgestellt und Feste gefeiert.

Bunte Lampen von Baum zu Baum und Musik bis spät in die Nacht.

 

Ein Mann versucht das Nest der Elstern hoch oben in dem Kastanienbaum mit einem Luftgewehr herunterzuschießen.

Ich schaue zu.

Der Ast bricht schließlich und die Küken stürzen in die Tiefe.

 

Ich gehe mit Vati in die Wirtschaft der Bachmühle neben dem Bach, den man hier nicht sehen kann, aber er ist da.

Ein dunkler Raum, Holzfußboden, keine Gäste.

Der dicke Bachmüller und Bauer Habersack steht hinter dem Tresen.

Wir gehen hin, und ich darf meine kleinen Hände unter die Öffnung des großen mit gesalzenen Erdnüssen gefüllten Glaskugelautomaten halten.

Vati steckt zehn Pfennige rein, dreht an dem schwarzen Griff und die Nüsse rutschen in meine Hände.

Viele, viele Salznüsse.

Dann gibt es für mich wieder eine Sinalco-Cola.

Gelbe Farbe - sieht aus wie Zitronenwasser.

 

Die Goldene Taschenuhr

 

Mein Vater trägt sie an seiner Kette.

Die will ich auch haben.

Ich muss lange warten auf meine schöne Taschenuhr. Am Geburtstag ist sie endlich da.

Aber sie hat ja gar keinen Klappdeckel!

Jahre später entdecke ich sie in einer Schublade im Keller von Ruth.

Ich frage meinen Bruder, ob er sie haben möchte und er schenkt sie mir gerne.

Ist immer großzügig und hilfreich.

Auch in meinen schwersten Lebenszeiten.

Die Uhr hat mein Großvater seinem Sohn in Oberschlesien zum Examen gekauft und gravieren lassen.

1929.

Es gibt sie immer noch.

Und sie läuft.

 

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Flocki ist wieder ausgebückst. Ich höre sein Bellen von der kleinen Bachwiese herauf. Er muss in der Nähe der Bienen sein, wieder in der Hecke.

Wir laufen runter.

Er kläfft in der Hecke und beißt immer wieder in einen Igel.

Seine Schnauze ist ganz blutig.

Wir zerren ihn nach Hause.

Ob es stimmt, dass Zigeuner Igel in feuchte Erde einrollen und dann im Feuer braten?

Sie sollen sehr gut schmecken.

 

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Emma und Paul Thoma

 

Die fleißigen Eltern meines Vaters.

Emma und Paul.

Aufstehen um halb fünf in der Früh.

Schneidern.

Dann geht Paul um halb sieben Uhr in sein Postamt in Neiße.

Wegen der Kinder sind sie von Lugnian auf den Rat eines Verwandten nach Neisse gezogen.

Hier leben sie in der Obermärengasse in einer Mietwohnung im Parterre.

Das gelbe Haus steht heute noch.

Paul schneiderte einen Mantel für einen Polen.

Der holte ihn ab, kam einige Tage später wieder und verlangte den Mantel.

Mein Großvater sagte, dass er ihn schon abgeholt hatte.

 

Daraufhin zog der Pole ihn vor die Tür und trat ihn in den Unterleib.

Mein Großvater starb anschließend an den Folgen des Trittes.

Seine Nieren waren zerstört, glaube ich mich zu erinnern.

Emma Thoma, geborene Kluss, lebte auch in Königstein, starb vor meiner Geburt im Jahre 1951.

 

 

Die Weihnachtskrippe von Kurt Sohns

 

Vati steht auf dem Stuhl.

Die Krippe, die er in Einbeck mit seinem Freund, dem Maler Kurt Sohns aus Hannover entworfen und mit der Laubsäge ausgesägt hat,

ist aufgebaut, aber das Licht hinter ihr brennt nicht.

Er hantiert an der Fassung der Birne herum und schreit plötzlich laut.

Er steht nur da und schreit.

Der kleine 4jährige Uli geht zu dem Stecker und zieht ihn langsam aus der Steckdose.

Vati hört auf zu schreien.

Der große Vati..

Er hat eine weißliche Brandwunde an der Hand unterhalb seines Daumens.

Vati nimmt mich auf den Arm und lächelt mich an.

Mit seinen großen Augen.

Seine glatte Glatze und sein großer Kopf.

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Sohns

 

 

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Fehlervogel Pick

 

Es war einmal ein Vogel, der hieß Fehlervogel. Er besaß die Fähigkeit, aus jedem beliebigen Text alle Schreibfehler raus zu picken, die die Kinder machten.

Man brauchte nur zu rufen “Fehlervogel pick!” und schon kam das kluge Tier und pickte alle Fehler heraus.

Bei einem Kind waren so viele Fehler im Text, dass der Fehlervogel platzte.

 

Erste Erinnerungen

 

Ein dunkles Haus am Ölmühlweg in Königstein. Ich suche mit Mutti Bucheckern.

Freude am Suchen und am Finden, am Aufsammeln und in die Tasche stecken.

 

Am Ende der Treppe in unserem Haus steht der große Nachbarjunge.

Er hat eine Kohlenschaufel in seiner Hand, holt aus und schlägt auf meinen Kopf.

Ich werde ohnmächtig.

 

Vati zieht mich auf dem Schlitten hinter sich her.

Auch Sherry ist mit dabei.

Sein Hund und der kleine Uli.

Muttis Überraschung für ihn.

 

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Dann sitzt Vati plötzlich mit dem Aquarium auf seinem Schoß im Zug.

Es ist nur noch mit wenig Wasser gefüllt.

Die Fische kommen mit.

 

Wir ziehen um nach Fulda.

Die Ansage im Bahnhof.

Fulda, Fulda, hier ist Fulda.

 

Mit dem Taxi auf die Künzeller Höhe.

Die Oberglogauerstraße hat noch keinen Belag.

Wackersteine und Basalt, Herr und Frau Wehner warten freudig und begrüßen uns.

Haus Nummer 17, am Ende der Sackgasse.

 

Ich werde in das Doppelbett unter eine unbezogene rote Bettdecke gelegt.

Der Seidenbezug fühlt sich merkwürdig auf meinen Beinen an.

Rechts neben mir steht der braune große Kleiderschrank.

Ich muss schlafen.

 

Spaziergang mit Hund.

Mit Mutti und Vati zusammen.

 

Wir gehen vom Dorf Künzell die lange Straße am Hang hinauf Richtung Bachrain.

“Hast du Lust, in den Kindergarten dort oben zu gehen?”

Ich weine vor Angst bei dem Gedanken und sie geben bald auf.

 

Wir finden viele Hallimasche an einem alten Baumstumpf, schneiden sie ab und essen sie mit Butter gebraten zuhause.

Vati kennt alle Pilze auch mit ihrer Bezeichnung auf Latein.

Mutti kann so gut kochen.

Besonders Milchreis mit Zucker und Zimt und  Eierpfannkuchen.

Und oft gibt es auch Linsensuppe und Erbsensuppe.

Sie feuert jeden Tag den Herd an und kocht darauf.

Eine Waschmaschine gibt es nicht.

 

Wir besuchen mit einem Freund der Familie in dessen Auto eine  befreundete Familie Hertl in Weilburg an der Lahn.

Als wir ankommen, weigere ich mich, auszusteigen.

Ich bleibe hinten im Auto sitzen.

Nur nicht hochgehen und aus dem Auto raus zu der fremden Familie.

Ich will nicht.

Bin voller Angst.

Schüchtern, sagen sie dazu.

Sie lassen mich alleine.

Ich warte stundenlang. Von Zeit zu Zeit kommt Mutti und eine fremde Frau und sie versuchen, mich hochzulocken.

 

Es soll dort oben in der Wohnung eine elektrische Eisenbahn geben und eine Tischtennisplatte.

Ich bleibe im Auto.

Nach vielen Stunden gehe ich doch mit hoch.

Es ist eine gemütliche Wohnung unter dem Dach.

Eine Tischtennisplatte und eine große elektrische Eisenbahnanlage.

Wir fahren zurück.

 

Es ist wunderschön bei Mutti im Bett. Wir kuscheln uns aneinander und liegen Wange an Wange.

 

Sie erzählt mir wundervolle Geschichten.

Wir lesen das Buch von den drei Bären, die sich im Walde verirren und unter den großen Tannen schlafen.

Ich lasse das Buch später neu binden und es liegt hier in der Wohnung.

 

Muttis warme große Hände auf meinem Gesicht. “Mein kleiner lieber Junge!”

 

Harmonie und Wärme.

Manchmal schlägt mir die große Hand plötzlich auf die Wange.

„Man muss Kinder auch verhauen, damit sie brav sind!“

Ver-Hauen!

 

Wir sind brav geworden!

 

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Die Rechenmaschine

 

Es soll eine Rechenmaschine geben.

Damit kannst du einfache Rechnungen ausführen.

Ich will sie haben.

Am Geburtstag steht sie endlich auf dem Deckchen am Fenster im Sonnenlicht.

Es ist ein kleines Holzgestell mit bunten Perlen, die sich auf fünf Metalldrähten hin und herschieben lassen.

Ein Abakus.

Das ist also eine Rechenmaschine. Na gut.

Ich hatte mehr erwartet.

 

Dann, später, in China sehe ich den geschickten Umgang mit der Maschine, bin beeindruckt.

Es ist wirklich eine geniale Rechenmaschine!

 

Onkel Nikolaus und die Krähen

 

Abends im Bett.

Andreas und ich. Wir liegen in der Dunkelheit. Das braune Holzradio steht auf dem Kleiderschrank.

Das grüne Auge am Radio leuchtet.

Wir sind gebannt von einem Hörspiel, liegen verzaubert da.

Die Krähen. Alles voller schwarzer Krähen. Sie kreisen um das alte Haus. Es sind verwandelte Menschen. Der Besitzer des Hauses kennt als

einziger die Zauberformel. Er hat alle Freunde und besonders seine verhassten Verwandten in Krähen verwandelt.

Krah, krah, krah, krah.

Man muss den Menschen in Aufregung versetzen, sonst funktioniert die Verwandlung nicht.

Plötzlich kommt Onkel Nikolaus zu Besuch. Er ist der einzige, der auch noch die Rückverwandlung beherrscht.

Die Beiden kämpfen und versuchen sich gegenseitig mit Wortgefechten zu erregen.

Schließlich das letzte “Abrakadabra” und Onkel Nikolaus fliegt mit einem “Krah, krah, krah” in die Nacht hinaus.

Immer wenn ein Auto von Bachrain hinunterfährt, bewegt sich der Schatten des Fensterkreuzes an der Wand nach rechts und dann nach links.

 

Der Rollersturz

 

Mit dem Roller immer den Hügel hinunter, die Straße entlang, die Oberglogauer Straße. Dann durch den Torbogen unter dem Haus hindurch,

ich fahre schon sehr sicher.

So sicher, dass ich beide Hände von der Lenkstange nehme.

Unter der Durchfahrt des Hauses, die Stange und der vordere Gummireifen wackeln schnell hin und her, der Reifen stellt sich quer und ich stürze rüber, auf das Gesicht.

Die Erinnerung ist weg.

Ich bin ohnmächtig.

Im Bett, viele Tage oder Wochen, im Bett.

 

 

Mein Patenonkel Otto Schäfer

 

Otto Schäfer, mein Patenonkel, dessen Namen ich auch trage, ist von Königstein im Taunus auch nach Fulda gezogen und arbeitet an Vatis Schule.

Ich hole ihn am Bus gegen Mittag ab und gehe mit ihm an Bender vorbei in sein kleines Zimmer.

Alles ist dunkel hier. Herr Schäfer zieht die Rollläden hoch. Ich mag ihn.

Der eingefleischte Junggeselle.

War mit Ruth befreundet, aber Vati nahm ihn aus Königstein mit an seine neue Winfriedschule in Fulda.

 

Er ist lieb zu mir.

Wir reden zusammen und ich bin stolz auf meinen neuen Freund.

 

Vati macht mit mir und Flocki, seinem Drahthaarfox, wieder einen unserer langen Spaziergänge.

 

 

Wir laufen den Berg hinunter an der Bachmühle vorbei, dann hinauf nach Bachrain, von der Kirche aus rechts weiter über den Feldweg zwischen Wiesen und nähern uns langsam dem Geißküppel, einem kleinen Vulkanhügel.

Der Weg führt rechts an dem Hügel vorbei, aber ich steige die beiden Kuppen hinauf.

Vati muss unten laufen, damit er nicht zu stark unter seinem Asthma leidet.

Oben grabe ich etwas in der Erde und finde einen weißen Engerling.

Dann auf der anderen Seite hinunter.

 

Vati erzählt mir von den großen Maikäferjahren in Oberschlesien, wo die Maikäfer säckeweise an die Hühner verfüttert wurden und man sie in Öl kochte.

Weiter geht es an der Abdeckerei vorbei, der Geruch von den Kuhleibern ist sehr schlimm.

Ich sehe sie liegen.

Dann das große Windrad, das sich immer dreht. Die Metallstange verschwindet in einem Loch im Boden.

Die Häuser auf dem Florenberg werden mit Wasser versorgt.

Der Wind pumpt es nach oben.

 

Jetzt den Florenberg hinauf zu dem kleinen Friedhof, der am Hang liegt.

Vati liebt es, auf Friedhöfe zu gehen und sich die Grabsteine anzusehen.

Wir besuchen ein besonderes Grab und ich weine etwas.

Vati ist still.

 

Sein Freund Otto Schäfer..

Er war immer so lieb zu mir, wenn ich ihn am Mittag am Bus auf der Künzeller Höhe abholte und er mich mit in sein dunkles kleines Zimmer nahm,

die Rollläden hochzog und wir uns kennenlernten.

 

Er ist noch nicht sehr alt.

 

Später findet die große Hochzeit in einem Hotel statt.

Viele Gäste und ein riesiger weißer Tisch. Ich pendele zwischen den Gästen und der Küche. Ein kleiner Speisenaufzug, es ist schön hier.

Frau Schäfer mag ich auch gerne. Sie hat mich sofort in ihr Herz geschlossen.

Zum Nachtisch gibt es eine große Fürst Pückler Eistorte. Sie schmeckt anders als normales Eis und ist mit Schokolade verziert.

Mich fasziniert der kleine Aufzug an einem Seil, mit dem das Essen aus dem Untergeschoss hinauf in den Saal transportiert wird.

Ich glaube mich zu erinnern, dass ich mich in den kleinen Holzkasten hineinsetzen durfte und einmal nach unten fuhr.

 

Traum vom Teufel

 

Ich sitze auf dem Wohnzimmerboden und spiele mit Bauklötzen.

Alles ist friedlich.

 

Vor mir auf dem Sofa an der Wand liegt Mutti und schläft.

Plötzlich entdecke ich hinter dem Sofa zwei kleine Spitzen.

Der Teufel!

Seine Hörner sind genau zu erkennen. Es muss der Teufel sein.

Ich nehme allen Mut zusammen und klebe mit Knetekitt kreuz und quer ein Kreuz über die Hörner.

Sie verschwinden langsam nach unten.

 

Neben mir bricht der Teufel aus dem Boden heraus, fährt nach oben, macht eine Wende und bohrt mir von oben seine Hörner in den Kopf.

Ein stechender und brennender Schmerz.

 

Ich liege auf dem Boden neben meinem Bett. Mein Kopf berührt den Boden.

Ich bin wieder wach.

 

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Leckere Pfirsichschnitzel

 

Wir gehen meinen lieben Onkel Otto Schäfer im Krankenhaus besuchen.

Der Otto in meinem Namen stammt von ihm.

Mein Patenonkel.

Ruth mochte ihn sehr, aber mein Vater nahm ihn mit nach Fulda an die neue Schule.

 

Es ist immer dasselbe Krankenhaus in Fulda, wo fast alles passierte.

Das Zimmer ist klein und dunkel.

Herr Schäfer liegt im Bett und redet mit Mutti und Vati.

Neben seinem Bett steht ein weißer Teller mit geschälten

Pfirsichstücken.

Sie sehen so lecker aus!

Ich frage Mutti, ob ich sie essen darf. Sie will nicht.

Ich drängele sie, aber ich darf nicht.

 

Mit dem Auto und Herrn Brockhausen zur Ebersburg.

Hans Brockhausen, jeden Abend neben mir auf dem Sofa vor unserem Schwarz-Weiß-Fernseher.

 

Wir haben ja kein Auto und niemand hat einen Führerschein.

 

Ich klettere alleine auf die Burg hinauf.

Von dort sehe ich die Front der Bäume.

Vor den Bäumen tanzen die dicken Maikäfer in Schwärmen auf und ab.

Es ist wundervoll.

 

Der kleine Schallplattenspieler.

Das Lied „Nathalie“ von Gilbert Becaud.

Mutti tanzt und singt begeistert mit, klatscht in die Hände und freut sich über den französischen Text.

 

https://www.youtube.com/watch?v=TilQ8BIHisw

 

Sie liebt fremde Sprachen.

So wie ihr Sohn Ulrich.

Selten lacht sie auf Fotos.

Manchmal im Leben.

Manisch-depressiv, so wie ich auch ein wenig.

Und wie ihr Vater, mein lieber Opa in Hannover.

Ernst Wolfhagen.

Ein toller Mann.

Der Alte mit der Zigarre.

 

Mein Gott Ernst, du sollst doch nicht so viel rauchen!

Ach Gott Hermine!

 

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Als mein Onkel Fritz Vogel, der Schwager meiner Mutter, gestorben war, hat seine Tochter Tini alles von ihm in blaue Müllsäcke gepackt.

Sie ging auch nicht zu seiner Beerdigung in Alferde.

In den letzten Jahren spielte er noch auf dem alten Klavier in der Butze neben dem Bach, wo man sich bücken musste im Haus.

Einige Finger waren in der Kreissäge geblieben, aber es ging noch.

 

Paul fand in den Säcken die Briefe meiner Mutter und die Tagebücher meines Großvaters und meines Urgroßvaters.

Meine Saunafreundin Margot hat sie für mich in liebevoller Arbeit aus der Sütterlinschrift übersetzt und hier sind sie:

 

https://ulrichthoma.de/wolfhagen/

 

Mein kleiner Bruder Christoph

 

Der Tod war zu Besuch.

 

Hat das Wertvollste genommen.

Ein kleiner Engel, mit 2 Jahren noch im Paradies.

So schnell zurück ins Paradies.

 

Das Bild auf dem Fernseher.

Mein Bruder Christoph mit seinem schwarzen Stofftier im Arm.

Der kleine Engel.

Mutti liebt ihn.

Und ihre kleine Tochter Renate.

 

Der kleine Junge.

Noch im göttlichen Zustand der urteilslosen Freiheit.

2 Jahre alt.

 

Er war nie böse, war nie brav.

War einfach!

 

Im Krankenhaus mit Diphterie.

Eine Epidemie in Berlin Charlottenburg.

Als Mutti auch auf einer anderen Station mit Diphterie im Krankenhaus liegt, sagt Vati ihr nichts.

Wenn sie ihrer Frau sagen, dass das Kind tot ist, wird sie auch sterben!

Der kluge Arzt.

 

Sie schaut oben aus dem Fenster der Isolierstation des Krankenhauses.

Wie geht es Didi?

Vati mit der kleinen Renate an der Hand.

Alles ist gut, es geht ihm gut!

 

Sie muss erst wieder zu Kräften kommen.

Die Ärztin hat die Krankheit nicht erkannt.

Sie war eine gute Freundin meiner Mutter in Hannover.

Hat bis zu ihrem eigenen Tod die falsche Diagnose bedauert.

 

Vati geht alleine mit Oma Hermine und Tante Anne, die aus Hannover angereist sind, hinter dem Sarg her.

 

Der riesige Friedhof in Stahnsdorf.

Die Kindergräber aus Charlottenburg.

Es gibt sie noch.

 

Der freundliche Verwaltungsbeamte des Friedhofs am Telefon.

Er sendet mir gerne die Grabkarte per Mail zu.

 

Trinitatis - Feld 16 E - Straße 3 - Nr. 24 - Erdgrab.

 

Ich gehe auch den langen Weg vom Osteingang aus über den Friedhof.

 

Finde die Kindergräber.

Auch den kleinen braunen Stein des Nachbargrabes.

 

Der Stein meines Bruders Christoph wird hier auch in der Nähe liegen.

Unter der Erde vielleicht, so wie sein kleiner Körper.

 

Ich verdanke Didi mein Leben.

1943 findet wieder eine Geburt statt.

Und dann noch ein letztes Mal am 31. Mai 1951.

In Königstein im Taunus.

Vati hat mit Ruth Eckhardt und Otto Schäfer Skat gespielt und gewartet.

 

Meine liebe Kusine Rita, nur mit wenigen Wochen Abstand, auch in Königstein geboren.

Hans, Vatis Bruder, ihr Vater.

Onkel Hans erklärt mir wie man Fernseher repariert, schenkt mir Gleichrichter und ein Messgerät.

 

Er zeigt mir den großen Sender auf dem Feldberg im Taunus, wo er mit den Kindern lange lebte.

Ob die Strahlung auch etwas mit dem Krebs von Rita zu tun hatte.

Schon wieder einige Jahre her, seit sie verschwand.

Schön, dass wir Konrad und Herta noch einmal in Einbeck zusammen besucht haben.

Onkel Konrad hat meine Kopie der Krippe von Jürgen Sohn vollendet.

Schöne Wintertage in den Alpen im Pechhäusl nach Muttis Tod.

 

Demenz und Covid.

Beide sind nun auch fort.

 

1909 in Hannover geboren,

Mutti ist 42 Jahre alt.

Vati wurde von ihr überrascht.

Hab also Glück gehabt.

Immer Glück gehabt.

 

Ich habe ihn noch einmal reingelegt!

Im Bett in Königstein.

 

Fast wäre ich nicht in Erscheinung getreten!

 

Wir haben Glück

Wir haben Mut

 Wir sind gesund

Es geht uns gut

 

 

 

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Vati holt Mutti aus dem Krankenhaus alleine ab.

Die kleine Renate öffnet die Tür der Wohnung in der Leibnizstraße 27.

Mutti und Vati stehen vor ihr.

                                                

Tränen.

 

 

Christoph Grabkarte

 

Freundin meiner Mutter

 

Du hast geweint, Milord - wilde Freude in der Wohnung von Frau Zarypow.

 

https://www.youtube.com/watch?v=kLH5xBbIBnY

 

Beide mögen sich sehr und sprechen über Liebe und Leben.

Mutti vertraut ihr ihre intimsten Geheimnisse an.

Frau Zarypow wird sie mir viele Jahrzehnte später verraten.

 

Frau Zarypow sitzt vor dem Gestell, das ihr Mann ihr liebevoll gebaut hat.

Ein dicker Lötkolben, am Boden zwei dick gefüllte Säcke.

Birnenfassungen kleiner Glühlampen und kleine gerollte Glühdrähte.

Hineinstecken in die Fassung, festlöten, sich nicht die Finger verbrennen und ab damit in die Kiste.

Heimarbeit für einen Hungerlohn.

Doch immerhin ein Lohn.

Aus Polen kamen sie.

Nach Deutschland.

Er spricht kaum.

Aber ich höre seine Stimme noch.

Erinnere mich an Stimmen.

Baut mit mir aus kleinen Steinchen eine Mauer als Windschutz in den Sand auf der Insel Fehmarn in Meeschendorf im Ferienlager der Stadt Rothenburg.

Meine zweite Reise an die See.

Mit Mutti.

Sie kauft mir bei einem kleinen Kiosk eine chinesische Holzschachtel.

Zauberei.

Du legst etwas hinein und beim zweiten Aufziehen des kleinen Faches ist es verschwunden.

 

Vieles ist beim Umzug nach Königstein später verschwunden.

Auch die kleine chinesische Holzschachtel.

Ich wurde nicht gefragt.

 

Wir stehen alle zusammen am 4. Oktober 1957 an der Treppe, die zu unserer Veranda hinaufführt.

Starren zum Himmel.

Plötzlich sehen wir ihn!

„Is sich Sputnik, Mama!“

Sein Satz wird zu einem geflügelten Wort in unserer Familie.

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Sputnik

 

Frau Zarypow lebt schon lange nicht mehr, auch ihr lieber Mann ist gegangen.

Er traute sich in den letzen Lebensjahren nicht mehr aus der Wohnung in Freiburg, fühlte sich als polnischer Ausländer dort, fürchtete sich.

„Herr Zarypow, sie müssen auf die Straße gehen!“

Mein letzter Besuch bei ihnen.

Sie zeigte mir das wundervolle Aquarell meines Onkels, was meine Mutter einfach aus dem Rahmen gerissen hatte, weil es ihr gefiel.

Jetzt liegt es zusammengerollt auf einem Haufen dort irgendwo in Freiburg.

Ilona ist auch gerade von uns gegangen.

Hui….alle sind fort.

 

Wie lange noch?

Täglicher friedlicher Gedanke an die Auflösung.

 

 

Vati läuft mit mir nach Bachrain hinauf. Es ist Sonntag, und wir

gehen ganz hoch bis zum Dicken Turm, ein alter Wachtturm der Stadt Fulda.

In einem Haus in der Nähe dürfen wir den Schlüssel ausleihen und steigen den Turm hinauf.

Den Dicken Turm.

 

Manchmal fahre ich jetzt sogar alleine mit dem Fahrrad zum Florenberg und besuche das Grab am Hang, sitze hier und blicke auf die Welt hinunter.

Ein wenig einsamer und so schön.

 

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Ich sitze in der Badewanne, Mutti mir gegenüber. Ich schiebe immer das große Holzschiff zu ihr und sie schiebt es zurück.

Es fühlt sich dort so fremd an. Wir sind sehr glücklich miteinander.

Dann darf ich nicht mehr mit ihr baden, weil ich zu groß bin. Aber ich bin doch noch nicht zu groß.

Ich sitze in der Badewanne, alleine. Plötzlich geht die Tür auf und Andreas und seine Freundinnen und Freunde schauen herein.

Irgendwann bade ich nur noch alleine.

Einmal darf mein Freund Peter Braun mit mir zusammen baden.

Als ich ihn mit Charly in Bruneck bei Gießen in seiner Villa, die er als Orthopäde gebaut hat, besuche,

erinnert er sich noch an das Erlebnis und an meine Mutter.

 

Mit dem Fahrrad alleine zu Frau Schäfer.

Ich besuche sie sehr gerne.

Sie lebt jetzt wieder alleine.

Eine kurze Liebe mit Otto.

Die letzten Pfirsichscheiben.

An der Straße, die vom Röhlingswald, wo im Mai die Käfer fliegen, nach Fulda hinunterführt.

Sie hat im Garten drei Schafe, und alles ist so gemütlich hier.

Wir trinken etwas und essen Kekse zusammen.

Der Raum ist dunkel.

Ich mag sie.

 

Abends schneiden Vati und Mutti Schweinefleisch in kleine Stücke, kochen alles auf mit Gewürzen und stellen es über Nacht auf den großen Balkon, auf dem man auch bei Kerzenlicht Karten spielen kann.

Am Morgen ist es fest geworden und die Sülze ist fertig.

 

Besonders das Innere der Brötchen schmeckt mir so gut.

Ich sammele es und knete eine dicke Kugel zusammen, die ich auf der Fensterbank aufbewahre.

Als ich sie mir wieder einmal anschaue ist sie mit einem blauen Schimmelfell bedeckt.

 

 

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Zigaretten, Kaffee und Patiencen

 

Immer wieder die gleiche Patience. Dreimal den Haufen wenden.

Sie geht meistens beim dritten Mal auf.

Herr Adalbert von Taysen, der Vater meines Schwagers Peter, behauptet, dass sie bei ihm oft schon beim zweiten Mal aufgehe.

Aber er schummelt und beide lachen darüber.

 

Mutti sitzt alleine am Küchentisch.

Sie legt ihre Patiencen.

Dann wieder die schwere mit den beiden verdeckten Reihen.

Sie geht nur sehr selten auf.

 

Starker Bohnenkaffee.

Endlich eine Kaffeemaschine, bei der das kochende Wasser durch ein silbernes Metallröhrchen blubbert und von dort in den Kaffeefilter tröpfelt.

 

Viele Zigaretten.

Meistens die Marke Stuyvesant.

Mein Freund Joachim hat sich daran erinnert, wie er für meine Mutter mal eine Packung Overstolz bei unserem Laden Bender oben auf der Künzeller Höhe einkaufen ging.

 

In dem Schub des Küchenschrankes liegt jeden Morgen der Zwanzigmarkschein.

Gut haushalten.

Ruhig aushalten.

Aushalten.

Mit der kleinen Henkelkanne hole ich frische Milch von Bender.

 

Sie rubbelt die dreckigen Strümpfe zwischen ihren Fingerknöcheln sauber und stopft sie später auf dem Holzstopfpilz.

Tagelang stopft Mutti die Löcher.

Macht den Herd an mit Holz und Kohlen, kocht darauf, auch die Wäsche in einem großen Topf.

Es gibt oft Erbsensuppe oder Linsensuppe.

Häufig bekomme ich meine Eierpfannkuchen mit Zucker und Zimt.

Manchmal bringt Vati ein ganzes Huhn aus der Stadt mit nach Hause.

Er nimmt es dann am Küchentisch aus und ich staune über die Eier im Bauch, die dort in verschiedenen Größen

hintereinander liegen und zum Vorschein kommen.

Mit der Gurgel kann man trötende Geräusche machen.

 

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Vogelschornstein, Rattenjagd und andere Geschichten

 

Im Badezimmer sind immer wieder Piepsgeräusche von Vögeln zu hören.

Sie kommen aus der Vaillant Gastherme mit dem silbernen Hasen.

Ich gehe zu Herrn Wehner und frage ihn.

 

Er hat ja das ganze Haus alleine ohne Hilfe gebaut und kennt sich aus.

Wir steigen zusammen in den Keller hinunter und er schließt einen Holzverschlag auf.

Das Piepsen ist hier auch zu hören.

Herr Wehner zieht eine runde Metallkappe von dem Schornsteinrohr, welches hier endet.

Ein Haufen schwarzer Vögel fällt auf den Boden.

Ein Vogel lebt.

Ich bitte ihn, ein Drahtgitter anzubringen.

Er prügelte seinen Sohn Karlheinz öfter so sehr, dass er sogar von dem Balkon aus dem ersten Stock hinunter auf die kleine Wiese sprang, um vor seinem Vater zu fliehen.

Am Samstag gibt es einen großen Teller voll mit Kuchen von Frau Wehner. Pflaumenkuchen mit Schmand, lecker und Apfelkuchen.

Manchmal auch den leckeren Zwiebelkuchen mit Grieben.

 

Einmal zeigt er mir, wie man große Steine laufen lässt.

Man darf sie nicht anheben, erklärt er mir liebevoll.

Man lässt sie auf ihren Ecken oder Rändern einfach laufen.

 

Uli, ich gebe dir einen wichtigen Rat fürs Leben:

Ergreife keinen Beruf, wo du mit deinen Händen arbeiten musst.

Ergreife einen, wo du mit deinem Kopf arbeitest!

 

Einmal gab mir Andreas sein Fahrrad neben Bender, dem Lebensmittelladen auf der Künzeller Höhe, denn er wollte gleich mit seinen Freunden los.

Ich sollte es nach Hause schieben.

Ich stellte mich mit einem Fuß auf die Pedale, wie ich es von dem Roller kannte, und rollte bis nach Hause mit der Handbremse.

Plötzlich konnte ich Fahrradfahren.

 

Flocki kommt angelaufen, über das erdige Feld aus Richtung Habersack.

Sein schwarzes Maul voll Blut und einige Federn.

Etwas später kommt Bauer Habersack. “Ihr Hund hat wieder einen Truthahn gerissen!”

Vati zahlt.

 

“Wenn du das nicht machst, dann bist du nicht mehr mein Freund!”

Ich mache es, denn ich habe sonst keine Freunde.

 

Im Keller ist eine Ratte.

Sie hat sich unter den Kohlen versteckt.

Herr Wehner wird geholt. Er geht in unseren Keller und jagd die Ratte hinaus in den Waschkeller, wo sie unter den großen runden Steinofen flüchtet. Dort sitzt sie, und Herr Wehner kann sie nicht erreichen.

Herr Wehner schichtet um den Ofen kleine Holzscheite auf und steckt sie in Brand. Die Ratte soll ausgeräuchert werden.

Er wartet mit einem Spaten in der Hand.

 

Irgendwann springt die Ratte nach vorne und er schlägt ihr mit der Spatenkante in den Nacken.

 

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Wir machen einen Ausflug nach Adolphseck. Die lange Allee entlang, durch die beiden Steinpfosten hinein in das Schloss.

Vor dem Schloss der große Teich mit den vielen bunten Goldfischen.

Im Park gibt es Albinohirsche. Alles ist anders hier. Etwas hübscher als die Welt draußen.

Die großen Sumpfteiche. Ein Pferd soll hier ertrunken sein.

Ein wenig unheimlich.

Dann gehen wir hinter das Schloss zu der kleinen Gartenwirtschaft.

Holztische und Bänke, ein leichter warmer Frühlingswind. Vati bestellt mir eine gelbe Sinalco Cola.

Den steilen Weg hinunter und zurück.

Ich werde hier mit meinem Fahrrad Höchstgeschwindigkeit erreichen.

 

Vati hat keinen Führerschein.

Er fährt jeden Morgen mit dem Bus der Überlandwerke von der Künzeller Höhe zu seiner Winfriedschule in der Stadt.

Hat seine Jahreskarte.

Manchmal geht er am Nachmittag alleine ins Kino, wenn alle Arbeit in der Schule erledigt ist.

Die meiste Arbeit erledigt er am Morgen in der Zeit von halb Fünf bis zu seinem Aufbruch zur Schule, nachdem er für uns die Brote geschmiert hat.

Er war immer fleißig.

 

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Herr Ressel und Johannes. Wir machen uns auf den Weg.

Heute wandern wir zusammen Richtung Rauschenberg. Herr Ressel hat eine Lederbandage um seine Hand. Der Krieg.

Er ist immer freundlich und gütig. Ich mag ihn gerne.

Wir laufen glücklich und voller Abenteuerlust in seinem Schutz viele Kilometer und steigen dann langsam den bewaldeten Rauschenberg hinauf. Er ist rund und beeindruckend.

Als wir im Wald sind beginnt Herr Ressel kleine Eichentriebe zu sammeln. Er holt sie vorsichtig aus dem Boden, kleine Eicheln mit weißen Würzelchen baumeln an dem jungen Holz und legt sie in seinen Rucksack bis ein großes Bündel voll ist.

Plötzlich rennen vier blinde  nackte Mäuse über den Waldboden.

Sie suchen Schutz und wir beobachten sie.

Oben an der höchsten Stelle steht wieder ein dicker Wachtturm wie überall rundherum um die Stadt.

Früher gab es hier keinen Wald. Jetzt wachsen die Bäume fast über den Turm hinaus.

Unter dem Rauschenberg gibt es Geheimgänge. An einer Stelle kann man reingehen. Ein dunkles Loch im Berg. Ich kenne es. Ich sehe es vor mir.

Ich stehe in der Dunkelheit. Schnell wieder ins Sonnenlicht.

Wieder zuhause nimmt Herr Ressel die Eichenstecklinge und pflanzt eine Hecke um sein Haus.

Es wird viele Jahre dauern bis die Hecke dicht und hoch ist.

 

Über die neue Umgehungstraße mit den rasenden Autos gehe ich mit Vati und Flocki hinunter nach Künzell.

In einer Drogerie steht auf dem Tisch ein Spielzeug.

Ein Clown, sehr groß, hängt an einer Reckstange. Der Verkäufer drückt einen Hebel und der Clown turnt.

Ich will ihn haben.

Aber Vati kauft ihn nicht.

Ich weine und bin verzweifelt. Ich wünsche ihn mir so sehr.

Ich bekomme ihn nicht

Monate vergehen, vielleicht sind es sogar Jahre.

Auf meinem Geburtstagstisch steht der Clown.

Ich habe ihn schon lange vergessen und spiele etwas mit ihm.

 

Unter der Umgehungstraße hindurch Richtung Bachrain, dann links bis zu der Stelle, wo an dem kleinen Grashang der Bach entspringt.

Der ganze Hang ist voller Himmelschlüssel und unten wachsen dickstengelige gelbe Sumpfdotterblumen.

Es ist nass und ich klettere den steilen Hang hinauf.

Ich sammele die Himmelschlüssel, ganz viele, bis meine Hand sie nicht mehr halten kann, für meine Mutti.

Sie freut sich sehr.

 

In Sickels am Vogelsberg im Sonnenschein durch offene Wälder und den  Regentropfenwald mit nasser Kleidung hinauf suchen wir Pilze.

Steinpilze, Maronenröhrlinge, Birkenpilze voller Maden im Stiel, Stiel ab - Maden weg, Pfifferlinge, Krause Glucke Ziegenbart, Vati kennt sie alle mit deutschem und lateinischem Namen.

Sammeln, sammeln, welche Lust.

Kleine Schätze.  

Zuhause in der Pfanne alles mit Salz und Gewürzen gebraten. Lecker, lecker.

 

Ich darf wieder dieses Jahr unseren Pfirsichbaum im Garten ernten.

Es sind kleine aber leckere Pfirsiche.

Eine ganze Wäscheschüssel voll.

Es ist wunderbar.

Plötzlich ist der Pfirsichbaum abgesägt. Ich verstehe es nicht.

Auf den Stumpf setzen wir im Winter ein Futterhäuschen für die Vögel.

 

Es ist endlich soweit. Wir dürfen heute die Schwimmprüfung mit Herrn Leineweber im Rosenbad ablegen.

 

Es beginnt mit einer Überraschung.

Ich muss vom Einer rein springen, das habe ich noch nie gemacht, noch nie den Kopf ohne Taucherbrille unter Wasser gesteckt.

Ich stehe auf dem Brett. Vor mir tief unten nur das Wasser. Es ist sehr schwer, aber dann springe ich, denn ich will es ja schaffen. Wasser in der Nase und im Hals, in den Ohren - ich beginne zu schwimmen.

Es ist ein kalter Herbsttag und das große Becken ist leer.

Das Wasser ist auch sehr kalt. Johannes schwimmt in meiner Nähe.

Die Zeit ist lang. Wir schwimmen und beschließen, weil wir uns noch stark fühlen, gleich die halbe Stunde zu schwimmen. Freischwimmer und Fahrtenschwimmer auf einmal.

Wir schwimmen weiter. Ich fange die großen Ahornblätter ein und lege sie wie Schwimmhäute auf meine Hände.

Durchhalten.

Irgendwann sind die dreißig Minuten vorbei. Wir steigen völlig erschöpft und zitternd vor Kälte aus dem Wasser.

 

“So, jetzt noch rauf auf den Dreier!” ruft Herr Leineweber. Das darf doch nicht wahr sein. Das Herz rutscht mir in die Badehose. Angst.

Das schaffe ich nicht mehr.

Aber ich muss doch, sonst ist alles umsonst gewesen.

Johannes springt und ich klettere schlotternd die Metallleitern hinauf.

Auf dem Brett kann ich die Tiefe nicht glauben.

Ich stehe und bin verzweifelt. Nein, das ist Zuviel.

Unten ruft Herr Leineweber:”Spring, Uli, spring jetzt, du schaffst es, los Uli, spring!”

Ich warte lange und springe dann.

Der Aufprall ist hart. Ich tauche tief ein. Schlucke viel Wasser, komme wieder nach oben und schwimme mit letzter Kraft an den Rand.

Die Leiter hoch und raus.

Fahrtenschwimmer überlebt.

Überleben.

Leben.

 

Der Neubau auf der oberen Bachwiese. Der Bachmüller.

Die schöne Wiese.

Ich habe mir aus einer Astgabel eine Zwille geschnitzt und an die Enden des Holzes rote Einweckgummis und ein Stück Leder gebunden.

Sie schießt so stark und weit.

Es macht mir besonders viel Spaß, auf das frische Dach des Neubaus meine Murmeln und Steine zu schießen. Bestimmt achtzig Meter weit.

 

Klack, klack, klack.

 

Wir sitzen alle am Küchentisch. Nur Vati ist in seiner Schule.

Renate und Andreas versuchen mir mit Muttis Unterstützung die Bruchrechnung beizubringen.

Sie teilen Kuchen in Hälften und Viertel und Achtel - natürlich nur mit Worten, halbieren Seile und Lineale, zerschneiden Äpfel in Stücke.

 

Ich verstehe nichts.

Je mehr sie auf mich einreden, desto dümmer komme ich mir vor.

Sie sprechen manchmal auch Englisch miteinander, und ich kann sie nicht verstehen.

Ich muss in meinem Religionsheft viele Zeichnungen machen.

Alles dauert sehr lange und ich bin oft verzweifelt.

Warum musste ich schon mit fünf Jahren in die Schule?

 

Oberwildflecken kann man nur durch eine Straße erreichen.

Das Dorf ist wie ein großes Flüchtlingslager mit Mietskasernen am Ende der Welt.

Ich fühle mich wohl hier, denn meine Schwester Renate ist sehr lieb zu mir.

Mit Peter gibt es immer ein Abenteuer zu erleben.

Es ist heiß heute. Ich ziehe mit meinem kleinen Taschenangelzeug los.

Oben im Wald liegen die Forellenteiche, hier fließt der kleine Bach durch das Dorf.

Die Erde ist zu hart getrocknet, um Regenwürmer zu finden.

Ich suche einen roten Löwenzahnstengel und mache ihn an meinen Haken.

Hinter dem Betonrohr staut sich dicker Schaum vor einem Ast.

Wenn ich eine Forelle wäre, dann würde ich hier wohnen.

Ich schaffe es, den Haken durch den Schaum hindurch zuschlagen.

Zupp, zupp, zupp - eine dicke, große Forelle hängt an der Schnur und ich ziehe sie an Land.

Der Stich in das Genick mit dem Taschenmesser.

 

Ich renne zu meiner Schwester Renate, und sie ist sehr schockiert, hat so etwas nicht erwartet. “Na, von einer werden wir nicht satt!” sagt sie.

Ich fange noch mit Wurm an der gleichen Stelle zwei weitere Forellen.

Die Fische zucken beim Braten in der Pfanne.

 

Jede Nacht heulen die Hunde in den Zwingern wie Wölfe.

Ein sehr friedlich aussehender Schäferhund fletscht plötzlich die Zähne, als ich mich ihm mit meiner Hand nähere, um ihn zu streicheln.

 

Mit meinem neuen Freund aus Oberwildflecken geht es auf Entdeckung durch das Dorf.

 

Wir haben beide nur Badehosen an, denn es ist wieder ein heißer Tag.

Unter einer Zementmauer ein Meer von Brennnesseln.

Ich packe ihn und tue so, als ob ich ihn in die Brennnesseln schubsen will.

 

Er schreit auf und lässt sich fallen, zieht mich mit hinunter.

Wir wälzen uns in den Nesseln.

 

Erst geht es durch den Wald, mit der Jugendbande und dem Fußball, dann kommen wir auf eine entlegene Wiese.

Ich hätte schon etwas ahnen sollen.

Wir spielen ein wenig zusammen.

Dann fangen die Großen an, mich mit dem Fußball auf den Kopf zu schlagen und mit den Fäusten in die Seite zu knuffen.

Der kleine Junge aus der großen Stadt.

Der Außenseiter.

Ich bin verzweifelt und heule vor Schmerz und Erniedrigung.

Hilflos ausgeliefert.

Mein Freund kann mir nicht helfen. Er ist auch wie ich. Deswegen mag ich ihn ja.

Ich komme blutend und weinend zu Renate.

 

Wir staken auf Holzpaletten durch den überschwemmten Keller eines Neubaus. Ich bin mutig.

Plötzlich kippt das Floß ganz langsam um und ich tauche in die braune Baubrühe bis zum Hals.

Ich belüge meine Schwester aus Angst.

 

Johannes und Bernd Gram stehlen bei Bender Süßigkeiten. Ich muss auch mitmachen.

Ich tue es mit Herzklopfen.

Tage später stehe ich mit Mutti am Milchstand und hinter mir werden Johannes und Bernd von Herrn Bender erwischt.

Beim Fleischer gibt es meistens eine Scheibe Wurst zum probieren.

 

Die letzten kalten Herbsttage im Rosenbad.

Johannes und ich gehen gerne hin.

Wir kaufen uns das Brötchen für zehn Pfennige und essen erst das Innere, dann langsam die Hülle auf.

Es liegt sich gut auf dem Handtuch.

Wir sitzen auf dem Holzsteg an der Fulda.

 

Ein toter Igel treibt mit dem Bauch nach oben langsam vorbei.

Die Blutegel sind auch wieder da. Nicht mit den Beinen in den sumpfigen Uferrand kommen.

Ein freundlicher junger Mann spricht mit uns. Er zeigt uns spannende Dinge, die sonst noch nie jemand mit uns machte.

Johannes soll seine Badehose etwas runterziehen, bis hinten der Po ein wenig zu sehen ist.

Er ritzt uns mit einem Stöckchen einen Blitz auf den Oberarm und auf die Oberschenkel.

Johannes geht weg, weil es ihm Zuviel wird.

 

Ich bin vorsichtig, aber neugierig, werde mir dann sicherer, was er will und trenne mich auch.

Im Kessel des Rosenbades unter den Sprungtürmen finde ich häufig beim Tauchen Zehnpfennigstücke, manchmal sogar ein Markstück, einmal ein Zweimarkstück.

Ich bin sehr reich.

 

In Vatis Schule gibt es ein Trampolin.

Herr Leineweber springt mit uns.

Andreas kann es schon sehr gut, Johannes und mir macht es viel Spaß.

Salto schlagen.

Danach in die Umkleideräume.

Wir sollen duschen, aber ich schäme mich zu sehr.

Johannes duscht mit.

 

Rechts neben dem Bauch Schmerzen. Untersuchung im Krankenhaus.

Der Blinddarm muss raus.

Oberarzt Professor Doktor stellt die Diagnose nach kurzem Druck auf die Stelle, die mir kaum noch weh tut.

Einige Tage Schulfrei, ich lasse alles mit mir geschehen.

Es ist ein besonderer Wurmfortsatz - geringelt wie ein Schweineschwänzchen.

 

Die erste und letzte Zigarette. Bernd Gram hat sie mitgebracht, und ich muss mitrauchen.

Sie schmeckt schrecklich. Johannes macht auch mit, aber wir mögen sie beide nicht.

Für Bernd ist es ein Genuss etwas Verbotenes zu tun.

 

Nach dem Rosenbad geht es an heißen Tagen zu Gieselregen, der Bäckerei mit dem guten und billigen Wassereis.

Es gibt immer Riesenportionen für vierzig Pfennige oder mehr.

Vati gibt mir kein Taschengeld, und immer wenn ich ihn um etwas Geld bitte, sagt er “Nein!” und gibt mir dann doch das Geld.

 

Mein kleiner toter Vogel.

Er bewegt sich nicht.

Ich betrachte ihn und berühre seine Federn. Die kleinen schwarzen Augen.

Die harten Krallen. Wie leicht er ist.

Ich lege ihn in eine Zigarrenkiste und begrabe alles unten an der Mauer neben dem Holunderbusch mit den dicken Trieben und dem merkwürdigen Geruch, der dem zerbrochenen Holz und der Schale entströmt.

 

In die Erde.

Nach einigen Tagen sehe ich nach, wie es meinem kleinen Vogel geht.

Ich begrabe ihn schnell wieder.

 

Mit großen Augen schaue ich in die Dunkelheit, in die Dunkelheit hinunter zur Bachmühle, wo der Bus kommen soll.

Mutti hat mir schon einen Schlafanzug angezogen, denn es dauert noch lange.

Der Bus soll Mutti und mich nach Langeoog bringen, Renate und Andreas auch.

 

Ich warte voller Vorfreude auf die erste große Reise meines Lebens.

Am Wattenmeer eine lange Wanderung durch die Nacht, wie tapfer der kleine Junge ist, sagen alle.

Wir warten und ich schlafe in einer Wartehalle auf der harten Holzbank mit meinem kleinen Anorak und der Kapuze.

Das Schiff fährt nicht.

Dann endlich geht es hinüber nach Langeoog.

 

Mit Mutti liege ich eng und kuschelig in einem Kojenbett, gegenüber die liebe Sekretärin von Vati, Frau Möller.

Ich bin geborgen und das Meer ist so aufregend.

Plötzlich sitze ich nackt am Strand und die kleinen Wellen lecken den Sand hinauf. Ein salziges, kribbeliges Gefühl zwischen den Beinen.

 

Unbekannt für mich, es fühlt sich gut an.

Warme Sonne, ein weicher Wind und das Salzwasser, kleine Muscheln, es ist wunderschön hier.

 

Weit entfernt winken Renate und Andreas von einer Sandbank herüber.

Sie holen mich ab, nehmen mich an beiden Armen und helfen mir auf die Sandbank zu kommen.

 

Viele Jahre werde ich noch von der wundervollen Nordsee träumen.

 

Über uns ist wieder ein großer Geschrei.

Karl Wehner jagt Karlheinz Wehner durch die Wohnung, um ihn zu prügeln. Man sagt, er habe schon im Gefängnis gesessen.

Mein Bruder Andreas sagt, dass er ihm mal 50 Mark gestohlen hat.

 

Ich mag ihn und kann es nicht glauben.

Karlheinz springt vor Angst vor Vater Karl über die Balkonbrüstung im ersten Stock hinunter auf die Rasenfläche.

Ganz oben wohnt Herr Czerwionka mit seiner Frau, Grundschullehrer in Bachrain. Ich spiele gerne mit ihr. Wir knobeln mit Streichhölzern. Sie ist sehr freundlich und einsam.

 

Herr Czerwionka und meine … - nein, ich kann es nicht glauben!

Irgendwann ziehen sie aus und wohnen woanders.

 

Auf der Straße vor der großen Bachwiese fangen zwei Jungen aus Bachrain an, mich zu quälen.

Herr Czerwionka sieht es von seiner Terrasse aus im dritten Stock des kleinen Hauses.

Er rennt die Wiese runter und ist in wenigen Minuten da, ohrfeigt die Beiden und schreit sie an.

“Uli, werde niemals Lehrer!” rät er mir.

 

Wenn wir mit Herrn Brockhausen, der Lehrer an einer Berufsschule ist, zu Renate und Annette und Bettina fahren, dann dreht er sich immer beim Rückwärtsfahren in der Oberglogauer nach hinten, sodass er ein schnarchendes Atemgeräusch macht.

Mutti und ich lachen später immer darüber.

 

Wenn wir abends vor dem neuen Fernseher sitzen, dann rollt er immer einen dicken Popel zwischen seinem Daumen und Zeigefinger.

Mutti und ich schauen uns an und verziehen voller Ekel das Gesicht.

 

Warum sitzt er so oft am Nachmittag an unserem Küchentisch?

 

Eigentlich jeden Tag!

Warum hält er sogar Muttis Hand, die ihm gegenübersitzt und ihn anstrahlt?

Frau Zarypow weiß es!

Ich auch.

Aber erst als ich älter bin und meine Mutter schon lange tot ist, erfahre ich Genaueres von Frau Zarypow.

 

Mein Bruder verbrannte das Tagebuch von ihr, als Vati alles las.

Mein armer naiver Vater.

Aber eigentlich geht das ja niemanden etwas an.

Oder doch?

 

Warum? Warum hat jeder Frühling ach nur einen Mai?

Warum? Warum geht jede Liebe ach so schnell vorbei?

Warum? Da, da, da, da, da, da, da, da, da, da?

Da, da, da, da, da. Da, da, da, da, da!

 

Wir singen zweistimmig die Melodie des kleinen Liedes, dessen letzte Zeilen wir vergessen haben.

 

“Schau her, wie man Steine bewegt!” sagt Herr Wehner im Sonnenschein.

“Du musst sie laufen lassen, immer von einer Kante auf die andere, so -

und niemals einen Stein anheben, mit dem ganzen Gewicht, das ist falsch, immer so laufen lassen, so habe ich mein ganzes Haus alleine gebaut, ohne Hilfe!”

 

Er baut eine große Steinmauer und einen neuen Teil mit zwei kleinen Wohnungen an sein Haus.

 

Vor wenigen Monaten ist er am Steuer seines großen Lastwagens eingeschlafen, die hinteren Lastwagen in der langen Kolonne fuhren auf.

Millionenschaden, Entlassung nach vielen Jahrzehnten bei der Firma Feuerstein.

 

“Du darfst nicht schlafen, mein Junge! Weißt du denn schon, was du mal werden willst?

Ich rate dir, studiere und ergreife einen Beruf, bei dem du nicht mit den Händen arbeiten musst, so wie ich, ich war Bauer und komme vom Land, ich weiß, wovon ich rede, werde doch Lehrer, wie dein Vater!” sagt Herr Wehner, der Steine laufen lässt.

 

Endlich alleine mit Mutti in Gersfeld und keine Schule.

 

Wir machen zwei Wochen Urlaub im Hotel Goldener Stern bei Frau Krüger.

Ihre beiden Söhne gehen auf Vatis Schule und er gibt ihnen umsonst Nachhilfestunden.

 

Es ist eine schöne Zeit ohne Spannungen und voller Liebe.

Abends gehen wir oft den Wanderweg am Hügel Richtung Wald.

Auf der Hangwiese gegenüber kommen viele Rehe aus dem Wald.

Ich kann sie gut mit dem großen Fernglas, dass mir mein Schwager Peter schenkte, beobachten.

 

Mutti ruft beim ersten Mal erstaunt:”Schau mal, die vielen Kühe!” und wir lachen zusammen.

In der Fulda stehen dicke Forellen, die man gut von einer Brücke aus beobachten kann.

 

Nachmittags gehen wir oft in das Schwimmbad und spielen manchmal Minigolf.

In dem Tal Richtung Schwedenschanze gibt es ein Wassertretbecken und wir ziehen unsere Schuhe und Strümpfe aus und laufen durch das kalte Wasser. Kneipptreten.

Mutti unterhält sich gerne mit einem gebildeten älteren Herrn im Hotel.

 

An einem Tag bekommen wir plötzlich Lust zu Renate nach Oberwildflecken zu fahren, aber wie?

Ich schlage vor, einfach zu trampen, denn das habe ich schon gemacht.

Mutti stellt sich an die Straße und winkt dem ersten Auto zu.

Es hält sofort, ein dicker Mercedes mit einem freundlichen Herrn.

Wir fahren über die Schwedenschanze bis nach Bischofsheim.

Dann hält eine Frau in einem Lieferwagen und nimmt uns bis an die kleine Abzweigung im Tal mit.

Die letzten Kilometer laufen wir zu Renate, die sehr überrascht ist.

 

Renate und Mutti lieben sich sehr.

Es ist schön hier.

 

Peter Braun in Weyhers

 

Bei Peter Braun in Weyhers.

Herr Braun leitet die Dorfschule und es riecht immer etwas faulig von der Toilette in dem alten Schulhaus, wo die Sechs wohnen. Der große Dieter ist auch da und die eine Schwester mag ich besonders gerne.

Wir pirschen an dem kleinen Bach entlang.

Nach langem Schleichen hebt Herr Braun die Flinte und schießt zwei Wildenten.

Am Abend werden sie von Frau Braun gebraten, die mir mit ihrer freundlichen hellen Stimme rät:”Uli, gehe bloß niemals in so ein kleines Dorf und werde Lehrer in so einer Dorfschule!”.

Ich staune.

Abends spiele ich mit Herrn Braun Schach.

Ruhig und zwingend setzt er mich matt.

Mit dem Schäferzug.

Ich bewundere sein perfektes System der Deckung und des Angriffs.

 

Mit Peter wieder zu dem kleinen Bach Fulda. Wir liegen in der Sonne in unseren Badehosen und schwimmen an einer tiefen Stelle.

Ich mag seinen Körper.

Im Bus fahren wir an einem Kino vorbei und ich frage ihn verschämt:”Peter, was heißt denn das Wort “Sex”?”

“Was, das weißt du nicht!” grinst er mich an, denn er weiß schon viel mehr davon als ich.

Ich dränge ihn lange und endlich verrät er es mir:

”Das heißt “nackt”!” 

 

Wir spielen in der neuen Turnhalle in Weyers barfuß Federball und ich schlafe manchmal bei ihm und er bei uns.

 

Er war ein kleiner Freund.

Als ich ihn mit Charly in seiner Villa bei Gießen besuche, wo er als Orthopäde arbeitet, erzählt er mir, dass meine Mutter uns zusammen in der Badewanne gebadet hat und ihn das sehr beeindruckte.

Das hatte ich vergessen.

Erst später beginne ich mich für Mädchen zu interessieren.

Es gab ja praktisch keine vorher!

 

Der Vogelfänger

 

Im Winter baue ich an den kleinen Holzkasten im Schnee eine Klappe.

Wenn der große Kirschkernbeißer im Kasten ist, ziehe ich das Stöckchen mit einem langen Seil weg.

Ich nehme den Vogel in die Hand und halte ihn fest.

Der Schnabel ist sehr stark und er beißt mich.

Dann lasse ich ihn fliegen.

Einmal habe ich eine kleine Meise gefangen und nehme sie mit in unsere Wohnung in den Wintergarten.

Plötzlich schlüpft sie aus meiner Hand und fliegt gegen das große Kippfenster, will in die Luft, in den Garten hinaus.

Ihr Genick ist gebrochen.

Ich weine bitterlich.

Ich werde nie wieder Vögel fangen.

Ich begrabe sie.

 

Weihnachtsfest

 

Langsam kommt die Weihnachtszeit immer näher und eine freudige Unruhe ergreift von mir Besitz.

Es hat schon genug geschneit und wir können mit dem Schlitten die Königsbergerstraße, auf der noch Erde und kein Asphalt liegt, runterfahren.

Man müsste Wassereimer ausschütten, plane ich, damit es noch eisiger und glatter wird.

Dann endlich, der Weihnachtstag.

Das Wohnzimmer ist den ganzen Tag abgeschlossen und ich habe Lust durch das Schlüsselloch hineinzusehen aber auch Angst vor dem Pfeffer.

Irgendwann endlich das Klingeln einer Glocke.

Da steht er, der Weihnachtsbaum voller Kerzen mit Kugeln und den merkwürdigen kleinen Vögeln aus Glas.

Vati spielt am Klavier und wir singen die Lieder.

Dann das dicke Paket aus Hannover, in dem immer ein Geschenk für mich drin ist.

Dieses Mal ist es ein kleines Holztor mit einem Torwart, den man an einem Stöckchen hin und her bewegen kann.

Wir essen die Gans mit Rotkohl und Klößen.

Am Abend spielt Vati mit uns allen dann Lotterie.

Es ist jedes Jahr ein wundervolles Fest.

Die Krippe von Sohns ist auch dabei.

 

Ich wünsche mir so sehr Holzstelzen und an meinem Geburtstag stehen sie dann plötzlich da, mit einer Tüte gebrannter Mandeln.

Vati hat sie für mich beim Schreiner anfertigen lassen.

 

Ich bin jetzt vierzig Zentimeter größer.

 

Die Volksschule am Gallasiniring

 

Es ist soweit.

Mit Mutti stehe ich vor dem Rektor mit dem Glasauge.

Er lächelt mich freundlich an und sagt:

”So, Uli, male hier einmal ein Haus auf diesen Zettel!”

Ich male ein Haus mit einem kleinen Fenster.

“Sehr gut, ihr Junge ist mit seinen fünf Jahren schulfähig!”

 

 

 

Plötzlich sitze ich in einer Klasse mit einundvierzig anderen Kindern in der vorletzten Reihe mit meiner Latzhose

ziemlich weit hinten.

Zwei Plätze weiter sitzt meine Lotte mit den blonden Haaren.

Ich mag sie.

Ich bin einer der Größten und der Jüngste von den 42 Schülern.

Vorne steht Herr Pösel mit seinem Schnauzbart, den ich sofort mag.

Er hat sofort gemerkt, dass ich sehr schüchtern bin und voller Angst vor dem Neuen.

 

Aber ich soll von der Tafel das Wort “Otto” in Schreibschrift mit runden Linien abmalen.

Ich kann es nicht, ich kann es nicht, ich kann den Stift nicht halten, wie ich es soll, ich kann es nicht, Angst und Hilflosigkeit.

 

Dann male ich es mit Mühe, will alles besonders gut und richtig machen und irgendwann ist auch das vorbei.

 

Aber es wird immer so oder so ähnlich bleiben bis sehr viel später.

 

 

Alle sind schon fertig und Herr Pösel steht neben mir und drängt:”Uli, du musst jetzt schnell zum Ende kommen!”

Ich habe furchtbare Angst und Not, meine Muskeln ziehen sich fast schmerzhaft zusammen.

Irgendwie ist es ein richtig schönes besonderes Gefühl und in meiner Furcht genieße ich es.

Aber das passiert nur wenige Male bis viel später dann.

 

Johannes geht wie jeden Tag mit mir nach Hause.

An dem neuen Sportplatz entlang neben uns rechts die Hauswände der Reihenhäuser.

Plötzlich an der Wand eine Katze, die eine dicke, fette Maus immer hin und her scheucht.

Die Maus kann nicht entkommen und die Katze spielt ihr Spiel weiter.

Ich bin verzweifelt und will die alte Maus retten.

Keiner hilft.

Ich greife nach der Maus und versuche sie in die Hand zu nehmen.

Sie beißt mich plötzlich und kräftig unter den Fingernagel meines Zeigefingers, dass das Blut läuft.

Voller Wut gebe ich auf und werfe sie auf den Hang des Sportplatzes nebenan.

 

“Morgen bin ich nicht in der Schule und meine Kollegin wird euch unterrichten!” sagt uns Herr Pösel.

Auf dem Nachhauseweg sagen mir mehrere Kinder:

“Die ist böse!”

Am Morgen bleibe ich im Bett und warte, bis Mutti kommt.

“Ich bin krank und kann heute nicht in die Schule gehen!”

Mutti holt das Fieberthermometer und sagt dann, dass ich doch in die Schule gehen könne.

Ich weine verzweifelt los und erzähle ihr von der bösen Lehrerin, weigere mich schreiend, zu gehen.

 

Sie zieht mich mit Gewalt an, setzt mich hinten auf ihr Fahrrad und ich werde heulend und schluchzend bis vor die Klassentür gebracht.

Die Tür geht auf und ich stehe vor der Klasse.

 

Die Lehrerin spricht mit Mutti.

Sie ist lieb.

Der ganze restliche Schultag ist gut.

Sie war ja doch lieb.

 

Erster Kontakt mit dem lieben Gott

 

Zum ersten Mal in meinem Leben sitze ich mit Mutti in der Kirche neben

der Schule am Gallasiniring. Früher war es eine Pferdehalle.

Ein Pfarrer steht auf der Kanzel und predigt.

Er spricht vom Heiligen Nepomuk.

Wenn er den Namen ausspricht, zucke ich jedes Mal vor Schreck zusammen, denn er schreit das “muk” laut ins Mikrofon.

Die Kirche ist mir unheimlich und wir gehen erst mal nicht mehr hin, viele Jahre später dann gehe ich Freitag in den Schulgottesdienst, Sonntag um halb neun in die Kindermesse und dann um halb zwölf mit Vati nochmal, jahrelang.

 

Auf dem Nachhauseweg warten immer die Zwillinge auf uns. Lotte geht mit Johannes und mir.

Da sind sie.

Sie sind viel kleiner als wir drei, aber wir haben Angst vor ihnen.

Einer der beiden hat einen großen Wackerstein in seinen Händen und wirft ihn Lotte auf den Fuß.

Sie schreit vor Schmerz und wir helfen ihr nach Hause.

Ich mag Lotte gern, besonders ihre blonden Zöpfe.

 

Ihr kleiner Bruder zeigt mir sein Zahlenschloss.

Viele Jahre später sehe ich einen der beiden Zwillinge wieder.

Er hat eine richtige kleine Peitsche in der Hand und schlägt auf unserem Spielplatz ein Mädchen damit.

 

Er peitscht sie richtig aus.

Alle haben Angst und das Mädchen schreit hilflos.

Ein Mann schleicht sich von hinten an den Zwilling, entreißt ihm die Peitsche und zerbricht sie.

Er läuft heulend davon.

 

Manchmal geht Herr Pösel an der Wand des Klassenraumes entlang nach rechts hinten. Er rückt das Holzkasperletheater ab und wir sehen ihn dahinter verschwinden.

Der Vorhang öffnet sich irgendwann langsam und Kasper erscheint.

Er spricht mit uns, erzählt uns vom Teufel, der dann plötzlich auch da ist.

Er hat eine völlig andere Stimme als Kasper und ist sehr böse.

Wie in unserer Geschichte im Schulbuch schüttet Kasper dem Teufel am Ende Tinte über den Kopf.

Die Figuren leben.

Obwohl ich Herrn Pösel jedes Mal hinter dem Wandschirm verschwinden sehe, kann ich kaum glauben, dass er spricht und nicht die Figuren.

Johannes geht es auch so.

 

Im Winter darf ich mit Johannes und anderen Kindern im Klassenraum bleiben und wir fädeln kleine Wattebällchen auf. Es dauert sehr lange und irgendwann rieselt der Schnee von der Decke unseres Klassenraumes herunter.

 

Ich werde mit Johannes und anderen Schülern ausgewählt.

Wir dürfen bei einer Aufführung mitmachen, die sich Herr Pösel ausgedacht hat.

Jeder zieht einen Nylonstrumpf über sein Gesicht, es fühlt sich komisch an.

Dann setzen wir eine Pappmaske auf den Hinterkopf und üben Turnbewegungen zu “Alla Turca” ein.

Es sieht sehr merkwürdig für die Zuschauer aus, denn alle Bewegungen sind ja verkehrt herum.

 

Ein warmer Sommerabend.

Das Jahr 1957.

Wir stehen alle an der Treppe vor der Veranda und schauen in den dunklen Nachthimmel hinauf.

Endlich entdeckt jemand den kleinen leuchtenden Punkt und wir staunen auf die schnelle leuchtende Bewegung.

 

Herr Zarypow sagt:”Is sich Sputnik, Mama!” und Mutti lacht voller Freude über den lustigen Satz.

Er wird zu einem geflügelten Wort für uns.

 

Mutti und Frau Zarypow mögen sich sehr. Sie singen und tanzen zusammen in Frau Zarypows Wohnung zu “Du hast geweint, Milord” von Edith Piaf und “Nathalie” von Gilbert Becaud.

 

https://www.youtube.com/watch?v=dBiK69v-eXk

 

https://www.youtube.com/watch?v=CRVvLLNN5wM

 

Frau Zarypow kann sich genau wie Mutti sehr begeistern, für Musik, Liebe und Gefühl.

Sie sind Freundinnen in der Einsamkeit des Fuldaer Lebens.

Frau Zarypow bringt uns kalten Hund und Mohnkuchen.

Sie sitzt an dem großen Lötkolben und lötet in Heimarbeit unzählige kleine Drähte an unzählige kleine Taschenlampenbirnen.

Ilona spricht kaum Deutsch, als sie aus Polen ankommen.

Mutti hatte nie irgendwelche Vorbehalte gegen Ausländer, für sie zählte nur der Mensch.

Sie schenkt Frau Zarypow ein wunderschönes Aquarell von Helmut, braune Boote am Strand, nimmt es einfach aus dem Rahmen und gibt es ihr. Mutti ist sehr großzügig, sehr großherzig.

Andere Werte bestimmen ihr Leben.

 

Wie schön, dass ich so fühlen kann wie sie.

Ich bin voller Liebe.

Sie ist mein Ein und Alles.

Meine Mutti.

 

Beichte

 

Der große Tag ist da.

Wir treffen uns nachmittags mit Pfarrer Kretschmar in der Kirche am Gallasiniring.

Es ist der Tag unserer ersten Beichte.

Wir müssen zwei Stunden lang auf den harten Holzbänken knien.

 

Ich spüre meine Knie vor Schmerzen nicht mehr. Ich soll in mich gehen und mich auf den wichtigen Moment vorbereiten.

Nacheinander gehen die Kinder dann in den Beichtstuhl zu Pfarrer Kretschmar.

Zitternd und aufgeregt gehe ich endlich auch hinein, flüstere meine gelernten Sätze und sage dann, dass ich böse zu meinen Eltern gewesen bin und meinem Bruder Schimpfworte gab.

Ich hatte mir meine Sünden sorgfältig aus der Liste im Gesangbuch herausgesucht.

Als Buße muss ich drei Vaterunser beten und werde von meinen Sünden freigesprochen.

 

Als ich wieder aus der Kirche raus bin, geht es mir etwas besser.

Immer wenn wir an dem Gebäude vorbeigehen, sollen wir einen Knicks machen und unsere Mützen abnehmen,

hat Pfarrer Kretschmar gesagt.

 

Ja, die Beichte war die Voraussetzung für die erste Kommunion.

Die haben wir dann auch mit Lehrer Pösel zusammen erlebt.

Johannes ist hier auf dem Bild vorne zu sehen, ich etwas abgedeckt weiter hinten links.

 

 

 

Die Schule ist aus und Johannes geht mit mir zusammen die Treppe runter.

 

Unten auf der rechten Seite stehen einige Kinder und versuchen durch ein Schlüsselloch zu schauen.

Wir gehen auch hin. Dort sollen Kinder geimpft werden und wir sind beide neugierig.

Gerade bevor wir zu der Tür mit dem Schlüsselloch treten, kommt der Schulleiter die große Treppe herunter.

 

Die anderen Kinder schreien uns an: “Schnell weglaufen!”

Johannes und ich rennen los, der Rektor mit dem Glasauge hinter uns her, über den halben Schulhof, rechts die große Steintreppe hinunter und dann packt er uns.

 

Zurück mit ihm heulend in die Schule, die Treppen wieder hinauf in sein Rektorenzimmer.

Hier stand ich doch schon einmal.

Er befragt uns ganz ruhig und wir heulen beide wie die Schlosshunde, obwohl wir überhaupt nichts gemacht haben.

Dann beruhigt er uns wieder und lässt uns laufen.

Wir haben öfter mal bei ihm im Vorbeigehen geklingelt.

 

Freiherr-vom-Stein Gymnasium

 

Es ist nie eine Frage, ob ich auf das Freiherr-vom-Stein-Gymnasium gehe werde oder nicht.

 

Johannes und Reinhard Keller, mit dem ich nicht sprechen darf, weil er ja Protestant ist, kommt auch mit in die neue Klasse.

Herr Tschöpp ist ein scheinbar lockerer kleiner Mann, der von seinen Reisen als Sportflieger erzählt und mir den Spitznamen “Schlangentöter” gibt.

Er ist ein guter Kumpel und wir machen mit ihm herrliche Wandertage in die Rhön, mit Jungenkampfspielen, Erbseneintopf über Lagerfeuer und Besichtigung der Fuldaquelle auf der Wasserkuppe.

 

Auf einem Schulfest wird von ihm ein riesiger Maibaum in einem Loch, das wir graben, aufgestellt.

Vorher haben wir den Stamm unter seiner Anleitung mit Seife eingerieben.

Dann müssen die Jungen barfuß auf dem Fest hinaufklettern.

 

Wenn jemand sich falsch verhält, gibt es ein Ritual:

Er muss sich auf einen Stuhl knien und Herr Tschöpp gibt ihm zwei oder drei Schläge auf den Hosenboden.

Wir finden alles in Ordnung.

Nur einmal wundere ich mich, dass ein Junge seine Schuhe und Strümpfe ausziehen muss und Herr Tschöpp die Sauberkeit seiner Füße begutachtet.

Es war Günter Partosch.

 

Auf dem Klassentreffen nach dem Abitur merke ich, dass Herr Tschöp ein Toupet trägt.

 

 

Pustend kommt Lehrer Winter den Gang entlang, wie immer zwei Bücher unter seinen Arm geklemmt.

Wir stehen schon zitternd auf unseren Plätzen als er den Klassenraum betritt.

Er setzt sich, stützt seinen Kopf in die Hände, sieht uns nicht an und spricht sein “Guten Morgen - setzt euch!” wie immer in einem Atemzug.

Sein merkwürdiger östlicher Akzent unterstreicht den Auftritt.

Wir halten zitternd die Zettel unter den Bänken fest und wiederholen im Geiste die Merksätze während er in seinem Notenbuch blättert.

Erwischt es mich diesmal oder nicht?

Tomaeeh! Koum mal nach vooorneeh!”

Ich erstarre vor Schreck.

Stehe vorne neben ihm und er schielt lächelnd, scheinbar freundlich von unten herauf.

Naaah, mein Jungeeh, sag uns doch einmal was das GGT iiist!”

Ich beginne den Satz herunterzuleiern, den weder ich noch die meisten anderen meiner Klassenkameraden verstanden haben.

“Das GGT ist der größte gemeinschaftliche Teiler zweier Brüche, von denen der eine ein ...!” ich stocke, denn ich habe nichts verstanden und ich darf ja keine Fehler machen.

 

“Na, was iist denn loos mit diir, Jungeeh?” Winter schaut mich an.

 

Dann macht er seine Bewegung mit dem linken Arm, wie ein Drehen an einer großen Kaffeemühle und wiederholt dabei den Satz, den ich gerade gesprochen habe, hält aber vor dem Ende an und fragt mich dann:”Weiter!”

Ich kann nicht weiter, bin den Tränen nahe, denke daran wie er Günter Partosch bei den Haaren packte und mit dem Kopf gegen seine falschen Berechnungen an der Tafel schlug, dabei brüllte “mit dem deuersten Fuunkdaxiih kome ich zu deinen Eltern gefaahreen, Juungeeh, biist duuh dumm?

Ja, ich glaube auch, dass ich dumm sein muss, denn ich habe ja die Bruchrechnung und die Merkregeln des KGV und des GGT kaum verstanden.

 

Beim Schulfest füllt Herr Winter Wasserstoff aus großen Flaschen in Hunderte von Luftballons.

Jahre später klatscht und trommelt die gesamte Schule bei Winters Verabschiedung und er glaubt, dass sie ihn so sehr liebten.

Irgendwie war er auch liebenswert.

 

Anfang der 70er Jahre stelle ich Pakete in Berlin zu.

Plötzlich, am Nollendorfplatz, stehe ich vor einer Wohnung und klingele an der Tür.

 

Huch, da steht Herr Winter vor mir.

Moment, das kann doch nicht wahr sein!

Ich frage ihn, ob er einen Zwillingsbruder in Fulda habe.

Er sagt:

„Ja, ich haabe eineen Bruudeer in Fulda!“

Urkomisch für mich.

 

“Du Schlappschwanz!”

“Halt die Arme oben und weiter kreisen, langsamer!” schreit Lehrer Jacobs Johannes im Sportunterricht an.

Johannes kann nicht mehr, wie wir alle nach zehn Minuten Armkreisen.

Wir werden fertiggemacht und Herr Jacobs grinst.

 

“Thoma, Müller - an die Tafel!”

“Ihr zeichnet jetzt den Rhein mit allen Nebenflüssen, Gebirgen und Städten und Grenzen an die Tafel, zehn Minuten Zeit!”

 

Ich stehe hinter der Tafel, bin verzweifelt. Herr Jacobs hat uns weder den Rhein, noch Australien beigebracht. Er macht nämlich kaum Erdkunde mit uns, sondern geht immer in den Physiksaal, wo wir Physik lernen.

Ich mag Physik besonders gerne und mich interessieren die Versuche.

Einmal hat er die große Flasche mit dem Quecksilber verschüttet und musste das Zeug mit der Quecksilberzange wieder aufsammeln.

Ein anderes Mal warf er scheinbar ein Fünfmarkstück weit ausholend auf uns, ließ es aber unauffällig über die linke Hand in der linken Hosentasche verschwinden, der kleine Zauberkünstler.

 

“Als wir auf der Klassenfahrt am Edersee waren, hatte ich den Jungen streng verboten, auf die kleine Insel zu schwimmen!”

Wir lauschen andächtig dem alten Klassenlehrer, denn wir sind ja Untertertianer und gerade in der Pubertät.

 

“Einer ist doch hingeschwommen und hat sich an den scharfen Steinen die Beine aufgeschnitten!

Dann mussten mehrere Schüler sich die Badehosen ausziehen, damit wir ihn verbinden konnten!”

Herr Jacobs grinst uns an und wir erröten vor Scham.

 

“Wenn ich meine herrlichen Bergwanderungen auf die höchsten Gipfel der Alpen mache, dann gibt es nichts Schöneres für mich als Totalbräunung!”

Wir staunen.

 

Jetzt stehe ich hier und ziehe vorsichtig aus dem Nichts den Lauf des Rheins, zeichne einen kleinen Bodensee, den Neckar, Heidelberg, den Main, Frankfurt, den Taunus, da bin ich ja geboren, die Lahn, Bonn, ich zittere vor Angst, weiß nichts mehr und kann nicht mehr denken vor Aufregung.

 

“Was, das ist alles? Nichts gelernt! Ihr habt ja keine Ahnung! Hinsetzen!

 

Ihr kriegt beide eine Fünf auf dem Zeugnis!”

Auf der Fahrt mit Herrn Brockhausen nach Oberwildflecken erzähle ich Vati verzweifelt, was passierte.

Er sagt, “na warte mal, den werden wir schon kriegen!”

 

Am nächsten Morgen ruft Vati seinen Kollegen Theo Fruhmann, unseren Schulleiter, an.

Herr Jacobs wird kurzzeitig beurlaubt und fährt zur Winfriedschule.

 

Nach dem Gespräch mit Vati behandelt er mich und alle Kinder unserer Klasse mit großer Vorsicht.

Vati hatte ihm die Hosen ausgezogen.

 

Jahre später sagt er mir neben seiner dunklen Sportumkleidekabine:

”Du musst dir jeden Tag einmal den Atlas ansehen!”

 

“Na, macht mal´ Vorschläge, was unsere Klasse für einen Stand auf dem Schulfest aufstellt!” grinst Jacobs uns über sein Pult an.

 

Ich melde mich auch: “Wir könnten einen Basketballständer aus dem Sportgebäude heraustragen und auf dem Schulhof aufstellen und bei erfolgreichem Treffen, Preise ausgeben!”

 

Nach vielen anderen Vorschlägen hat Herr Jacobs eine Idee und entscheidet auch gleich, dass  es so gemacht wird.

 

Er spricht von einem Basketballständer aus seinem Sportbereich.

Als er fertig ist melde ich mich.

“Na, Thoma, was willst du denn noch?”

“Herr Jacobs, das war meine Idee gewesen!”

 

“Was, du spinnst wohl Thoma!

Ich habe die Idee doch eben erst geäußert!”

Ich bin still.

 

Dr. Theo Fruhmann erhielt die Schulleiterstelle, obwohl mein Vater sich auch beworben hatte.

 

Es stellte sich heraus, dass die “Mischehe” mit Mutti daran schuld war.

Vati beschwerte sich in Wiesbaden beim Ministerium und ihm wurde sofort die nächste freiwerdende Stelle in Fulda versprochen.

“Fulda wäre eine wundervolle Stadt - wenn es die Fuldaer nicht gäbe!” waren seine Worte.

 

“Der ist doch nur Sohn eines Bauern!”

“Ich war auch ´nur´ Sohn eines Schneiders und Briefträgers und will so etwas an meiner Schule nie wieder von ihnen hören, Herr Kollege!”

Vati setzte sich immer gradlinig für die Gerechtigkeit ein.

 

Die Gruppe der Kinder ist bunt gewürfelt, aber sie leben alle hier in Oberwildflecken.

Endlich bin ich wieder bei Renate und Peter zu Besuch. Es ist immer schön und interessant hier.

Ich genieße die Familienatmosphäre und das viele Spielen und Lachen mit ihnen und natürlich auch das Abenteuer der wilden Gegend um den Kreuzberg.

Oben steht das alte Kloster mit den Bernhardinern, dem kleinen chinesischen Laden und dem guten Klosterbier, das ich erst später trinken werde.

Eine kleine Holzschachtel hat mir Mutti gekauft, damals in Fehmarn, in Meeschendorf an einer kleinen Bude.

Wenn man etwas hineinlegte, die kleine Schublade hineinschob und dann wieder herauszog, war es verschwunden.

 

Der Trick war ein kleiner Holzschieber am hinteren Ende und ein doppelter Boden.

Alles aus China. Die Schachtel war sehr teuer aber Mutti kaufte sie mir.

Wir gehen in Richtung Kreuzberg und ich freue mich mit meinem Freund und den anderen Jungen zusammen zu sein.

Ich bin stärker und habe doch etwas Angst.

An einer Betongrube weit außerhalb des Dorfes fehlen die Metalldeckel und viele Frösche wohnen hier.

In der Grube schwimmen viele dicke Frösche auf dem Rücken.

Sie sehen eklig aus.

Ich frage und er sagt mir wer es war.

Mit einem Strohhalm durch den After aufgeblasen von dem Jungen, den ich nicht mag.

Wir sind beide traurig.

Weiter zu unserem Baum.

Ich beginne hinaufzuklettern, bin der Mutigste von allen anderen und klettere bis in die höchste Spitze des Baumes. Es ist ein wundervoller Kletterbaum, weil die Äste nur geringen Abstand voneinander haben und es der höchste Baum in der ganzen Gegend ist.

Ich werfe die kleinen Holzfrüchte herunter auf die anderen Kinder und wir bleiben lange im Baum sitzen.

Manchmal gehe ich alleine stundenlang in den dunklen Wald und suche viele Hasenpilze.

 

“Thoma, du musst dich besser um die Tierchen kümmern!”

Herr Jost, mein Biologielehrer, der stundenlang seine farbigen Zeichnungen an die Tafel malt, die wir dann abzeichnen müssen, spricht mich in der Pause an.

 

Ich habe meine Stabheuschreckenzucht, die mir mein Vetter Michi schenkte, der Schule vermacht.

Jetzt muss ich mich Jahre um die Ernährung der “Tierchen” kümmern.

Es ist erstaunlich, wenn sie sich an dem Finger festkrallen oder wenn sie auf der Hand auf ihren acht Beinen hin und her tanzen.

 

Michi fasziniert mich in seiner Taubheit.

Ich spreche gerne mit ihm und er kann gut von meinen Lippen lesen.

Es macht mir Spaß, in Gegenwart anderer Menschen mit ihm zu kommunizieren, indem ich meine Lippen bewege ohne ein Wort dabei zu sprechen.

 

Michi denkt sehr an sich. Ich besuche ihn in dem Institut der Tierärztlichen Hochschule Hannover mehrmals und er zeigt mir die dicken vollgesaugten Zecken, die schwarz und fett in ihren Reagenzröhren verdauen, monatelang.

Vorher wurden sie den Schafen hinter den Ohren angesetzt und dann abgepinselt.

 

“Willst du mal sehen, wie Sperma aussieht?

Natürlich! Gerne!”

Ich bin neugierig.

Michi gibt mir ein kleines Glasschälchen und führt mich in einen Nebenraum, wo ich es fülle.

 

Dann sehen wir uns das Gewimmel unter dem Mikroskop an.

Es ist sehr lebendig.

Ich bin lebendig.

Die Schwänzchen wedeln langsamer und dann kommen die kleinen Tierchen zum Stillstand.

Tod.

 

Michi färbt sie noch ein.

 

Wir sind seit Jahren bis heute befreundet.

Ich helfe ihm beim Verkauf der Bilder seines Vaters.

Schreibe einen Artikel in der Wikipedia und mache eine Webseite für ihn.

 

www.ulrichthoma.de

 

Der Maler Ernst Wolfhagen

 

Endlich sind wieder Sommerferien.

Mit dem Bus der Überlandwerke fahre ich mit Mutti und Vati nach Thiersee in den Alpen.

 

Ein kleiner runder hübscher See, den man in einem kleinen Spaziergang gemütlich umrunden kann.

Am nächsten Morgen kommt ein Telegramm aus Hannover.

Opa ist tot.

 

Mutti weint und es wird beschlossen, dass sie alleine zur Beerdigung fahren wird.

Sie badet noch am Morgen mit mir in dem kleinen Strandbad.

 

Mit Vati bleibe ich zurück.

Es ist auch schön, mit ihm alleine zu sein.

Wir haben jetzt viele Essensgutscheine, die wir alle aufbrauchen müssen und ich bekomme oft Schnitzel und manchmal eine Schweinshaxe.

 

2024 bin ich mit Ursel einen Tag lang am Thiersee auf unserer Rückreise aus Italien.

 

Johannes Ressel muss während der Stunde rauskommen.

Er wird aus dem Unterricht geholt und ich sehe ihn viele Tage nicht mehr.

 

Dann erfahre ich zuhause, dass sein Vater auf dem Weg nachhause nach seiner Nachtschicht in der großen Fabrik Mehler, in der auch Zelte und Luftmatratzen hergestellt werden, beim Überqueren der Straße, die von Bachrain am Bachmüller Habersack vorbei nach Fulda hineinführt, von einem Auto überfahren wurde.

 

Er geht jeden Tag den Weg.

Es war genau die Stelle vor dem Friedhofseingang des neuen Friedhofs, der langsam die Bachwiese begräbt.

Sein Grab ist dort, wo ich die Hasen im hohen Gras aufscheuchte.

Der Körper meiner Mutter lag auch hier.

Alle Gräber sind schon lange aufgelöst.

 

Herr Schlitt ist vom Zirkus begeistert und wir bauen aus Pappe große Schiffe in seinem Unterricht.

Hinter seinem linken Ohr hat er ein großes Loch, was dunkel in seinen Kopf hineinzugehen scheint.

Heute erzählt er uns nicht von Bären und Clowns, sondern vom Mutzetin.

Der Mutzetin singt mehrmals täglich vom Minarett und ruft die Gläubigen zum Gebet.

 

Vati lacht während des Mittagessens und trägt mir auf, Herrn Schlitt anzusprechen und ihm zu sagen, daß es Muezzin heißt.

Ich tue es in der folgenden Kunststunde.

 

Herr Schlitt ist sehr verunsichert.

 

Bei seinem Lehreranwärter mache ich eine Töpfer Arbeitsgemeinschaft.

Wir rollen den Ton und ich baue aus den Schlangen einen großen Krug.

Dann machen wir viele Flöten.

Der Luftstrahl muss von der Zunge gespalten werden, um den Ton zu erzeugen.

 

Eugen Klug spricht mit starkem Petersberger Dialekt.

Ein richtiger Fuldaer und ungerecht dazu.

Er mag mich irgendwie nicht.

Wir machen Versuche zur Optik und er fragt uns, ob wir in der Natur Phänomene kennen, die mit Lichtbrechung zu tun haben.

 

Ich melde mich und beschreibe Luftflimmern über einer erhitzten Straße und den Regenbogen.

Er tut so, als ob ich mich nicht geäußert habe und lobt später einen anderen Schüler, der vom Regenbogen spricht.

Bei den Lichtversuchen wird der Physikübungssaal völlig verdunkelt.

Irgendwann habe ich Lust, dem langweiligen Unterricht zu entfliehen.

Ich bin voller Lust. Lust auf Leben, Abenteuer und Körpernähe.

 

So wie die vielen Jahre seit meinem neunten Lebensjahr damals in Hannover in Matthis kleinem Zimmer unter dem Dach, wo es das erste Mal geschah und ich von dem Gefühl und dem Geruch überrascht war.

 

Ich sehe Vati vor mir sitzen.

Auf seinen Knien steht das Aquarium mit den Fischen.

Nur sehr wenig Wasser ist im Tank.

Die Eisenbahn schaukelt leise.

 

“Fulda, Fulda, hier ist Fulda!” plärrt der Lautsprecher und die Bremsen quietschen.

Die dicke fette Dampflokomotive.

Zum ersten Mal fahren wir mit einem Taxi.

Die Fische kommen mit.

 

Die Oberglogauerstraße ist noch nicht mit Teer bedeckt, aber die Seitensteine stehen schon.

Durch die Toreinfahrt unter dem Haus hindurch und dann nach rechts um die Ecke.

Haus Nummer 17.

Familie Wehner wartet lächelnd und freundlich auf ihre neuen Mieter.

Ich werde erst einmal ins Bett gesteckt und spüre die glatte unbezogene Bettdecke auf meinen nackten Oberschenkeln.

Wir sind angekommen.

 

Hermann Vogt

 

Herrmann Vogt gibt gerne Autogramme.

Er wurde an unsere Schule versetzt, weil er einer Schülerin auf dem Gang etwas Lateinisches zuflüsterte und sie dann in ihre Klassenarbeit etwas erfolgreicher beendete.

Vati hatte ihn versetzt und nun ist er mein Klassenlehrer.

Er erzählt uns aus dem Krieg von den Panzern, die über den Menschen in ihren Erdlöchern und Schützengräben drehen.

Dabei macht er mit seiner verkrüppelten Hand  eine merkwürdige Drehbewegung.

Jede Stunde kommen zwei Schüler mit der Hausaufgabe an die Tafel.

Sie müssen ein Stück aus dem Buch übersetzen.

Bald haben wir ein System organisiert und hinter der Tafel wartet auf jeden Kandidaten ein kleiner Zettel.

Bei der täglichen Vokabelabfrage signalisieren einzelne Schüler mit einem, zwei oder drei Fingern das Geschlecht des Wortes.

Vogt klickt mit seinem kleinen Bleistift an den Fingernagel und wartet ungeduldig auf die Antworten.

Wir machen weite und schöne Wanderungen durch die Rhön und er gibt der gesamten Klasse auf dem Kreuzberg Bier aus. Ich trinke es mit Freude und Argwohn über den ungewohnten Geschmack.

Die Wanderung in der heißen Sonne den Hang hinunter an den Silberdisteln vorbei fällt uns anschließend schwer.

Vogt latscht in seinen dicken Sandalen mit seinen verkrümmten Füßen ohne Probleme weiter.

 

 

Jagdlust in Eichenzell auf die 3 Eschen

 

Ich besuche mit dem Fahrrad und einem Freund meinen alten Klassenkameraden Stefan Schimmer in Eichenzell.

Sein lieber Vater, der Förster ist nun schon einige Jahre tot und wir streifen zusammen mit Stefan über die Wiesen an dem kleinen Bach entlang.

Er war vor einiger Zeit über die Ufer getreten und hatte die Altarme auf den Wiesen mit Wasser gefüllt.

Einige Fische suchten sich damals neue Plätze und wurden durch das sinkende Wasser in den Altarmen des Baches gefangen.

Wir suchen sie.

An einer Stelle entdecken wir drei Eschen, schöne schlanke Fische und die Jagd beginnt.

Stefan versucht sie mit der Hand zu fangen, aber sie verstecken sich immer wieder unter den herabhängenden Grassoden und Büschen.

Wir jagen Stunden und fiebern am kommenden Tag schon in der Schule der Fischjagd entgegen.

Am zweiten Tag fangen und töten wir zwei Fische.

Gerhard Herbst, der dicke Bulle, kommt am dritten Tag auch mit.

Nach vielen Stunden ist die dritte Esche mit den glitzernden farbigen Schuppen auch gefangen und getötet.

Ich fahre den langen Weg mit Gerhard Herbst nach Hause.

Als wir von der Bachmühle den Berg zum Friedhof hinauf strampeln fragt er mich plötzlich:

”Na, weißt du wie die Babys gemacht werden?”

 

Ich bin sprachlos, denn ich weiß es nicht, denke an Muttis Worte, dass ein Engel das Baby ins Krankenhaus bringt.

Dann klärt er mich hinter vorgehaltener Hand mit einem Grinsen im Gesicht auf:

”Der Mann legt mit seinem Schwanz ein Ei in die Frau!”

 

Das klingt für mich sehr unglaubwürdig.

Aber Gerhard sagt, ich solle doch mal meine Eltern fragen, die werden schon sagen, dass es stimme.

Am Abend frage ich sie beim Essen.

 

Beide schweigen und geben mir keine genaue Antwort.

Vati zeigt mir ein medizinisches Buch und ich soll darin lesen.

Ich lese etwas und höre viel von meinem Bruder und irgendwann weiß ich es dann.

 

Gerhard Herbst nimmt häufig Drogen, die er bei den Amerikanern bekommt.

Er stirbt in jungen Jahren.

 

Stundenlang spielen wir mit den anderen Kindern an der Durchfahrt Völkerball.

Ich bin einer der schnellsten und stehe meist als letzter drinnen.

Es ist ein ausgelassenes Spiel ohne Sorge und Gedanken.

Wir messen unsere Kräfte.

 

In Hannover gibt es einen Mann, der schaut sich die Welt durch ein Fernrohr an.

Er schaut gerne nachts durch die Bäume hindurch auf ein helles Fenster, das weit entfernt liegt.

Dort lebt eine Frau und glaubt sich unbeobachtet.

Jeden Abend wartet der junge Mann sehnsüchtig auf den wichtigen Moment, denn er kann den nackten Körper nur mit seinen Augen berühren.

Seit vielen Jahren, nur mit seinen Augen, vielleicht bis zum Tode.

Ich schaue auch gerne einmal durch das Fernrohr.

 

Ich stehe mit Renate und Andreas, der damals noch Peter von uns genannt wurde, vor der Kirche am Gallasiniring.

Sie gehen beide hinein und beichten ihre Sünden.

Ich warte draußen.

 

Mit Mutti auf dem großen Sofa, Vati schläft schon im Bett.

Wie immer schnarcht er laut. Ich kann ihn durch zwei Türen hören.

Wir sehen uns einen Film an, sitzen die Arme umeinander gelegt.

 

Zwei Zwillingsbrüder in einem Wald, eine traurige Melodie, für beide kommt unerwartet früh der Tod.

 

Wir weinen zusammen und sind glücklich in unserer Liebe.

Die Melodie bleibt in meinem Herzen.

Ein Leben lang.

 

Flocki ist ein guter Spielkamerad.

Wir liegen auf dem Teppich in meinem Zimmer und er balgt sich mit mir.

Er beginnt, mich abzulecken und entdeckt meine Ohren, an denen er dann herum knabbert.

Es ist ein völlig neues Gefühl für mich.

Mein ganzer Körper juckt und bebt dabei vor Lust und Spaß.

Ich lass ihn knabbern, immer solange, wie ich es gerade noch aushalte.

 

On the Road mit meinem Bruder Andreas

 

Heute will ich einfach nach Marburg trampen, um meinen lieben großen Bruder dort abzuholen.

Er studiert jetzt schon seit einiger Zeit Mathematik und Physik dort und ich habe ihn schon zweimal besucht.

Damals durfte ich mit in eine Physikvorlesung kommen.

Der Professor hatte ein Mikrofon mit Sender und seine Stimme wurde laut durch große Lautsprecher übertragen.

Er zeigte und erklärte Experimente mit großen gasgefüllten Röhren und elektrischen Strömen.

Der Mathematikdozent schrieb damals endlose Formeln und Rechnungen auf eine Tafel, die endlos über zwei Rollen lief. Wenn seine Schriftzeichen sich von unten näherten, wischte er sie mit einem Lappen weg und schrieb weiter. Ich verstand damals nichts davon.

 

Einmal durfte ich bei Andreas übernachten und als er das Licht löschte, machte er noch Zeichen zu Jutta hinauf, die er vor kurzer Zeit kennengelernt hatte und die in einem entfernten Studentenzimmer wohnte.

Heute aber will ich einfach hin trampen, um ihn abzuholen.

Die Fahrt nach Marburg über Alsfeld und Lauterbach ist nicht einfach, aber ich komme gegen neunzehn Uhr bei Andreas an.

Wir haben plötzlich beide Lust auf etwas Verrücktes und beschließen, jetzt noch nach Fulda zurück zu trampen.

 

Wir laufen los.

Durch Marburg nach Osten aus der Stadt heraus, kein Auto hält an.

Dann schließlich werden wir doch einige Kilometer weit mitgenommen und laufen weiter.

Es ist wunderbar, einen großen Bruder zu haben.

Es wird langsam dunkel und wir sind schon viele Kilometer gelaufen.

Weniger Autos fahren vorbei und wir gehen langsam durch die Dunkelheit.

Viele Stunden lang, das Leben ist schön und voller Abenteuer.

Wir wollen einfach bis nach Fulda weiterlaufen. Manchmal hält doch ein Wagen und nimmt uns ein kurzes Stück mit, aber dann laufen wir alleine weiter.

Es ist schon Nacht und wir sind beide sehr müde.

Andreas schlägt vor, dass wir uns einen Heuhaufen suchen, wo wir schlafen können.

Wir entdecken einen riesigen Heuhaufen in der Dunkelheit auf einem Feld und versuchen auf ihn hinaufzuklettern.

Er besteht aus Mist und Dung und wir gehen schnell zur sicheren Straße zurück, lachen über das Erlebnis.

Weiter geht es bis die erste Dämmerung kommt.

 

Plötzlich entdecken wir auf der Straße Blut.

Einige Schritte zurück sehe ich im Graben einen Hasen liegen und wir untersuchen ihn.

Er schreit mit heller schriller Stimme, die ich noch nie gehört habe.

 

Wir sind beide verzweifelt, wollen helfen und halten panisch das nächste Auto mit wilden Armbewegungen an.

 

Ein Mann sagt, dass er uns helfen will, als wir zurückgehen, um den Hasen zu holen, fährt er weg.

Wir sind voller Wut.

Ein junger Mann hält an und fährt uns mit dem blutenden Hasen zum Tierarzt Dr. Raabe in Fulda, der trotzt der frühen Morgenstunde öffnet.

Der Hinterlauf ist gebrochen und er schläfert das Tier ein.

Die Augen werden glasig und sind dann ruhig.

 

Er bietet uns an, sich um den Körper zu kümmern und wir verlassen die Praxis, Andreas will dem Arzt noch Geld geben, was dieser nicht nimmt.

Wir gehen nach Hause.

Kleiner Hase.

 

Plötzlich lacht Mutti herzhaft auf, so wie sie es oft tut,  setzt sich auf den Küchenboden und macht uns ein Spagat vor.

Dann zeigt sie uns einen Handstand gegen den Küchenschrank und wir haben Angst, dass sie sich verletzen könnte.

Aber alles ist gutgegangen.

Oft habe ich Angst um Mutti und Vati, sitze auf der Toilette und weine vor Angst, dass sie früh sterben könnten, dass sie bald tot sind, aber das ist ja alles nur Unsinn, nur meine Lebensangst.

Ist ja alles nur Einbildung.

Ich muss mich mehr zusammennehmen.

 

Renate hat schon nach drei Jahren ihr Lehrerstudium in Weilburg beendet und eine Referendarstelle in Dietershausen in der Rhön in der kleinen Dorfschule erhalten.

Sie holt mich und Johannes mit der Isetta von der Schule ab und wir fahren zusammen zu der Schule.

Sie zeigt uns stolz das Schulhaus und dann geht es zurück nach Fulda.

Sie hat einen hübschen Rock an und strahlt vor Glück.

Es ist spannend mit ihr im Auto zu fahren, in der kleinen Isetta, ein Abenteuer.

Renate bricht bald die Ausbildung ab.

Peter, Annette, Bettina sind bald da.

Ich mag Renate gern und Peter auch und die beiden kleinen Mädchen auch.

 

 

Immer, wenn ich an der Kirche vorbeigehe muss ich einen Knicks machen, hat der Pfarrer Kretschmar uns gesagt, und wenn man einem Pfarrer begegnet, dann muss man seine Mütze abnehmen.

Eine Zeitlang mache ich das auch.

 

Das ist die Pfeife von Andreas. Ich stopfe sie mit Tabak. Mal ausprobieren, so wie mein großer Bruder das immer macht. Sieht toll aus, wenn er so sein Pfeifchen stopft.

Feuer, feste dran ziehen, es brennt auf der Zunge und im Mund. Ich sauge weiter kräftig und die Pfeife wird ganz heiß in meinen Händen.

 

Plötzlich macht es “Klick” und im Pfeifenkopf ist ein Sprung.

Schreck lass nach! Was wird mein großer Bruder sagen?

Er merkt nichts.

 

Einmal stellt er 2 Töpfe mit Wasser auf den Teppichboden in unserem Zimmer.

Von dem kleinen blauen Märklin-Eisenbahntrafo legt er 2 Drähte in die Töpfe.

 

Uli, halte mal deine Hände in das Wasser.

Es kribbelt, wird immer stärker, je tiefer man die Hände in das Wasser taucht.

 

Dann nimmt er eine Gabel und nähert sie den Töpfen.

Plötzlich bekomme ich einen starken Stromschlag.


In Wirklichkeit hat er heimlich mit dem Knie auf den Umschaltknopf des Trafos gedrückt.

Ja, ja, mein lieber Bruder hat schon seinen Spass mit dem kleinen Uli.

 

Mein herrlich verrückter Schwager Peter von Taysen

 

Wieder in Oberwildflecken.

Peter kommt gegen Abend vom Dienst nach Hause. Er erzählt von einem riesigen Wiesenstück, dass mit Parasolpilzen bedeckt war. Ich darf mitkommen, und sofort fahren wir mit dem kleinen BMW los.

Die Tür klappt nach vorne hoch.

 

 

Mit Peter zu fahren, bedeutet immer ein Abenteuer. Er benutzt den PKW wie seine Jeeps im Dienst.

Über kleine Feldwege rasen wir unterhalb des Kreuzberges dahin. Plötzlich schlägt der Wagen mit dem Auspuff gegen den Boden, denn die Fahrrinnen sind tief ausgefahren. Peter fährt weiter.

Dann begegnen uns sieben Förster mit dicken Rucksäcken.

Als wir endlich auf der Wiese sind, sehen wir, dass alle Pilze schon abgeerntet wurden. Die Förster waren schneller. Nur einige faulige Parasolpilze stehen noch.

Es geht zurück. Peter will jetzt einen besseren Feldweg benutzen und fährt erst einmal die Wiese hinunter. Auf dem Weg begegnet uns ein Traktor. Kurzentschlossen reißt Peter das Steuer nach rechts und saust mit dem kleinen Auto den Hügel hinauf und hinter dem Traktor wieder runter. Das macht Spaß.

Vor uns ein kleiner Bach. Mit “hui” geht es in die flache Furt hinein und .... der Motor heult auf, denn wir stecken mitten im Bachbett fest.

Mach´ hoch die Tür und auf die Steine im Wasser treten, damit wir nicht nass werden. Peter schaut sich mit mir die Sache an. Vor dem rechten Vorderreifen und hinter den beiden nebeneinanderliegenden Hinterreifen sitzen zwei dicke Steine wie Keile fest.

Ich muss an das Steuer und Peter versucht zu schieben. Es macht Spaß zum ersten Mal hinter einem Steuer zu sitzen und das Gaspedal zu treten.

Der Motor heult, aber wir bewegen uns nicht.

Dann sucht Peter Hölzer, die wir vor und unter den Reifen stecken.

 

Wir schaffen es nicht, und nach einer knappen Stunde geben wir auf.

Es geht zu Fuß nach Hause und wir holen Renate und Andreas, der auch zu Besuch ist.

Ein langer Spaziergang zurück zu unserem Bach. Beide ziehen sich die Schuhe und Strümpfe aus und schieben mit vereinter Kraft den Wagen raus. Ihre Beine sind voll Schlamm gespritzt.

Wir drei müssen nach Hause laufen, weil Peter befürchtet, dass der Wagen eine Macke weghat.

Es ist ein schöner ruhiger Abendspaziergang.

Alles ist so einfach.

 

Die geliebte Brehmstraße 43 in Hannover

 

Ich nehme meine kleine Tasche und gehe los.

Die kleine Bachwiese hinunter, durch den Kastanienhain der Bachmühle, an meiner Maikäferlaterne vorbei, über die Straße von Bachrain, vor dem großen  Tunnel, durch den Vati und ich immer in die Kirche nach Bachrain gehen, nach rechts hinauf zur Umgehungstraße.

Das ist die Stelle, wo es losgeht nach Hannover.

Ich stecke meinen Finger raus und irgendwann hält ein Auto an.

Nach vielen Stunden und Halteplätzen, die ich meistens schon kenne, nach vielen Gesprächen, langsamen und rasenden Autobahnfahrten mit zweihundertundsechzig Stundenkilometern im BMW komme ich endlich in Hannover an, dem Ziel meiner Träume.

 

Tini holt mich am Autobahnkreuz bei der Polzeistation ab, rettet mich aus den Klauen der beiden Polizisten, die mich viele Kilometer, die Autobahn entlang zu einem Parkplatz schicken wollten.

Ich hatte allen Mut gesammelt und sie um ein Telefonat gebeten.

Wir fahren lachend und glücklich in die Brehmstraße. Ich fühle mich so alleine ohne Mutti und bin froh Tini, Tante Anne und Oma noch zu haben.

Die Welt scheint hier noch in Ordnung zu sein.

Ich denke an alles was hier geschah, in diesem gemütlichen Haus in der Brehmstraße 43.

Die sausenden Züge auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter den Häusern, Muttis sehnsuchtsvoller Blick aus dem Zug, um das Haus zu erspähen. Der Aschenweg und die Knickebeeren. Der Sonnenschein und der Maschsee.

 

Der Tag als ich Matthi von der Schule mit meinem kleinen Holzroller abholte und er mich hinter seinem Fahrrad an einem Seil nach Hause zog.

Die Nacht vor Neujahr, als ich bis Mitternacht schlief und dann im Halbschlaf die Raketen sah, die mir wie bunte Kleider vorkamen.

 

Eine andere Sylvesternacht, als ich die Wunderkerze von der Straße hoch auf Omas dickes Federbett warf.

Dann die Sylvesternacht, an der Andreas von der Bundeswehr eine Art Handgranate mitbrachte, sie zündete und über die Häuser warf. Sie explodierte nicht und er suchte sie mit Matthi und fand sie auch wieder in der Dunkelheit. Die beiden öffneten die Granate, schütteten das Schwarzpulver auf eine Zeitung und es gab eine riesige Stickflamme.

Wir mochten Matthi sehr gerne. Er war immer voller spannender Ideen und baute die Nautilus mit einem kleinen Elektromotor nach.

Einmal trauten er und Andreas sich sogar über die Mauer eines Freikörperkultur-Clubs zu klettern. Ein Bademeister - nur mit Mütze bekleidet - jagte sie wieder hinaus.

Hier war die Welt ganz anders als in Fulda. Alles war freier, das Geld wurde mit vollen Händen ausgegeben.

Tini badete mich gerne und ich mochte sie sehr, besonders ihren Körper, den sie sehr freizügig zeigte.

Manchmal waren wir zusammen in der Wanne.

 

Baden, im Bett kuscheln, auf dem Sofa mit Tante Anne schmusen, es gab viel Wärme und Liebe hier, viele Gefühle.

 

Ja, hier war es zum ersten Mal passiert.

Ich wunderte mich über die Flüssigkeit, die ich vorher noch nie bemerkt hatte.

Dann kam irgendwann das besondere Gefühl dazu und ich dachte damals, ein ganz außergewöhnlicher Junge zu sein.

 

Einmal hatte Matthi die Idee, ein großes Loch im Garten zu graben, eine Art Höhle.

 

Wir gruben Stunden über Stunden bis in die tiefe Nacht und hoben ein großes Loch aus. Zweimal ein Meter,

vielleicht zwei Meter tief.

Damals wusste ich noch nicht, wie die Löcher auf den Friedhöfen aussahen, hatte noch keines gesehen.

 

Matthi war oft sehr trübsinnig und traurig, deshalb mochte ich ihn besonders.

 

Sein Gefühl und seine weltfremde Versponnenheit zogen mich immer an.

Der harten Realität eine kleine Traumwelt entgegenzusetzen, die Kunst des Glücklichseins.

 

Onkel Fritz schlief immer alleine in seinem kleinen Zimmer. Er stichelte und machte meist bissige Bemerkungen, Tante Anne hielt die Kinder fern und war unglücklich.

Es war wie in so vielen Familien.

 

Ich muss wieder beichten.

Zaghaft erzähle ich nach den üblichen unwichtigen Sünden dem Pfarrer meine wichtige Sünde, die mich bedrückt.

Pfarrer Kretschmar sagt mit Strenge, dass ich mich jetzt langsam in den Griff bekommen muss und es mir nicht mehr passieren darf.

 

Ich tue meine Buße und fühle mich etwas besser.

Aber es macht doch so viel Spaß und fühlt sich so gut an.

 

Peter Braun

 

Wir gehen zusammen zu dem kleinen Bach bei Weyhers, an dem Peter Brauns Vater damals die Wildente schoss.

Wir finden eine Stelle, an der das Wasser recht tief ist, sodass wir dort baden können.

 

Dann liegen wir in unseren Badehosen auf der Decke im Sonnenschein und reden miteinander.

Später spielen wir zusammen barfuß Federball in der Turnhalle der Dorfschule von Weyhers.

Es ist schön bei Familie Braun.

Besonders gern mag ich die ältere Schwester Birgit.

 

Ich muss wieder beichten, gehe seit einiger Zeit in den riesigen Fuldaer Dom.

Hier kennen mich die Pfarrer nicht, aber es war jedes Mal auch recht schwierig.

 

Heute hört mir ein etwas jüngerer Pfarrer zu und sagt, als ich zu der wichtigsten Sünde komme:

”Was, das ist doch überhaupt nichts Schlimmes, wo du dir irgendwelche Gewissensbisse machen musst, das ist doch ganz natürlich, das machen doch alle Menschen!”

 

Ich werde nie wieder beichten.

 

1970 gehe ich in das Amtsgericht Charlottenburg in der Kantstraße.

Gleich rechts hinter dem Eingang ein kleiner Raum.

Die freundliche Dame tippt meinen Austritt aus der katholischen Kirch in eine mechanische Schreibmaschine.

 

Mein Freund Rüdiger

 

Rüdiger König ist mein bester Freund geworden.

Wir haben unsere gemeinsame Liebe für die Beatles entdeckt.

Onkel Hans, der Bruder meines Vaters und der Vater von Rita und Christine, verrät mir, dass man zwei Lautsprecher einfach mit einem Kabel verbinden kann und ohne Verstärker die Stimme durch den Elektromagneten im Lautsprecher in elektrischen Strom verwandelt wird.

Das erste Kabel finden wir im Wald bei Oberrode, wo die Amerikaner oft ihre Zelte aufschlagen und alte Telefonleitungen einfach liegenlassen.

Wir rollen es zusammen und ziehen es an der Wand von Herrn Wehners Haus hoch, an den anderen Dächern der Straße vorbei bis zum Giebelfenster von Rüdigers Zimmer.

Es ist toll, nach dem Knacken mit der Batterie plötzlich Rüdigers Stimme aus dem alten stoffbespannten Lautsprecher von Mutti kommen zu hören. Sie ist leise, aber gut verständlich.

Dann spielt er mir Lieder von seinem Tonband vor und wir sind glücklich.

 

Eines Tages ist die Leitung unterbrochen.

Herr Cmelarcz hat einen Stein mit einem Seil rüber geworfen, sie auf sein Dach gezogen und gekappt.

Ich gehe zu Herrn Cmelarcz, der dick an seinem Küchentisch sitzt und hastig in einer Zeitung blättert, als ich ihn frage, warum er das Kabel durchgeschnitten hat.

Er sagt, dass es ihm egal ist, wenn die Leitung um sein Grundstück herumgeht, aber er nicht erlaubt, dass sie über das Grundstück läuft, auch nicht durch die Luft.

 

Wir haben an der Eisenbahn ein langes neues dickes Kabel gefunden und vergraben es zweihundert Meter weit in der Erde um das Grundstück herum.

Aus meinem neuen Zimmer unter dem Dach, an der Regenrinne die Wand hinunter, durch den Garten von Herrn Wehner, der nichts dagegen einzuwenden hat, die Mauer runter, dann durch die Büsche unterhalb der Mauer und schließlich durch Königs Garten und die Wand hinauf bis in Rüdigers Zimmer unter dem Dach.

 

Wir legen das Kabel diesmal sogar doppelt und können dann mit zwei Lautsprechern Stereoübertragungen machen.

Es ist toll.

 

Ich habe mir in der Schreinerei von Onkel Fritz in Alferde bei Hannover mit Hilfe des aus Göttingen stammenden Herrn Rinne, des Liebhabers von Tante Anne, einen großen Holzkasten als Schaltpult gebaut und brumme jetzt Rüdiger mit einem Wechselstromtransformator an.

 

Dann baue ich einen kleinen UKW-Sender mit einem Hochfrequenztransistor, von dem Rüdiger gleich begeistert ist, und wir senden jeden Tag auf UKW 100 Megahertz Popmusik - Radio Onehundred.

Es gibt sogar Hörerpost, aber es ist gefährlich.

 

Ein wundervoller Urlaub mit Rüdiger und seinen Eltern am Neuenburger See in der Schweiz.

Rüdiger und ich schlafen in einem Zimmer des kleinen Holzhauses.

Eines Nachts traue ich mich, meine Hand auf Rüdigers Bauch zu legen.

Wir baden in dem warmen See. Im Boden stecken große Muscheln.

 

Ich befreunde mich mit einem holländischen Jungen und wir singen zusammen auf dem Steg am See das Lied “Death of a Clown” von Manfred Man.

 

Rüdiger ist komisch zu mir, meidet mich.

Vielleicht, weil ich ihm die Aufmerksamkeit seiner Eltern etwas wegnehme.

Als wir wieder in Fulda sind, ist es wieder vorbei.

Wir sitzen im Keller und machen chemische Experimente, braten in den Reagenzgläsern nach Fisch riechende Tabletten aus der Apotheke der Eltern.

 

Die Kellertür haben wir mit einem elektrischen Klingelmechanismus gesichert.

Trotzdem ertappt uns Herr König bei einem Experiment.

Aber Georg, Schorsch ausgesprochen, ist ein lieber Kerl. Er liebt Elvis Presley und Freddy Quinn.

 

Gabi

 

Im Rosenbad liege ich alleine mit Gabi Ressel, Johannes´ Schwester, auf der Wiese.

Wir sind das erste Mal alleine.

Plötzlich fängt sie an, meine Füße zu streicheln und mich an den Fußsohlen zu kitzeln.

Es ist ein wunderbares Gefühl.

So etwas habe ich mir schon oft erträumt und kann es jetzt kaum glauben.

Leider ist alles wieder schnell vorbei.

 

Meine Freundin Marion Scott aus Toronto

 

Marion Scott aus Toronto kommt an die Schule meines Vaters als Englischaustauschlehrerin.

Ich nehme sie in unserer Wohnung in Empfang und gehe zu Familie Cmelarcz, finde dort ein Zimmer für sie.

Ich mag Marion gerne und wir reden viel miteinander. Sie ist wie eine große Schwester zu mir und doch auch wie eine Freundin.

Es ist schön, sie zu besuchen und den Duft von Kanada und der fremden Welt mitzuatmen.

Sie spricht gut Deutsch mit diesem leichten fremdartigen Akzent, und einmal liegt sie sogar im Bikini hinten in dem kleinen Garten und wir reden miteinander und essen Kekse und mögen uns.

Das prüde Fulda und Marion im Bikini - es tut mir gut mit ihr befreundet zu sein.

 

An einem Abend holt uns Stefan Schimmer mit seinem Motorrad ab und wir angeln in der Nacht Aale am Fuldaer Weiher beim Rosenbad.

 

Ein besonderes Erlebnis.

 

Zu Weihnachten schenkt mir Marion einen 8-Ball. Man kann ihn befragen und er verrät dir die Zukunft.

 

Viele Jahre später landen Tine und ich in Toronto und sie holt uns direkt am Flughafen ab.

Wir fahren in das kleine Holzhaus am See und wohnen dort mir Marion und George Zeltins und Lorne und einer Freundin einige Wochen.

Wasserski, Kanu fahren, Schwimmen, ein Traum.

Als ein Waschbär am Abend plötzlich in die Küche kommt, schreit Marion: „It’s vicious!“

 

George kommt nicht mehr mit den Wasserskien auf die Beine, er hat MS.

 

Ist der Sohn deutscher Auswanderer, wir mögen uns.

Marion heiratet ihn.

Seine Schüler lieben ihn und bauen am Ende Rampen, damit er mit dem Rollstuhl in die Klassen kommt.

Das Ende ist sehr traurig.

 

Wir besuchen Lorne später in Quebec.

Er unterrichtet dort an einer Schule, tanzt, spielt Dudelsack und stirbt später an AIDS.

 

Auch die Freundin stirbt, ich habe ihren Namen vergessen.

 

Vor einigen Jahren sehe ich mit Ursel Marion wieder.

Ihr Freund Peter Seidler begleitet sie auf einer Europareise und wir treffen uns am Brandenburger Tor.

Gehen Essen zusammen, verstehen uns immer noch gut.

 

Heute, am 13. Februar 2025 schreibt mir Peter eine Mail:

 

Hi Uli

I am very sorry to tell you that Marion passed away on the 3rd Feb 2025  one day after her 80th Birthday.

I went to the funeral today which was very moving.

I met her two brothers ,her nieces and other common friends.She had acute dementia in her last year

I hope you and Ursel are well.

Love and best wishes

Peter

Der Tod ist allgegenwärtig.

 

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Pfarrer Kretschmar macht einen Überraschungsbesuch

 

Es klingelt an der Wohnungstür. Ich bin alleine zuhause und etwas krank.

Oh, es ist Pfarrer Kretschmar, was für eine Überraschung.

 

“Guten Tag, Ulrich, na wie geht es dir? Nanu, woher kennt er denn meinen Namen, nach all den Jahren.

“Und was macht deine große Schwester Renate, und wie geht es ihren beiden Kindern, Annette und Bettina und deinem Bruder Andreas?”

 

Das darf doch nicht wahr sein, denke ich.

All die Namen kann er doch überhaupt nicht kennen. Dann kommt mir der Gedanke, dass er sich auf diesen Besuch vorbereitet haben muss.

Er will mit meinem Vater sprechen, der nicht zuhause ist und verabschiedet sich dann gleich wieder.

 

Ja, die kluge katholische Kirche.

Gott weiß Bescheid.

 

Meine erste Autofahrt alleine

 

In dem kleinen Fiat 600 fahren Andreas, Jutta und ich über Sickels in den Vogelsberg.

Wir sind alle drei ausgelassen, Andreas und Jutta frei und verliebt.

Ich bewundere ihn, er ist schon so groß, hat die Bundeswehr hinter sich und war ein Jahr lang durch Amerika gereist, hat sich viele seiner Träume verwirklicht und eine tolle Freundin auch noch.

Wie schön war der kleine Spaziergang vom Haus ihrer merkwürdigen Eltern durch Hanau neben der tollen jüngeren Schwester Petra gewesen, die mir gleich sehr gut gefiel, weil sie so freundlich mit mir redete und mich dauernd anlachte.

 

Ich denke an den interessanten Zaubertrick, den der alte Herr Scheibe uns mal vorführte.

Er nahm Zigarettenpapier, rieb es mit etwas Spucke in der Hand, rollte es dann zu einem Kügelchen zusammen und legte es in meine Hand.

Das Papierkügelchen wurde sehr heiß und die Aluminiumoberfläche verwandelte sich in eine weiße Schicht.

Es dauerte über ein Jahr Nachforschungen, bis ich das chemische Geheimnis gelöst hatte und es ihm erzählen konnte, was er sehr bewunderte.

Die Lösung hieß Quecksilberclorid - ein äußerst giftiges Oxidationsmittel.

 

In Oberrode fährt Andreas den Berg hinauf in den Wald, wo wie damals den lieben Großvater von Rüdiger König beim Pilze suchen trafen.

Durch die weit auseinanderstehenden hohen Bäume geht es tiefer auf einem kleinen Weg in den Wald hinein.

 

Dann hält Andreas an und fragt mich, ob ich nicht Lust habe, alleine ein Stück mit dem Auto weiterzufahren.

Ich freue mich, habe etwas Angst aber große Lust, es dennoch zu tun.

Die beiden steigen aus und schmusen im Wald.

 

Ich weiß schon, wo die Gänge liegen, lasse vorsichtig die Kupplung kommen und los geht es Meter für Meter und dann weiter durch den Wald im Sonnenschein, ich kann es nicht glauben, dass ich hier alleine durch den Wald in einem Auto fahre.

 

Dann durch einen hochstehenden Schlagbaum hindurch. Längst fahre ich im zweiten Gang mit dreißig bis vierzig Stundenkilometern durch den Wald.

Jetzt eine große Kurve, links hinunter geht der Waldweg, wird enger, dann nach einigen hundert Metern nach rechts, es ist etwas sumpfig hier, ach du meine Güte, der Förster und sein Hund und ein Gewehr über der Schulter, das darf doch nicht wahr sein.

 

Todesmutig fahre ich auf ihn zu, bremse ab und halte direkt neben ihm an.

 

Ich drehe das Fenster herunter und sage: “ Entschuldigung, ich habe mich verfahren, wie komme ich zurück nach Oberrode?”

Ich glaube, auf seinem Gesicht ein skeptisches Grinsen erkennen zu können als er mir antwortet:

”Na, setz mal zurück in den kleinen Seitenweg rein und dann die ganze Strecke wieder rückwärts.

Ich zittere und bedanke mich bei ihm, lege mit Mühe den Rückwärtsgang zum ersten Mal in meinem Leben ein und denke, jetzt bloß nicht abwürgen.

Er beobachtet mich genau, und ich schaffe es mit Mühe und klopfendem Herzen rückwärts zu fahren und dann ab geht die Post Richtung Andreas und Jutta.

Noch mal gutgegangen.

 

Stefan Schimmer mit Marion Scott beim Aale-Angeln

 

Es klappt heute tatsächlich.

Wie verabredet, kommt der wilde Stefan Schimmer mit seinem Kleinkraftrad angefahren und fährt erst Marion Scott und dann mich mit einem Höllentempo durch die Stadt an die Fulda zu seinem Angelplatz.

Er hat immer dieses lustige Grinsen auf dem Gesicht und strahlt eine große Stärke und Sicherheit aus, obwohl sein lieber Vater, der Förster, doch nun schon so lange tot ist.

Wir sitzen in der Dunkelheit am Fluss, trinken ein wenig und warten auf die Aale.

Dann plötzlich beißt der erste Aal und Stefan zieht ihn an Land.

Er tötet ihn gekonnt und wischt sich den Schleim von den Armen.

Marion ist gebannt, genau wie ich.

Stefan fängt noch mehrere Tiere und fährt uns dann wieder nach Hause.

 

Alles geschieht neben der Stelle bei den Aueweihern, auf denen Ilona ihre Pirouetten drehte und ich das erste Mal auf Schlittschuhen stand.

Die einfachen Metallschlittschuhe, die man mit dem Schlüssel an die Schuhe schrauben musste.

Ich konnte nicht damit laufen.

Konnte damals kaum laufen.

 

Ilona Zarypow starb im Jahre 2024 in Freiburg.

Sie gründete das Zan Pollo Theater in Berlin, ging mit 62 Jahren noch als Lehrerin in die Schule.

 

Ich habe mich wieder verliebt

 

Mutti und Vati fahren alleine in Urlaub.

Zum ersten Mal überhaupt in meinem Leben.

Südlich von Konstanz am Bodensee.

Mutti strahlt vor Freude als sie wieder zuhause ist:

“Uli, ich hab´ mich wieder in Vati verliebt!”

 

Mit dem Zug fährt unsere Klasse mit Herrn Röhrig, der immer mit einer tiefen Stimme und leichtem Vogelsbergdialekt sein rollendes “r” spricht, nach Konstanz am Bodensee auf Klassenfahrt.

An einem Tag darf ich ausnahmsweise zu Fuß das Quartier besuchen, in dem meine Eltern waren.

Eine sehr freundliche Frau spricht kurz mit mir und ich gehe zur Klasse zurück.

 

Auch andere Klassen sind aus Fulda von anderen Schulen mitgefahren.

Ich sehe ein Mädchen.

Sie sitzt am Nebentisch in einem Hof und wir schauen uns mit großen Augen an.

Ich sehe sie immer wieder und denke oft an sie.

Die ganze Fahrt ist sie immer wieder in meinem Kopf und auf allen Wanderungen schaue ich zurück oder nach vorne, um in ihre Augen sehen zu können.

Wir sprechen nie miteinander.

 

 

Der Tod schleicht sich heran

 

Montag

 

Montagnachmittag übergibt sich Mutti plötzlich fürchterlich über dem Klobecken.

Sie sieht erbärmlich aus.

Ich halte ihren Kopf fest, stütze ihre schöne Stirn. Sie setzt sich dann auf den Badewannenrand, fühlt sich erschöpft.

Dort rechts über unseren Köpfen piepsten ja damals die Vögel im Ofenrohr.

Ich helfe ihr ins Schlafzimmer und ins Bett.

Hinter mir der dunkle Schrank mit der Kleidung.

Ich sitze auf dem Bettrand und halte ihre Hand, fühle nach dem Puls, der kleine Mediziner, erst fünfzehn Jahre jung.

“Mutti, ich finde deinen Puls gar nicht!”

Dann, ganz schwach fühle ich ihn doch. Das Herz schlägt ruhig und fast unfühlbar.

Ich lege meinen Kopf auf ihre Brust.

Meine Mutti, meine geliebte Mutti.

Sie ist ruhig und erschöpft.

 

 

Dr. Naumes kommt.

“Guten Tag, Frau Dr., na mal schaun!”, spricht der glatte Scharlatan.

Das wird schon wieder werden.

Etwas Bettruhe.

Er merkt nichts.

Er zieht mir das Hemd vorne aus der Hose und untersucht mich auch.

Alles in Ordnung.

 

 

Donnerstag

 

Dr. Werner, auch ein Freund unserer Familie, wird gerufen.

“Ich fühle ja ihren Puls überhaupt nicht, das Herz, ich übernehme keine Verantwortung mehr, sie müssen sofort ins Krankenhaus!” spricht er erschrocken.

Als Mutti auf der Trage den kleinen Hügel vor dem letzten Haus in der Oberglogauerstraße hinaufgetragen wird, weint sie verzweifelt und ihre Augen sprechen mir die Wahrheit ins Gesicht, die ich noch nicht verstehe.

Hineingeschoben in den weißen Wagen und Abfahrt.

 

Erst am Samstag besuche ich sie mit dem Fahrrad auf dem Weg zu meinem Klassenkameraden Claus Herzig, der auf der anderen Seite der Stadt in Sickels wohnt. Bei ihm gibt es immer die leckeren frischen Brote mit der selbstgeschlachteten Blut- und Leberwurst.

 

Ich bin seit einigen Monaten wieder mit ihm in Kontakt, wir haben lange telefoniert.

 

Wir teilen unser gemeinsames Interesse an Verrücktheiten.

Ich gehe an den großen Gebäuden vorbei, unter den riesigen Kastanienbäumen, wo im Herbst die schwarzen Vögel sitzen und Holunderbeerenscheiße auf die Köpfe spritzt.

Ja, sie sind wieder da, und es platscht links und rechts von mir.

Pass´ bloß auf, dass es dich nicht trifft.

Hier wurde ich doch auch am Blinddarm operiert, das kleine Ringelschwänzchen.

Ich gehe durch die großen Gänge und finde meine Mutti in einem Zimmer ganz alleine.

“Ach, mein kleiner Junge, dass Du mich besuchen kommst, wie schön!”

Sie lacht mich an, und es geht ihr wieder gut.

Gottseidank.

Ich bin beruhigt, habe mir eigentlich keine großen Sorgen gemacht, kenne das Leben und liebe es.

Wir reden lange miteinander, und es ist wie immer so schön ihre Nähe und Wärme zu spüren. Meine liebe große Mutti.

Gefühle wie immer, das Schönste in meinem Leben.

Gefühle der Liebe und der Wärme.

Vertrauen.

Geborgenheit und ihr großer starker Körper, die liebe große Hand.

“Warum hast du das Röhrchen in der Nase?” frage ich.

“Das ist Sauerstoff!” sagt sie, “damit es mir schnell besser geht!”

Ich muss los, denn mein Freund Claus Herzig wartet und ich freue mich auf ihn und die leckeren frischen Leberwurstbrote.

Wir geben uns einen Kuss.

Ich gehe.

Die Krähen.

 

Schwarze Krähen.

Oder waren es Stare. Ich glaube es waren doch Stare.

Ja, Stare.

Freche Stare.

 

 

Sonntag

 

Sonntagmorgen ganz früh, nein es ist noch in der Nacht, kommt Vati plötzlich in mein Zimmer und weckt mich auf:

”Uli, zieh deinen Kommunionanzug an!”

 

Ich bin erschrocken, Vati sieht anders, schwächer aus, da ist so ein fremder Ton in seiner Stimme.

Ich ziehe mich schnell an, und wir steigen in ein schwarzes Taxi, das schon vor dem Haus, jetzt um 5 Uhr morgens auf uns wartet.

Wir fahren doch nie Taxi, denke ich.

Vatis Augen, sind sie feucht?

Leere Straßen.

Keine Vögel mehr auf den Kastanien. Sind sie fort?

Die großen Gänge entlang.

Hinter der Tür liegt Mutti und ich merke es sofort.

Sie atmet schnell und ihre Augen.

Ihre Augen. Ich sehe alles, erkenne alles, weiß Bescheid.

Das ist es. Das ist das Neue, das Unbekannte.

Ich gehe zu ihr, sie greift nach mir, dreht mit Mühe ihren Kopf in meine Richtung, sagt mit Mühe, ruft mit Mühe “Uli”, klammert sich an meine Hand, zieht mich zu sich herunter, sie ist es kaum noch, Mutti.

 

Der keuchende Atem, so schnell und stoßweise, der Kopf leicht im Nacken, sie kämpft.

Es geht viele Stunden und ich stehe neben ihr.

Man will mich wegziehen, aber ich bleibe da.

Dableiben, dableiben, bleib` doch, es geht viele Stunden weiter, ein Sauerstoffzelt wird gebracht und über das ganze Bett gebreitet, zwei große Metallflaschen.

Ich kann Mutti nicht mehr gut erkennen, krieche unter das Zelt zu ihr, der merkwürdige Sauerstoffgeruch, sie ruft immer wieder meinen Namen, mein Uli, mein kleiner Junge.

Ich weine schon lange, kann es nicht fassen.

Dann renne ich in den Gang hinaus, schreie, ob nicht ein Arzt kommen könne, Hilfe, Hilfe.

Niemand kommt.

Dann, nach drei langen Stunden.

Sie wird immer wilder, keucht und keucht, wie ein Tier.

Irgendwann in der Endlosigkeit ein Aufbäumen.

Bewegungslosigkeit.

 

Die Zähne, oh mein Gott.

Die Augen.

 

Ich renne wieder auf den Gang.

Vom dunklen Ende her kommen drei weiße Betschwestern mit Kerzen in den Händen langsam singend auf mich zu, ich begreife es nicht und bin voller Hass auf die Kirche und die große Lüge.

Sie mussten wohl schon gewartet haben.

Woher wussten sie den genauen Zeitpunkt?

 

Dann bäumt sie sich plötzlich auf und es ist vorbei.

 

Vati weint wie er noch nie weinte.

Fest hält er meine Hand und wir gehen durch den sonnigen Sonntagmorgen.

Gleich, quer hinüber, die kleine Gasse hinunter auf der linken Seite.

Vati klingelt, und ein verschlafener Mann, barfuß in Schlappen öffnet uns ernsthaft und ruhig sein Büro.

 

Vati erledigt alles.

Vati hat immer alles geregelt und erledigt.

Vati weint.

 

Ich bleibe viele Wochen alleine in meinem eigenen Zimmer unter dem Dach.

Ich liege im Bett und weine.

 

So viele Menschen.

Ich stehe ganz vorne.

 

Muss auch Erde auf den Sarg schaufeln.

Alle sind da.

Vati, Renate, Andreas und alle anderen, die kommen konnten, Hunderte aus Fulda.

Oma sitzt in Hannover in ihrem großen Sessel.

 

Pfarrer Gottschalk, der schon Renate und Peter traute, spricht.

 

Als alles vorüber ist auf dem kleinen Hügel der ehemaligen großen Bachwiese, wo ich früher die Hasen aus dem hohen Gras aufscheuchte, hier oben saßen sie nämlich besonders gerne, kommt ein großer Bagger angefahren und macht mit lautem Motorengeräusch das Grab zu, die Erde rein, alles schnell flachgewalzt, das hätte ich auch nicht gedacht.

Warum konnte er nicht noch einige Minuten warten?

 

Immer, wenn ich das Grab besuche, ritze ich ein kleines Kreuz hinten in den schwarzen Stein, immer an derselben Stelle, das kleine weiße Kreuz von mir, auf dem schwarzen Stein.

Links oben, noch Jahre später.

 

Tante Anne und Frau Ressel haben Muttis Gebiss in den Mülleimer vor der Veranda geworfen und Vati ist sehr wütend, dass es hinter seinem Rücken geschah.

Vati findet Muttis Tagebuch mit allen Aufzeichnungen und ist noch verzweifelter darüber, spricht mit Andreas, der das Tagebuch ins Feuer wirft.

Die Liebe verbrennt langsam.

Wie wenig wissen wir voneinander.

 

Frau Raupach unterstützt ihn in dieser Zeit, kocht und wäscht die Wäsche.

 

Die Zeit mit Vati alleine ist gut.

Wir haben uns lieb, und er ist sanft und freundlich zu mir.

Es ist wie früher, als ich noch ganz klein war.

Wir verbringen unsere Zeit oft zusammen und verstehen uns.

Es gibt keinen Streit mehr, er ist verändert.

 

Mein alter Vati, wie lieb ich dich doch habe.

Wenn wenigstens das so bleiben könnte.

Aber nichts bleibt, wie es ist.

Irgendwie riecht er oft anders nach Muttis Tod.

Und da stehen solche Flaschen im Regal.

 

 

Der Birnbaum

 

Es waren einmal zwei Gärtner, die pflanzten zwei Obstbäume.

Der eine von ihnen schnitt jedes Jahr die Äste ab und achtete gut darauf, dass der Baum in der richtigen Form wuchs.

Der andere ließ seinen Baum wachsen und schnitt nur die fauligen Äste heraus.

Als ihm eines Tages sogar ein kleiner Zweig in die Nase hineinwuchs und ihn kitzelte, nahm er seinen Kopf zur Seite und lachte.

Auch dem anderen Gärtner wuchs einmal ein kleiner Zweig in das Ohr und er schnitt ihn sofort mit seinem großen Messer ab.

Nach vielen Jahren trugen die beiden Bäume Früchte.

An dem kleinen geraden Baum wuchsen zehn herrliche, saftige und süße dicke Birnen, die aller Welt gut schmeckten.

An dem großen Baum, der eigenwillig seine Äste in den Himmel streckte, wuchsen fünfzig Birnen, die alle unterschiedlich aussahen.

Sie waren dick und dünn, süß und sauer, verschrumpelt und glatt.

 

Der große Baum stellte alle anderen Bäume in seinen Schatten.

 

Leben in meinem Dachzimmer

 

Die langen Winternächte. Ich wohne unter dem Dach in meinem kleinen Zimmer.

Wenn es zu kalt wird, koche ich mit dem Tauchsieder vor dem kleinen Spiegel über meinem Waschbecken Wasser.

Die drei Fenster sind von einem Eispelz bedeckt. Ich kann nicht mehr hinausschauen, ohne sie zu öffnen.

Ich kann sie nicht mehr öffnen.

 

An der Wand hängen die kleinen Fotos, von Tini, von Rita und noch mehr.

Hinter meinem Kopf die Schaltzentrale mit dem Lautsprecher.

Rüdiger ruft mich oft an.

Die Musik hilft mir. Ich höre immer wieder die neun Symphonien, besonders die dritte, die fünfte und dann die siebte.

 

Zeit der Tränen.

Manchmal heize ich den Ölofen an. Er will nicht angehen.

An einem Abend werfe ich einfach ein brennendes Streichholz durch das kleine Loch im Deckel.

Eine Explosion, der Deckel fliegt nach oben, eine Stichflamme verbrennt meinen nackten Körper bis zur Stirn hinauf. Ich bin eine gesengte Gans.

Aber mehr ist nicht passiert.

Von Zeit zu Zeit bekomme ich einen Stromschlag bei meinen elektronischen Basteleien.

Ja, ich lebe noch.

 

Wir treffen uns jeden Donnerstag nach der Schule und ich gehe ein Stück des Weges mit ihr.

Sie ist groß gewachsen, hat lange schwarze Haare, immer ein Lachen auf den Lippen, ist schon etwas älter.

Wir reden und mögen uns. Sie ist wie meine große Schwester.

Irgendwann ist es wieder vorbei.

Es war schön.

 

Plötzlich gibt es am Wochenende keinen Kuchen mehr.

Frau Wehner liegt im Krankenhaus.

Irgendetwas scheint nicht zu stimmen.

Dann erfahre ich, dass Frau Wehner an Krebs gestorben ist.

Die Welt gerät weiter aus den Fugen.

 

Die Untermieterin

 

Es kostet mich etwas Überwindung, an der Wohnungstür zu klingeln, aber irgendetwas zieht mich an.

In das Zimmer von Herrn Brockhausen ist in Wehners Wohnung eine neue Untermieterin eingezogen.

Sie erinnert mich ein wenig an meine Freundschaft mit Marion Scott, die schon lange wieder in Kanada lebt, und ich hoffe, etwas Nähe bei ihr zu finden.

 

Sie ist ein paar Jahre älter als ich, aber doch noch sehr jung und hat dieses gewisse Etwas, was mich anzieht.

 

Sie steht barfuß vor mir.

Ich habe sie schon öfter besucht und wir redeten etwas zusammen.

Aber da war und ist immer diese Spannung, irgendwie hat sie mich in meinen Absichten durchschaut, vielleicht hat sie auch gesehen, dass ich oft und gerne auf ihre nackten Beine schaue, die für mich in der Enge und Prüderie der Stadt Fulda ein kleines Stück Freiheit bedeuten.

“Komm rein!” fordert sie mich auf.

Ich darf mich in den kleinen Sessel setzen und sie lächelt mich wieder an, beobachtet mich genau.

Dann holt sie einen großen Fotokarton und setzt sich neben mich.

Sie öffnet den Deckel und ich sehe ein riesiges Schwarzweißfoto von ihr.

 

Sie ist völlig nackt.

 

Langsam blättert sie die Bilder durch und ich traue meinen Augen kaum.

Viele, viele Fotos von ihr und ihrer Freundin, beide nackt in allen möglichen Stellungen.

So etwas habe ich noch nie gesehen, und sie zeigt sie mir alle ganz ruhig und selbstverständlich, spricht dabei, wie und warum sie die Fotos gemacht haben, schweigt aber auch viel, scheint die Situation genau wie ich zu genießen.

 

Ich bin beschämt und glücklich zugleich.

 

Sie verstand mich besser als ich dachte.

Dann führt sie mich zur Tür und ich gehe.

 

Wir sahen uns nie wieder.

 

Mein Freund Reinhard Keller

 

Jeden Donnerstag fahre ich mit meinem Freund Reinhard Keller und seinem Vater und wir tauchen in dem neuen Hallenbad von Fulda.

Es steht an der gleichen Stelle, wo Vati vor vielen Jahren die alte Winfriedschule abreißen ließ.

 

An wie vielen Türen in Künzell hatte ich geklingelt und für dieses Bad mehr oder weniger gezwungenermaßen durch die Schule Hallenbadbausteine, die gleichzeitig als freier Eintritt galten, zu verkaufen.

 

Jetzt konnte ich selbst hier schwimmen - und tauchen.

Ja, tauchen macht uns besonderen Spaß.

Reinhard und ich entwickeln es zur Disziplin.

Wir steigern unsere Tauchleistungen wöchentlich.

 

Es ist immer der gleiche Ablauf:

Am Beckenrand, schon im Wasser, atmen wir gleichmäßig und tief ein.

Nach etwa ein bis zwei Minuten tauchen wir dann gleichzeitig unter, stoßen uns von der Wand mit den Füßen ab und tauchen bewegungslos hinunter, so tief wir können.

Dann geht es mit ganz, ganz langsamen Bewegungen der Arme und Beine am Boden entlang. Der Oberkörper streift manchmal die Kacheln.

Weiter durch die Stille bis zum anderen Ende des Beckens. Fünfundzwanzig Meter liegen schon hinter uns.

 

Dann kommt die Wende, Abstoßen ist erlaubt und langsam zurück, soweit jeder es schafft.

Einmal gelingt es uns fast, mit den Händen die andere Beckenseite zu berühren. Fünfzig Meter, fast.

Während der Schulstunden machen wir unsere Atemübungen.

Drei Atemzüge pro Minute, zehn Minuten lang.

 

Einmal zählen wir auch die Eigenart eines Lehrers. Herr Brähler sagt gerne “ja” wenn ein Schüler etwas erläutert.

Wir machen Striche, und jeder von uns macht lange Denkpausen, weil dann die “jas” nur so purzeln.

Manchmal spielen wir beide Roboter mit Sprachfehlern und eckigen Bewegungsabläufen.

Ich mag Reinhard und seine Ideen sehr.

Ach ja, er ist doch Protestant.

 

Dann schrieb er diesen Brief an einen Nachbarn, den er nicht mochte.

Behörde zur Kontrolle der Überbevölkerung. “Bitte melden Sie sich am ... um .... Uhr mit einer leichten Decke und Ihrem Personalausweis  usw.

Es war ein böser Scherz über den wir furchtbar lachen mussten.

 

Auf dem Weg nach Hause von dem Film “Das Schweigen”, den mein Grundschullehrer Herr Pösel in einer Turnhalle öffentlich in Fulda vorführte, nahmen wir einen kleinen Fiat und hoppelten ihn nachts zwischen zwei Betonpfeiler.

Reinhard bekommt als Schulbester beim Abitur ein Buch geschenkt.

 

Ich treffe ihn wieder in Berlin, viele Jahre später.

Er hat lange in Japan gearbeitet.

 

Wir haben wieder viel Spaß miteinander.

Er hat seinen Humor behalten ist aber noch unter Schock durch die Trennung von seiner Elfi.

Sein Sohn lebt heute noch.

 

Ich rufe ihn später an.

Hi, Reinhard, wie sieht es aus, du bist ja jetzt endlich in Rente?

Scheiße, ich hab Bauchspeicheldrüsenkrebs!

Es dauerte noch 8 Wochen.

Wir hatten viel Spaß miteinander.

 

Hoppelten angetrunken den kleinen Fiat in der Nacht nach der Abiturfeier auf dem Nachhauseweg zwischen die beiden Steinsäulen vor dem Haus.

Was der Besitzer wohl am Morgen dachte?

Ach, ich wiederhole mich immer öfter.

Macht nix.

 

Alkoholrausch

 

Plötzlich wache ich auf.

Das Licht brennt noch und ich spüre kaum, dass ich in meinem Erbrochenen liege, so betrunken bin ich.

Wie fand ich in das Bett?

Ich wälze mich raus und versuche wankend das Bett sauber zu machen.

 

Dann fällt mir wieder der Abend ein.

Eine Party bei einem Schulkameraden, dessen Eltern schon immer so großzügig waren, ihrem Sohn so etwas zu erlauben.

Rüdiger fragt mich, ob ich überhaupt nicht merke, dass die Kleine sich für mich interessiert, aber ich bin zu gehemmt, den Kontakt anzufangen und es bleibt bei einem kurzen Gespräch.

Dann die zwölf Flaschen Bier.

 

Später die Heimfahrt mit dem Moped, das mir mein Onkel Hans geschenkt hat.

Ich rutsche durch Eis und Schnee, die Berge hinunter und wundere mich, dass ich nicht stürze.

An mehr kann ich mich nicht erinnern.

Der Schlafanzug. Irgendwann schlafe ich wieder ein.

So etwas ist mir nicht oft passiert.

 

Herr Wehner lernt Latein

 

Herr Wehner lernt Latein, und ich besuche ihn öfter mal.

Bauer, Maurer, Lastwagenfernfahrer, Medikamentenfahrer von Kassel nach Fulda - täglich, und jetzt lernt er Latein.

Ich glaube, sein Vorname war Karl.

 

Er sammelt alte Münzen aus Fulda, übersetzt die alten Schriften, die mit dem Fuldaer Dom, Bonifatius und auch mit Münzen zu tun haben.

Er hat Briefkontakte in alle Welt.

Alles wegen der Münzen.

Er tötet keine Mäuse mehr.

 

Heute besuche ich ihn wieder, diesmal im Krankenhaus.

Er erklärt mir genau, was ein Herzinfarkt ist, macht einen ruhigen und intelligenten Eindruck.

Ich kann mich nicht daran erinnern, wer in seine Wohnung einzog.

Irgendwann wohnte dort sein Sohn Karlheinz mit seiner lieben Frau.

 

Tanzschule Gerhard Dücker

 

Meine alte Klasse, in der Johannes Ressel natürlich auch noch ist, will gemeinsam Tanzschule machen und sie fragen mich, ob ich nicht mitmachen will? Thomas Müller ist auch mit dabei.

Wir treffen uns im ersten Stock der Tanzschule Dücker.

 

Herr Dücker ist irgendwie merkwürdig und später sagt mir jemand:”Hast du noch nie einen Schwulen getroffen?”

 

Plötzlich alles voller Mädchen, ich fühle mich komisch.

Die glatten Kleider, das Halten an den Händen, es hat nichts Erotisches für mich und ich musste ja auch die Große nehmen, die sehr schüchtern war, genau wie ich.

Wir bringen die Sache hinter uns und dann gibt es eine kleine Pause.

 

“Meine Damen, meine Herren, wenn sie sich nicht benehmen, lasse ich heute die Pause ausfallen!”

Eine leere Drohung, denn an den Getränken verdient er ja extra.

 

Langsamer Walzer, Polka, Charleston usw.

 

Dann der große Abschlussball in der Orangerie.

Die Große sitzt immer nur da und sagt “ist mir egal!”

“Soll ich uns eine Flasche Wein bestellen?”-”Ist mir egal!”

“Wollen wir jetzt zusammen tanzen?” - “Ist mir egal!”

 

Irgendwann ist es mir auch egal und ich gehe nach draußen, kümmere mich kaum noch um sie, was für ein blöder Ball, eigentlich bin ich noch viel zu jung für das alles.

 

Jahre später treffe ich sie zufällig wieder.

Sie sieht toll aus und hat Sexappeal, aber nichts mehr für mich.

 

Haschisch mit Pink Floyd

 

Gerhard Herbst lädt mich ein, ihn heute gegen fünf Uhr zu besuchen.

Wir sitzen dann in seinem kleinen Zimmer unter der Dachschräge und er will mich in die Geheimnisse einweihen.

Irgendwie gehöre ich hier nicht hin, fühle mich nicht wohl, fühle mich verführt, bin aber voller Neugier.

Er dreht mit Zigarettenpapier eine Zigarette und stellt die Musik von Pink Floyd an, weil das wichtig für die Stimmung ist und dazugehört.

Dann rauchen wir zusammen.

Ich muss meinen Hustenreiz unterdrücken und kämpfe mit dem Schmerz in der Lunge. Ich spüre nichts und es geschieht nichts.

Ich bin enttäuscht.

Mein Kopf bleibt völlig klar.

Irgendwann gehe ich nach Hause.

 

Anfang der 70er Jahre trage ich schwere Lautsprecherboxen in das Audimax der Technischen Universität hinein und sehe dort kostenfrei

Pink Floyd bei ihrem Konzert.

Eine andere Welt.

Auch Rudi Dutschke erlebe ich in diesem Raum nachdem er angeschossen wurde bei einer seiner Reden.

 

Meine schöne Alpenreise mit Vati

 

“Mein großer Junge, wollen wir zusammen wieder eine Fahrt in die Alpen machen, unsere dritte gemeinsame Reise, mit den Überlandwerken Fulda?”

Ja, ich habe große Lust mit meinem lieben Vati, der mich nicht mehr schlägt, zu fahren.

 

Ich denke daran, wie ich seine Hand, seinen Arm, festhielt, als er mich wieder schlagen wollte.

“Du wirst mich nie wieder schlagen, Vati!” sage ich mit zitternder Stimme zu ihm.

Er schlägt mich nie wieder.

 

Wir fahren zusammen nach Riezlern im Kleinwalsertal bei Oberstdorf.

Ein kleines und einfaches Zimmer im Hotel zur Post.

 

Als ich am Morgen aufwache, liegen neben meinem Bett auf dem kleinen Nachttischchen drei wundervolle Steine.

Ein rotgrüner Achat, ein golden glänzendes glattgeschliffenes Tigerauge und noch ein rohes Tigerauge.

 

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Ich bin voller Freude über das Geschenk von Vati.

Er muss es schon früh aus dem kleinen Steinlädchen geholt haben.

Wir wandern viel in dem kleinen Tal und auf der Höhe.

Ich bin oft auch alleine unterwegs.

Einmal gehe ich den Höhenweg entlang und treffe oberhalb von Riezlern auf einen kleinen Gletscher in einem Bachtal.

 

Ich habe natürlich Lust, ihn zu überqueren.

Langsam klettere ich den erdigen Hang des Baches hinunter.

Dann ein Mutsprung über die ungefähr ein Meter breite Gletscherspalte auf das feste Firneis des Gletschers.

Ich gehe vorsichtig hinüber und schaue noch einmal nach hinten.

Links hinter mir steigt Dampf vom Gletscher auf. Ich gehe zurück und bemerke plötzlich, dass ich neben einem Loch stehe, aus dem der Dampf aufsteigt.

 

Angst vor einem Einbruch in die Tiefe des Baches, im Eis gefangen, die Beine gebrochen.

Ich schleiche rückwärts in Richtung des Erdhanges.

Dann wieder der Mutsprung auf den Hang, ich rutsche ab und stecke fest.

Hinter mir das Eis des Gletschers und vor mir die lehmige Erde.

 

Es dauert lange, bis ich mich aus der gefährlichen Lage befreit habe. Meine Kleidung ist völlig verschmutzt, die Hände sind etwas zerkratzt.

 

Ich gehe zurück zum Hotel.

 

Tini und Tante Anne sind uns nachgefahren in ihrem kleinen Volkswagenkäfer.

Sie wohnen in einem luxuriösen Privatquartier, und ich besuche sie gerne.

Wir haben wie immer viel Spaß miteinander und Vati und Tante Anne verstehen sich auch gut.

 

An einem Abend sitzen wir in einem Lokal und der Wirt serviert uns einen “Ratzeputz”, einen Schnaps mit Pfeffer und anderen leckeren Beimischungen.

Tini trinkt ihn in einem Zug runter und hustet zum Staunen der Gäste und des Wirtes überhaupt nicht.

 

Es ist herrlich, mit Tante Anne zu lachen.

Jedes Mal, wenn uns bei unseren Spaziergängen Wanderer begegnen, hören wir das “Grüß Gott” aus ihren Mündern und müssen furchtbar darüber lachen.

Sie ist so wundervoll albern und dann wieder so traurig, wie Mutti.

Das dunkle Gemüt der Wolfhagens, wir haben es alle in uns.

Himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt!

Neigung zur Depressivität.

 

Mein Absturz vom Nebelhorn

 

Heute fährt uns unser Reisebus nach Oberstdorf und dann geht es mit der Seilbahn hinauf auf das Nebelhorn.

 

Vati bleibt im Tal, denn er leidet wie immer unter Asthma.

In der Seilbahn halte ich die Hand des Mädchens aus dem Bus und fühle mich ein wenig glücklich.

Ich klettere, wie schon einige Tage zuvor, den Wiesenhang links hinauf Richtung Berghütte.

Die Reisegruppe geht den normalen Weg.

Heute will ich versuchen, zwischen den beiden Schneefeldern hindurch den Grat zu erreichen, um von dort aus dann weiter zur Hütte zu laufen.

Es wird immer steiler. Das Gras zeigt nass nach unten, Wasser läuft von den Feldern den Hang hinab.

Plötzlich merke ich mit Schrecken, dass die beiden Schneefelder oben zusammenlaufen.

Da komme ich nicht rüber.

Ich drehe mich vorsichtig um und versuche mir den glatten Abstieg vorzustellen.

 

Der Reiseleiter ruft von der anderen Seite des Tales laut “Uuuuliiiih!”

 

Ich rufe zurück “Jaaaaaah!”

 

Er ruft weiter “Komm runter!”

 

Ich winke und will antworten, da komm ich schon runter, allerdings mit rasender Geschwindigkeit.

Ich bin abgerutscht und fange mich mit den Händen ab, rutsche den gesamten Hang hinunter, auf meinem Po, den Händen und den Füßen.

Das ist das Ende.

 

Dann kommen schließlich nach ungefähr achtzig Metern kleine Steine, die meine Geschwindigkeit verlangsamen.

Ich sitze im Gras und schaue mir den Schaden an.

Heulender Schmerz in den zerfetzten Handinnenseiten, die kurze Hose bis hoch über die Pobacken ebenfalls zerfetzt, der Po ganz blutig aber eisgekühlt.

 

Ich kann noch laufen, nichts gebrochen, wie ein Wunder und dann zurück Richtung Seilbahn, an den drei Mädchen vorbei.

Meine kleine neue Freundin interessiert sich überhaupt nicht für mich und mein Erlebnis.

 

Ich wanke zur Seilbahn, fahre hinunter und finde Vati in einem Lokal.

 

Er spendiert mir ein Eisbein und ich überlebe alles.

 

Am Ende des Tales können wir aus dem Bus aussteigen und ich gehe mit den drei Mädchen am Fluss entlang.

 

Auf einer Wiese ziehen wir unsere Schuhe und Strümpfe aus und spielen zusammen, lachen und ich freue mich über alles.

 

In der Breitachklamm suche ich die Felswand mit den Amethysten, von der mir Gabi Ressel, die Schwester von Johannes erzählte, als sie mir ihren Amethysten zeigte.

Ich glaube, die Felswand gibt es dort überhaupt nicht.

Sie hat mich belogen.

 

Vor einer Woche ist ihre Schwester Edeltraut Ressel an Leukämie gestorben.

Heute ist der 13. Februar des Jahres 2025.

 

Der Tod von Oma Hermine Wolfhagen

 

Oma sitzt alleine in Hannover in ihrem großen Sessel.

Sie trägt jetzt schon lange Zeit eine Windel.

Ich besuche sie.

Jeden Morgen braucht sie seit vielen Jahren eine halbe Stunde, um mit ihren Stöcken vom Bett zu dem großen Sessel zu kommen.

Ich mag sie gerne und denke darüber nach, wie merkwürdig es doch ist, dass sie noch lebt und Mutti schon tot ist.

Oma erzählt mir heute plötzlich, dass sie die Engelein schon singen hört.

Sie lächelt dabei, und ihre Augen stehen etwas schief.

 

Irgendwie hat sie sich verändert.

Einige Wochen später erhalten wir in Fulda die Nachricht ihres Todes.

 

Ich bleibe zuhause.

 

Yoga und das deutsche Yoga-Institut von Dr. Isbert in Fulda

 

“Ich will dir gerne mehr über die Sache verraten, denn ich beschäftige mich schon lange mit Yoga!”

Er fasziniert mich, zieht mich an und schließlich verspricht er mir sogar, mich auch einmal zu hypnotisieren.

Ich fahre mit dem Moped auf den Aschenberg hinauf und er versucht die Hypnose, aber es gelingt nicht, vielleicht weil ich auch schon seit einiger Zeit Yoga im deutschen Yogainstitut, das von Berlin nach Fulda gezogen ist, mache.

Der alte Dr. Isbert und das Prana, und seine junge Assistentin mit den nackten Füßen, ein interessantes Paar.

Ich bin jede Woche in ihren Kursen und übe.

Begleite sie auch in ihrem VW-Käfer zu Kursen in Hünfeld und Bad Hersfeld.

 

Nach der misslungenen Hypnose sprechen wir lange über Sexualität und Yoga.

Mein Schulkamerad erklärt mir eine alte indische Technik, mit der sich die Ejakulation verhindern lässt und so immer wieder ein Orgasmus möglich ist.

Viele, viele, sehr viele Orgasmen - nacheinander.

Es scheint faszinierend und tatsächlich beschäftigt es mich einige Zeit.

Wieder ein Stück mehr Freiheit gewonnen.

 

Ruth

 

Ein erstes Wiedersehen nach vielen Jahren.

“Mein Gott, Herr Thoma, sind sie dick geworden!”

Ruth reagiert auf den Anblick ganz natürlich und spricht ihre Gedanken sofort aus.

Vati ist wirklich sehr dick. Der Bauch, das Gesicht, die Waden, die Füße und die Finger.

Er isst gerne seine Hühnchen und nagt das Fleisch von den Knochen.

Damals brachte er noch Hühner mit Kopf und Füßen nach Hause und bereitete sie vor dem Kochen für Mutti zu.

Ich staunte über die halbfertigen Eier und spielte gerne mit den Hühnerkrallen, blies durch die Gurgel meine Lieder.

 

Er freut sich, Ruth wiederzusehen, plant sein Leben weiter, den Tod in den Knochen.

“Wenn mir einmal etwas zustößt, dann heiratest du Ruth!” hatte Mutti damals in Königstein gesagt.

Sie waren gute Freunde, trafen sich häufig in der kleinen Stadt, tranken Wein zusammen und Otto Schäfer gehörte auch mit dazu.

Am Tage meiner Geburt besuchen sie Mutti im Krankenhaus und abends trinken sie Wein auf das große Ereignis.

 

Das Märchenbesteck

 

Ruth geht mit Otto Schäfer, der in solchen Dingen etwas hilflos ist, in einen kleinen Laden und sie suchen gemeinsam ein Messer, eine Gabel, einen Löffel und einen kleinen Schieber aus.

Hänsel und Gretel, der Wolf und die sieben Geißlein sind auf dem Silber zu erkennen.

Das Märchenbesteck.

Ich werde mit dem Besteck essen und alle anderen Generationen auch, aber für mich besitzt es eine besondere Bedeutung.

 

Ich weiß nichts davon, dass Vati Ruth trifft.

Er plant alleine, sein Leben und für mich.

“Du wirst wieder eine neue Mutti bekommen, kleiner Junge, alles wird wieder gut werden!” sagt mir Vati später.

Alles wird wieder gut werden.

 

Und wieder bin ich nach Hannover in die Brehmstraße 43 getrampt.

Zu meiner lieben Tante Anne und Tini.

Uns packt die Lust und wir setzen uns mit dem kleinen Schallplattenspieler und den Platten in den weißen Käfer und los geht es.

 

Erstmal auf der Autobahn Richtung Einbeck.

Vor uns eine Aufschrift “Pack den Tiger in den Tank”.

Immer wieder spreche und schreie ich den Satz und Tante Anne hat Lachkrämpfe.

Wir sind ein lustiges Team und das Leben ist schön.

 

In Einbeck besuchen wir unsere weit entfernte Verwandte Wittram, die uns den Einbecker Blaudruck ihrer Familie zeigt.

Hier trafen sich die Familien nach dem Krieg wieder und Onkel Konrad lernte seine Frau Herta kennen.

Vati schnitzte kleine Holzpferdchen und anderes Spielzeug und tauschte mit den Bauern gegen Nahrung.

Sie wohnten bei Tante Pipichen in einem Zimmer mit Renate und Andreas. Vati hackte Holz und klaute Kartoffenl,

damit sie überleben konnten.

 

Wir fahren hinauf auf den Hasenjäger und kehren zum Abendessen ein.

Am Nachbartisch zeigt der Ober den beiden Gästen eine Flasche Wein.

Er steht gebeugt am Tisch und hält die Flasche ebenfalls gebeugt in Richtung der Augen.

“Heuschrecke in Schreckstellung” flüstere ich Tante Anne ins Ohr und wir haben unseren nächsten Lachkrampf.

Später fahren wir einfach in die andere Richtung, wieder nach Norden an Hannover vorbei und immer weiter bis zur Nordsee.

 

Das Auto bleibt auf einem kleinen Parkplatz stehen und wir setzen mit der Fähre auf die Insel Langeoog über.

Zum zweiten Male bin ich endlich wieder an der Nordsee.

Und wieder auf Langeoog.

 

Das Meer ist wundervoll.

Die schöne Zeit mit Mutti.

 

 

Wir wohnen bei einem älteren Mann, den wir aus Spaß “Großer böser Wolf” nennen, weil er so eine rauchige Stimme hat.

Nachts blubbert es in den Rohren und plötzlich geht die Heizung an.

Alle Schallplatten verziehen sich von der Wärme und am nächsten Tag jault unser “Rag Doll” aus dem Lautsprecher.

Ich gehe alleine über die Holzwege durch die Dünen und vergrabe an einer Stelle im Sand meinen kleinen Schatz, eine mit Glassplittern von einem Autounfall gefüllte Streichholzschachtel.

Ich zeichne eine kleine Schatzkarte, damit ich ihn später wiederfinde.

 

Als wir ein kleines Metallteil finden, sagt Tante Anne:

”Das ist ´ne Bombe!” und wir müssen alle wieder lachen.

Auf dem Schiff zurück durch das Wattenmeer. Unser Auto springt nicht an, denn die Batterie ist entladen.

Irgendwann geht es doch wieder zurück nach Hannover und irgendwann zurück nach Hause, zurück nach Fulda.

 

Aufgeregt laufe ich aus dem Haus, den kleinen Weg vor dem Haus hinauf bis an die Straße.

Wie sie wohl aussehen wird?

Vati hat sie aus Königstein abgeholt und ist mit ihr in ihrem Auto nach Fulda zurückgefahren.

Eine neue Mutter.

Als ich auf die Straße komme, steht sie neben ihrem kleinen blauen Käfer und wendet mir in gebückter Stellung den Rücken zu, holt etwas aus dem Auto.

Sie dreht sich um und sieht mich erschrocken mit aufgerissenen Augen an, lächelt dann und sagt:

Ahh, du musst der kleine Uli sein!”

Sie ist mir fremd.

Ich bekomme eine Tafel Schokolade mit Krokantstücken, ganz süß mit knusprigen Zuckerstückchen drin, wie jedes Mal später auch.

Irgendwann mag ich sie dann - in der schweren Zeit.

 

Meine erste Fahrstunde

 

“Mensch, Thoma, fahr los! Du willst mir doch nicht erzählen, daß du noch nie ein Auto gefahren hast.

Na gut, hier ist der erste, zweite, dritte, vierte und der Rückwärtsgang, jetzt fahr endlich!”

 

Herr Schwarz mit seinem zernarbten Gesicht grinst mich von rechts an.

Ob meine Akne mich auch einmal mit so einem Gesicht zurücklassen wird?

Aus der Stadt geht es hinaus in dem schicken roten BMW 1600 bis nach Alsfeld und das mit hoher Geschwindigkeit.

 

Ich glaube zu träumen. Meine erste Fahrstunde.

Wir holen eine andere Kandidatin ab und sie fährt zurück nach Fulda.

Ich kann gerne weiter hinten im Auto mitfahren.

Nachdem sie ausgestiegen ist, greift er von rechts das Steuer und fährt in einem Höllentempo um drei Ecken wo der nächste Fahrschüler wartet.

 

Er hat eine lockere und lustige Art, die mir gefällt.

“Hier stinkt´s ja wie in einem siebenstöckigen Puff!”

 

Die neunte Stunde ist Prüfungsstunde.

Erst einmal wird die Klingelanlage eingestellt, das hatten sie beim letzten Prüfling vergessen. Mir rutscht das Herz in die Hose, ich habe Angst, denn hinten flegelt sich ein scharf wirkender unangenehmer Typ auf die Rückbank, legt die Beine hoch und los geht die Fahrt.

Er jagt mich durch die Stadt, vierzig Minuten lang.

An einer Kreuzung hinter dem Busbahnhof runter zum Dom warte ich lange um die Fußgänger vorbeizulassen. Er drängelt mich.

Ich gebe leicht Gas und bremse sofort wieder und sage:”Soll ich die Fußgänger anfahren?”

Ich staune über meine Frechheit, muss endlos weiterfahren, dann aussteigen.

 

“Natürlich hast du bestanden, Thoma!”

Ich unterschreibe den Führerschein auf dem Wagendach.

 

Abschiedstraum

 

Vorzeitig wurde der Atommüll-Transport nach Ahaus gestartet.

Trotz einer Bombendrohung konnte er die Station Fulda passieren.

Von der Straße aus schaue ich nach oben zur Brücke.

Der Zug steht und aus einem Fenster beugt sich - ich traue meinen Augen kaum - meine Mutter herunter.

Ich schreie laut hinauf:”Mutti, Mutti, steig aus, schnell, steig aus!”

Sie zieht die Handbremse oder schafft es irgendwie, aus dem Zug rauszukommen, bevor er wieder anfährt.

 

Wir nehmen uns in die Arme.

Wange an Wange.

Es ist gut sie wieder zu spüren.

Ich rede ganz ruhig mit ihr.

Sie hat ja noch keine Ahnung, scheint mitten im Leben zu stehen.

Wir gehen spazieren und unterhalten uns. Soll ich ihr alles erzählen?

Darf ich das? Wann ist es soweit? Ihr Gesicht sieht dunkel aus. Die vielen Zigaretten und das Alter. Der nahe Tod. Schon in wenigen Tagen, nächste Woche. Ich sage ihr nichts und wir sind glücklich zusammen.

 

Wir wandern ein Stück gemeinsam durch die Welt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

NACH MUTTIS TOD

 

 

 

 

 

Ruth in Fulda

Vati- Kennenlernen von Ruth

13 Flocki in die Abdeckerei(nach Muttis Tod)

Fahrt nach Elba, Eurotel, Hübsche sexy Italienerin Goldkettchen, Schlott, Tante Annemarie, Theodor,Josie,

Sonnenstich, Auto im Parkschatten unterstand,

Una Festa suri prati, Adriano Celentano, Polpomann, Fischer,

Blaue Steine am Strand

 

Yoga  Dr. Isbert und Assistentin und Fahrt nach England - Loch Ness TM, Jane

Fahrt nach England Trampen, Jane, barfuß, ich auch.

Cum here, Jane. No!

Schwule, alter, und junger. Indischer Arzt in Schottland. Jump on auf Lastwagen mit Plattform.

Hure in London nachts, Hyde Park. Kirche.

 

Fahrt nach Berlin, Roswitha Röbig, Kerber, Olli, Foto im Laden.

Basteln von Raketen aus Schwarzpulver, mit Reinhard, elekt.Zündung.

Ruth mehrmals entgegentrampen,

Vatis Schlaganfall, vorher Hochzeit mit Ruth, Depressionen ein Jahr später,

Champignonsuche mit Ruth, alleine mit ihr.

Ruth in der Schule besucht. Nähe zu ihr ein wenig wie bei Mutti.

 

Tischrücken mit unserer Putzfrau, die immer im Lotto gewann.

Vor Abitur, Stirnhöhle, Dr. Hellhacke, alle deine Schiffe steuern einen ruhigen Hafen an. Geist neben Sofa, Vati in Giessen, ich Schwingungen im Kopf, schizophrenes Mädchen, rotes Licht, Elefantenklo.

Königstein, Wünschelrutengehen, Ruths Mutter, erschreckt.

Geist neben Sofa, Krampfanfälle vor Angst.

Rita - sexy, Satellitenbeobachtungen, Christine,

Theodor, Fahrt auf dem Rhein im Schlauchboot, pinkeln auf Holzpflock,

 

 

Abitur: Bedarf und Bedürfnisse, der Kreislauf des Geldes.

Stockhausen,

 

Arbeit in den Gummiwerken

 

Reise nach Griechenland mit Michael Schmidt

 

Berlin

Umzug und Zeit in Berlin - H und Cs Wohnung , Einbrecher, Depressionen,

Marmelade und Schwarzbrot

Arenys de Mar mit Johannes und Manfred Schwab

Ulrike Völker in Holland, in Oostburg, Ulysses, Billard spielen und Pommes Frites mit Mayo

 

 

Zeit mit Tine

TINE im Riverboat

Reisen nach Sylt mit Winfried

nach Afrika und Tine in Paris

Finnlandreise mit Rita und Winfried

Parisreisen mit Tine

Feuerqualle am Strand auf Cres bei Fietzens, nackter Abstieg mit Helmut Müllbaum.

 

 

Viele Fahrten in Ruths Auto mit Vati und Prinz alleine, Vati schreibt sein Leben auf.

Hallimasche suchen.

Onkel Hans besuchen, glückliche Zeit, Darmbeschwerden von Vati, Depressionen.

Fußnägel schneiden, Haare und Bart.

 

Vatis Tod

Bad Homburg vor der Höhe.

Erbe 365,- jeder von uns. Renate und Andreas

Studium

nacktes Mädchen, Jobs bei der Post, Kleindarsteller.

England

Türkeireise

Fanö, Kreta, Leonidas, Bernstein, Funkgeräte

Analyse

Fahrt mit Wilfried - Hamburg und Ostsee, siehe Kurzgeschichte

Garten am Teufelsberg

Fanö

Georg-von-Giesche Oberschule

Vangerow

Krajewski

17 Jahre

Heirat

Geburt von Sebastian

Wochenbettpsychose

zwei Jahre

Reise nach Paris, Zahnschmerzen, elle sourie, la sourie, Mädchen gegenüber in Unterwäsche

Teneriffareise, Tine wieder normal, Los Bananas Appartement

Tines Tod

Wilfried´s Schicksal, Bette Davis Eyes

dreimal in England im Sommer mit Sebastian bei Mick

Klavierunterricht und Ursel

Das kleine weiße Kreuz und der Grabstein sind fort

Ursel

Kreta mit Ursel, Samariaschlucht, Ängste, Kuscheln, Leute

Nepal und Indien mit Ursel

USA mit Ursel und Sebastian

Tating

Helmuts Tod

Reise mit Ursel nach Teneriffa und Sebastian

Ursel ist schwanger mit Charly

Cornelias Tod

 

Charlotte

Geburt mit Saugglocke

Erwachsen:

Ich Diktatkorrektur ---Herzkrämpfe .. Fehlervogel friss

 

Krähen in der Sauna - Sauna, Finnland, Veinö und Eili

 

 

 

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt: