MEIN LEBENSTRAUM
ERINNERUNGEN AN VERGANGENES
VON
ULRICH O. E. THOMA
IMMER NEUE WEGE GEHN
UND DU WIRST SEHN
DAS LEBEN IST SCHEEN
Tod.
Du magst nicht daran denken!
Dummheit oder Angst?
Oder bist du noch ein Kind?
Er ist da.
Mach die Augen auf!
Werde bewusst!
Frei!
Inhalt
Lieber Leser.
Ich habe diese Erinnerungen
bereits vor über 40 Jahren aufgeschrieben.
Jetzt, im Januar des Jahres 2025, ergänze und überarbeite
ich sie.
Aus diesem Grunde tauchen einige
Episoden und Gedanken im Text doppelt auf.
Meine Lebenszeit ist kostbar und
wird täglich kostbarer.
Mein Festhalten an Regeln wird
mir in zunehmendem Maße bedeutungsloser.
Deshalb einfach lesen oder auch
nicht.
Alles ist sowieso nur eine
persönliche Illusion.
Viel Spaß!
Der kleine Hühnerstall.
Zusammengezimmert aus alten Holzlatten und etwas Maschendraht für Sonnenlicht.
Zwölf Hühner, ein schönes Leben.
Eine Kastenfalle aus Holz,
selbstgebaut alles von Herrn Wehner.
Mittendrin eine kleine
Metallwaage. Die Maus wird für zu schwer befunden und fällt.
Ich stehe mit Johannes neben der
Regentonne, mit Teer innen und außen beschmiert, halb voll Wasser, rote Mückenlarven, die an der Oberfläche schweben
und bei Berührung der
Wasseroberfläche sofort mit zuckenden Bewegungen nach unten sinken.
Herr Wehner kommt gebückt aus dem
Hühnerstall, die Falle unter dem Arm, öffnet sie und lässt die Maus ins Wasser
springen.
Sie schwimmt immer im Kreis herum
um ihr Leben.
Wir stehen da mit Tränen in den
Augen.
Mit einem Stöckchen helfe ich
ihr, sich am krustigen Teerrand festzuklammern.
Herr Wehner stößt sie mit einem
Metalllöffel wieder ins Wasser.
Schließlich taucht sie unter und
schwimmt auf dem Rücken.
Mit dem Löffel raus gefischt und
auf den Acker geworfen.
Wir haben Tränen in unseren
Augen.
Dicke, fleischige Blätter der
Steingartenpflanzen. Die zur Mauer aufeinandergetürmten runden Kalksteine.
Wenn man die herunterhängenden Pflanzen
anhebt, krabbeln Kellerasseln schnell aus dem Sonnenlicht.
Kleine Asseln, die sich zu Kugeln
zusammenrollen können.
Ich sitze auf meinen Lederhosen
auf dem warmen Zement und brenne den Teer in den Fugen mit meinem kleinen
Brennglas, bis er schmilzt.
Die warme Sonne auf meinen
Beinen.
Plötzlich ein Schmerz und ein
Jucken in meinen Knien und Beinen.
Lachen und Weinen.
Eine Mauer grenzt den Garten von
der Bachwiese oberhalb der Bachmühle mit den großen Kastanienbäumen ab.
An der Mauer steht der gerade
gewachsene Birnbaum, dessen untersten Ast ich geradeso mit einem Mutsprung über den Abgrunde
erreichen kann.
Wie gut die harten, süßen Birnen
schmecken. Ich sitze auf dem Baum und betrachte das Haus.
Irgendwann komme ich zu meinem
Birnbaum und er ist verschwunden!
Der kleinen Pfirsichbaum in
Muttis Garten.
Ich pflücke einen Wäschekorb voll
mit den Pfirsichen.
Auch er ist plötzlich fort!
Hinter mir die Bachwiese und
unten der Kastanienhain des Bachmüllers mit den großen hochgewachsenen Bäumen,
von denen wir im Herbst
immer die Kastanien mit dicken
Stöcken herunterwerfen. Kleine Kastanienmännchen und Tiere mit
Streichholzgliedern.
Die große untere Bachwiese mit
dem kleinen Bach und den beiden Weiden. Ich zündel mit Johannes.
Wir schießen kleine Streichhölzer
hinüber in das hohe vertrocknete Gras. Der ganze Hang brennt ab und wir löschen
das Feuer mit Mühe
bevor es das Kornfeld erreicht.
Im Frühling mit dem kleinen
Fotoapparat unterwegs auf der Wiese.
Ein See hat sich gebildet und ich
traue mich auf das Eis.
Breche ein bis zur Hüfte und an
mir kleben grüne Algenfäden.
Der Friedhof dehnt sich weiter
über die Bachwiese aus. Röhren werden verlegt und ich krieche durch eine enge
Röhre unter der Erde zweihundert Meter bis zum Ausstieg.
Mutprobe bestanden.
Der Bumerang fliegt durch die
Luft, und mein Bruder Andreas lässt den Drachen auf der großen Bachwiese
steigen, wirft die Drachenschnur dann über die Hochspannungsleitung und wir
rennen die kleine Bachwiese hinauf und binden die Schnur an unser Balkongeländer.
Als der Wind nachlässt sinkt der
Drachen und die Autos fahren über die Schnur. Andreas rennt hinunter und lässt
ihn wieder steigen.
Als das große Haus des
Bachmüllers gebaut wird finde ich auf dem Baugrundstück mit Johannes viele
Ammoniten. Dicke schwarze Schnecken in dem gelben Kalkstein. Es ist wie ein
Wunder. Wir suchen weiter.
Ich lege sie dann unter die
kleine Treppe, die auf den Balkon hinaufführt.
Irgendwann habe ich sie vergessen
und sie sind verschwunden.
Im Mai stehen Andreas und ich
abends in der Dunkelheit auf unserer kleinen Wiese und hören dem Brummen der
Maikäfer zu, schlagen sie mit einem Federballschläger in das Gras und sammeln
sie mit der Taschenlampe auf.
In der Nacht schaue ich von
meinem Zimmer unter dem Dach mit dem Fernglas was mir mein Schwager Peter
schenkte hinunter zu der Straßenlaterne, um zu sehen, ob dort Maikäfer sind.
Als ich einen entdecke, laufe ich runter und klettere die 10 Meter hohe Laterne
hinauf, fange den Maikäfer.
Mein großer Bruder Andreas beobachtet
zwei Männer mit Gewehren, die auf dem Feld oberhalb der Bachwiese Hasen
schießen.
Er rennt hinunter und über die
Straße, schreibt die Autonummer auf und übergibt sie der Polizei.
Im Herbst bekommen wir dann immer
einen Hasen vom Jagdpächter.
Ich hänge ihn im Keller auf und
ziehe ihm mit meinem Taschenmesser das Fell ab.
Es tropft nur wenig Blut von dem
Hasenkörper auf den Kellerboden.
Die Mutprobe bestand darin - es
war übrigens Stefan Schimmers eigene Idee - dem lebendigen Maikäfer den Kopf
abzubeißen, für fünf Mark, damals als die Jugend schon fast vorbei war. Stefan
machte es einige Male.
Er aß auch Regenwürmer gegen Geld
und schüttete uns Gläser voll Bier von hinten in die Hosentaschen.
Stefan, der Försterssohn,
lebt noch in Eichenzell, wo wir die 3 Eschen in den toten Armen der Fulda mit
der Hand fingen, in denen sie sich bei Hochwasser verirrt hatten.
Manchmal werden in der Bachmühle
unter den riesigen Kastanienbäumen Holzbänke und Tische aufgestellt und Feste
gefeiert.
Bunte Lampen von Baum zu Baum und
Musik bis spät in die Nacht.
Ein Mann versucht das Nest der
Elstern hoch oben in dem Kastanienbaum mit einem Luftgewehr herunterzuschießen.
Ich schaue zu.
Der Ast bricht schließlich und
die Küken stürzen in die Tiefe.
Ich gehe mit Vati in die
Wirtschaft der Bachmühle neben dem Bach, den man hier nicht sehen kann, aber er
ist da.
Ein dunkler Raum, Holzfußboden,
keine Gäste.
Der dicke Bachmüller und Bauer
Habersack steht hinter dem Tresen.
Wir gehen hin, und ich darf meine
kleinen Hände unter die Öffnung des großen mit gesalzenen Erdnüssen gefüllten
Glaskugelautomaten halten.
Vati steckt zehn Pfennige rein,
dreht an dem schwarzen Griff und die Nüsse rutschen in meine Hände.
Viele, viele Salznüsse.
Dann gibt es für mich wieder eine
Sinalco-Cola.
Gelbe Farbe - sieht aus wie
Zitronenwasser.
Mein Vater trägt sie an seiner
Kette.
Die will ich auch haben.
Ich muss lange warten auf meine
schöne Taschenuhr. Am Geburtstag ist sie endlich da.
Aber sie hat ja gar keinen Klappdeckel!
Jahre später entdecke ich sie in
einer Schublade im Keller von Ruth.
Ich frage meinen Bruder, ob er
sie haben möchte und er schenkt sie mir gerne.
Ist immer großzügig und
hilfreich.
Auch in meinen schwersten
Lebenszeiten.
Die Uhr hat mein Großvater seinem
Sohn in Oberschlesien zum Examen gekauft und gravieren lassen.
1929.
Es gibt sie immer noch.
Und sie läuft.
Flocki ist wieder ausgebückst.
Ich höre sein Bellen von der kleinen Bachwiese herauf. Er muss in der Nähe der
Bienen sein, wieder in der Hecke.
Wir laufen runter.
Er kläfft
in der Hecke und beißt immer wieder in einen Igel.
Seine Schnauze ist ganz blutig.
Wir zerren ihn nach Hause.
Ob es stimmt, dass Zigeuner Igel
in feuchte Erde einrollen und dann im Feuer braten?
Sie sollen sehr gut schmecken.
Emma und Paul
Thoma
Die fleißigen
Eltern meines Vaters.
Emma und Paul.
Aufstehen um
halb fünf in der Früh.
Schneidern.
Dann geht Paul
um halb sieben Uhr in sein Postamt in Neiße.
Wegen der Kinder
sind sie von Lugnian auf den Rat eines Verwandten nach Neisse gezogen.
Hier leben sie
in der Obermärengasse in einer Mietwohnung im Parterre.
Das gelbe Haus
steht heute noch.
Paul schneiderte
einen Mantel für einen Polen.
Der holte ihn
ab, kam einige Tage später wieder und verlangte den Mantel.
Mein Großvater
sagte, dass er ihn schon abgeholt hatte.
Daraufhin zog
der Pole ihn vor die Tür und trat ihn in den Unterleib.
Mein Großvater
starb anschließend an den Folgen des Trittes.
Seine Nieren
waren zerstört, glaube ich mich zu erinnern.
Emma Thoma, geborene
Kluss, lebte auch in Königstein, starb vor meiner Geburt im Jahre 1951.
Vati steht auf dem Stuhl.
Die Krippe, die er in Einbeck mit
seinem Freund, dem Maler Kurt Sohns aus Hannover entworfen und mit der Laubsäge
ausgesägt hat,
ist aufgebaut, aber das Licht
hinter ihr brennt nicht.
Er hantiert an der Fassung der
Birne herum und schreit plötzlich laut.
Er steht nur da und schreit.
Der kleine 4jährige Uli geht zu
dem Stecker und zieht ihn langsam aus der Steckdose.
Vati hört auf zu schreien.
Der große Vati..
Er hat eine weißliche Brandwunde
an der Hand unterhalb seines Daumens.
Vati nimmt mich auf den Arm und
lächelt mich an.
Mit seinen großen Augen.
Seine glatte Glatze und sein
großer Kopf.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Sohns
Es war einmal ein Vogel, der hieß
Fehlervogel. Er besaß die Fähigkeit, aus jedem beliebigen Text alle
Schreibfehler raus zu picken, die die Kinder machten.
Man brauchte nur zu rufen
“Fehlervogel pick!” und schon kam das kluge Tier und pickte alle Fehler heraus.
Bei einem Kind waren so viele
Fehler im Text, dass der Fehlervogel platzte.
Ein dunkles Haus am Ölmühlweg in
Königstein. Ich suche mit Mutti Bucheckern.
Freude am Suchen und am Finden,
am Aufsammeln und in die Tasche stecken.
Am Ende der Treppe in unserem
Haus steht der große Nachbarjunge.
Er hat eine Kohlenschaufel in
seiner Hand, holt aus und schlägt auf meinen Kopf.
Ich werde ohnmächtig.
Vati zieht mich auf dem Schlitten
hinter sich her.
Auch Sherry ist mit dabei.
Sein Hund und der kleine Uli.
Muttis Überraschung für ihn.
Dann sitzt Vati plötzlich mit dem
Aquarium auf seinem Schoß im Zug.
Es ist nur noch mit wenig Wasser
gefüllt.
Die Fische kommen mit.
Wir ziehen um nach Fulda.
Die Ansage im Bahnhof.
Fulda, Fulda, hier ist Fulda.
Mit dem Taxi auf die Künzeller Höhe.
Die Oberglogauerstraße
hat noch keinen Belag.
Wackersteine und Basalt, Herr und
Frau Wehner warten freudig und begrüßen uns.
Haus Nummer 17, am Ende der
Sackgasse.
Ich werde in das Doppelbett unter
eine unbezogene rote Bettdecke gelegt.
Der Seidenbezug fühlt sich
merkwürdig auf meinen Beinen an.
Rechts neben mir steht der braune
große Kleiderschrank.
Ich muss schlafen.
Spaziergang mit Hund.
Mit Mutti und Vati zusammen.
Wir gehen vom Dorf Künzell die lange Straße am Hang hinauf Richtung Bachrain.
“Hast du Lust, in den
Kindergarten dort oben zu gehen?”
Ich weine vor Angst bei dem
Gedanken und sie geben bald auf.
Wir finden viele Hallimasche an
einem alten Baumstumpf, schneiden sie ab und essen sie mit Butter gebraten
zuhause.
Vati kennt alle Pilze auch mit
ihrer Bezeichnung auf Latein.
Mutti kann so gut kochen.
Besonders Milchreis mit Zucker
und Zimt und Eierpfannkuchen.
Und oft gibt es auch Linsensuppe
und Erbsensuppe.
Sie feuert jeden Tag den Herd an
und kocht darauf.
Eine Waschmaschine gibt es nicht.
Wir besuchen mit einem Freund der
Familie in dessen Auto eine befreundete
Familie Hertl in Weilburg an der Lahn.
Als wir ankommen, weigere ich
mich, auszusteigen.
Ich bleibe hinten im Auto sitzen.
Nur nicht hochgehen und aus dem
Auto raus zu der fremden Familie.
Ich will nicht.
Bin voller Angst.
Schüchtern, sagen sie dazu.
Sie lassen mich alleine.
Ich warte stundenlang. Von Zeit
zu Zeit kommt Mutti und eine fremde Frau und sie versuchen, mich hochzulocken.
Es soll dort oben in der Wohnung
eine elektrische Eisenbahn geben und eine Tischtennisplatte.
Ich bleibe im Auto.
Nach vielen Stunden gehe ich doch
mit hoch.
Es ist eine gemütliche Wohnung
unter dem Dach.
Eine Tischtennisplatte und eine
große elektrische Eisenbahnanlage.
Wir fahren zurück.
Es ist wunderschön bei Mutti im
Bett. Wir kuscheln uns aneinander und liegen Wange an Wange.
Sie erzählt mir wundervolle
Geschichten.
Wir lesen das Buch von den drei
Bären, die sich im Walde verirren und unter den großen Tannen schlafen.
Ich lasse das Buch später neu
binden und es liegt hier in der Wohnung.
Muttis warme große Hände auf
meinem Gesicht. “Mein kleiner lieber Junge!”
Harmonie und Wärme.
Manchmal schlägt mir die große
Hand plötzlich auf die Wange.
„Man muss Kinder auch verhauen,
damit sie brav sind!“
Ver-Hauen!
Wir sind brav geworden!
Es soll eine Rechenmaschine
geben.
Damit kannst du einfache
Rechnungen ausführen.
Ich will sie haben.
Am Geburtstag steht sie endlich
auf dem Deckchen am Fenster im Sonnenlicht.
Es ist ein kleines Holzgestell
mit bunten Perlen, die sich auf fünf Metalldrähten hin und herschieben lassen.
Ein Abakus.
Das ist also eine Rechenmaschine.
Na gut.
Ich hatte mehr erwartet.
Dann, später, in China sehe ich
den geschickten Umgang mit der Maschine, bin beeindruckt.
Es ist wirklich eine geniale
Rechenmaschine!
Abends im Bett.
Andreas und ich. Wir liegen in
der Dunkelheit. Das braune Holzradio steht auf dem Kleiderschrank.
Das grüne Auge am Radio leuchtet.
Wir sind gebannt von einem
Hörspiel, liegen verzaubert da.
Die Krähen. Alles voller
schwarzer Krähen. Sie kreisen um das alte Haus. Es sind verwandelte Menschen.
Der Besitzer des Hauses kennt als
einziger die Zauberformel. Er hat
alle Freunde und besonders seine verhassten Verwandten in Krähen verwandelt.
Krah, krah,
krah, krah.
Man muss den Menschen in
Aufregung versetzen, sonst funktioniert die Verwandlung nicht.
Plötzlich kommt Onkel Nikolaus zu
Besuch. Er ist der einzige, der auch noch die Rückverwandlung beherrscht.
Die Beiden kämpfen und versuchen
sich gegenseitig mit Wortgefechten zu erregen.
Schließlich das letzte
“Abrakadabra” und Onkel Nikolaus fliegt mit einem “Krah,
krah, krah” in die Nacht
hinaus.
Immer wenn ein Auto von Bachrain hinunterfährt, bewegt sich der Schatten des
Fensterkreuzes an der Wand nach rechts und dann nach links.
Mit dem Roller immer den Hügel
hinunter, die Straße entlang, die Oberglogauer Straße. Dann durch den Torbogen
unter dem Haus hindurch,
ich fahre schon sehr sicher.
So sicher, dass ich beide Hände
von der Lenkstange nehme.
Unter der Durchfahrt des Hauses,
die Stange und der vordere Gummireifen wackeln schnell hin und her, der Reifen
stellt sich quer und ich stürze rüber, auf das Gesicht.
Die Erinnerung ist weg.
Ich bin ohnmächtig.
Im Bett, viele Tage oder Wochen,
im Bett.
Otto Schäfer, mein Patenonkel,
dessen Namen ich auch trage, ist von Königstein im Taunus auch nach Fulda
gezogen und arbeitet an Vatis Schule.
Ich hole ihn am Bus gegen Mittag
ab und gehe mit ihm an Bender vorbei in sein kleines Zimmer.
Alles ist dunkel hier. Herr
Schäfer zieht die Rollläden hoch. Ich mag ihn.
Der eingefleischte Junggeselle.
War mit Ruth befreundet, aber
Vati nahm ihn aus Königstein mit an seine neue Winfriedschule in Fulda.
Er ist lieb zu mir.
Wir reden zusammen und ich bin
stolz auf meinen neuen Freund.
Vati macht mit mir und Flocki, seinem Drahthaarfox, wieder einen unserer langen
Spaziergänge.
Wir laufen den Berg hinunter an
der Bachmühle vorbei, dann hinauf nach Bachrain, von
der Kirche aus rechts weiter über den Feldweg zwischen Wiesen und nähern uns
langsam dem Geißküppel, einem kleinen Vulkanhügel.
Der Weg führt rechts an dem Hügel
vorbei, aber ich steige die beiden Kuppen hinauf.
Vati muss unten laufen, damit er
nicht zu stark unter seinem Asthma leidet.
Oben grabe ich etwas in der Erde
und finde einen weißen Engerling.
Dann auf der anderen Seite
hinunter.
Vati erzählt mir von den großen
Maikäferjahren in Oberschlesien, wo die Maikäfer säckeweise an die Hühner
verfüttert wurden und man sie in Öl kochte.
Weiter geht es an der Abdeckerei
vorbei, der Geruch von den Kuhleibern ist sehr schlimm.
Ich sehe sie liegen.
Dann das große Windrad, das sich
immer dreht. Die Metallstange verschwindet in einem Loch im Boden.
Die Häuser auf dem Florenberg
werden mit Wasser versorgt.
Der Wind pumpt es nach oben.
Jetzt den Florenberg hinauf zu
dem kleinen Friedhof, der am Hang liegt.
Vati liebt es, auf Friedhöfe zu
gehen und sich die Grabsteine anzusehen.
Wir besuchen ein besonderes Grab
und ich weine etwas.
Vati ist still.
Sein Freund Otto Schäfer..
Er war immer so lieb zu mir, wenn
ich ihn am Mittag am Bus auf der Künzeller Höhe
abholte und er mich mit in sein dunkles kleines Zimmer nahm,
die Rollläden hochzog und wir uns
kennenlernten.
Er ist noch nicht sehr alt.
Später findet die große Hochzeit
in einem Hotel statt.
Viele Gäste und ein riesiger
weißer Tisch. Ich pendele zwischen den Gästen und der Küche. Ein kleiner
Speisenaufzug, es ist schön hier.
Frau Schäfer mag ich auch gerne.
Sie hat mich sofort in ihr Herz geschlossen.
Zum Nachtisch gibt es eine große
Fürst Pückler Eistorte. Sie schmeckt anders als
normales Eis und ist mit Schokolade verziert.
Mich fasziniert der kleine Aufzug
an einem Seil, mit dem das Essen aus dem Untergeschoss hinauf in den Saal
transportiert wird.
Ich glaube mich zu erinnern, dass
ich mich in den kleinen Holzkasten hineinsetzen durfte und einmal nach unten
fuhr.
Ich sitze auf dem Wohnzimmerboden
und spiele mit Bauklötzen.
Alles ist friedlich.
Vor mir auf dem Sofa an der Wand
liegt Mutti und schläft.
Plötzlich entdecke ich hinter dem
Sofa zwei kleine Spitzen.
Der Teufel!
Seine Hörner sind genau zu
erkennen. Es muss der Teufel sein.
Ich nehme allen Mut zusammen und
klebe mit Knetekitt kreuz und quer ein Kreuz über die
Hörner.
Sie verschwinden langsam nach
unten.
Neben mir bricht der Teufel aus
dem Boden heraus, fährt nach oben, macht eine Wende und bohrt mir von oben
seine Hörner in den Kopf.
Ein stechender und brennender
Schmerz.
Ich liege auf dem Boden neben
meinem Bett. Mein Kopf berührt den Boden.
Ich bin wieder wach.
Wir gehen meinen lieben Onkel
Otto Schäfer im Krankenhaus besuchen.
Der Otto in meinem Namen stammt
von ihm.
Mein Patenonkel.
Ruth mochte ihn sehr, aber mein
Vater nahm ihn mit nach Fulda an die neue Schule.
Es ist immer dasselbe Krankenhaus
in Fulda, wo fast alles passierte.
Das Zimmer ist klein und dunkel.
Herr Schäfer liegt im Bett und
redet mit Mutti und Vati.
Neben seinem Bett steht ein
weißer Teller mit geschälten
Pfirsichstücken.
Sie sehen so lecker aus!
Ich frage Mutti, ob ich sie essen
darf. Sie will nicht.
Ich drängele sie, aber ich darf
nicht.
Mit dem Auto und Herrn Brockhausen zur Ebersburg.
Hans Brockhausen,
jeden Abend neben mir auf dem Sofa vor unserem Schwarz-Weiß-Fernseher.
Wir haben ja kein Auto und
niemand hat einen Führerschein.
Ich klettere alleine auf die Burg
hinauf.
Von dort sehe ich die Front der
Bäume.
Vor den Bäumen tanzen die dicken
Maikäfer in Schwärmen auf und ab.
Es ist wundervoll.
Der kleine Schallplattenspieler.
Das Lied „Nathalie“ von Gilbert Becaud.
Mutti tanzt und singt begeistert
mit, klatscht in die Hände und freut sich über den französischen Text.
https://www.youtube.com/watch?v=TilQ8BIHisw
Sie liebt fremde Sprachen.
So wie ihr Sohn Ulrich.
Selten lacht sie auf Fotos.
Manchmal im Leben.
Manisch-depressiv, so wie ich
auch ein wenig.
Und wie ihr Vater, mein lieber
Opa in Hannover.
Ernst Wolfhagen.
Ein toller Mann.
Der Alte mit der Zigarre.
Mein Gott Ernst, du sollst doch
nicht so viel rauchen!
Ach Gott Hermine!
Als mein Onkel Fritz Vogel, der
Schwager meiner Mutter, gestorben war, hat seine Tochter Tini alles von ihm in
blaue Müllsäcke gepackt.
Sie ging auch nicht zu seiner
Beerdigung in Alferde.
In den letzten Jahren spielte er
noch auf dem alten Klavier in der Butze neben dem Bach, wo man sich bücken
musste im Haus.
Einige Finger waren in der
Kreissäge geblieben, aber es ging noch.
Paul fand in den Säcken die
Briefe meiner Mutter und die Tagebücher meines Großvaters und meines
Urgroßvaters.
Meine Saunafreundin Margot hat
sie für mich in liebevoller Arbeit aus der Sütterlinschrift übersetzt und hier
sind sie:
https://ulrichthoma.de/wolfhagen/
Der Tod war zu Besuch.
Hat das Wertvollste genommen.
Ein kleiner Engel, mit 2 Jahren
noch im Paradies.
So schnell zurück ins Paradies.
Das Bild auf dem Fernseher.
Mein Bruder Christoph mit seinem
schwarzen Stofftier im Arm.
Der kleine Engel.
Mutti liebt ihn.
Und ihre kleine Tochter Renate.
Der kleine Junge.
Noch im göttlichen Zustand der
urteilslosen Freiheit.
2 Jahre alt.
Er war nie böse, war nie brav.
War einfach!
Im Krankenhaus mit Diphterie.
Eine Epidemie in Berlin
Charlottenburg.
Als Mutti auch auf einer anderen
Station mit Diphterie im Krankenhaus liegt, sagt Vati ihr nichts.
Wenn sie ihrer Frau sagen, dass
das Kind tot ist, wird sie auch sterben!
Der kluge Arzt.
Sie schaut oben aus dem Fenster
der Isolierstation des Krankenhauses.
Wie geht es Didi?
Vati mit der kleinen Renate an
der Hand.
Alles ist gut, es geht ihm gut!
Sie muss erst wieder zu Kräften
kommen.
Die Ärztin hat die Krankheit
nicht erkannt.
Sie war eine gute Freundin meiner
Mutter in Hannover.
Hat bis zu ihrem eigenen Tod die
falsche Diagnose bedauert.
Vati geht alleine mit Oma Hermine
und Tante Anne, die aus Hannover angereist sind, hinter dem Sarg her.
Der riesige Friedhof in
Stahnsdorf.
Die Kindergräber aus
Charlottenburg.
Es gibt sie noch.
Der freundliche Verwaltungsbeamte
des Friedhofs am Telefon.
Er sendet mir gerne die Grabkarte
per Mail zu.
Trinitatis - Feld 16 E - Straße 3
- Nr. 24 - Erdgrab.
Ich gehe auch den langen Weg vom
Osteingang aus über den Friedhof.
Finde die Kindergräber.
Auch den kleinen braunen Stein
des Nachbargrabes.
Der Stein meines Bruders
Christoph wird hier auch in der Nähe liegen.
Unter der Erde vielleicht, so wie
sein kleiner Körper.
Ich verdanke Didi mein Leben.
1943 findet wieder eine Geburt
statt.
Und dann noch ein letztes Mal am
31. Mai 1951.
In Königstein im Taunus.
Vati hat mit Ruth Eckhardt und
Otto Schäfer Skat gespielt und gewartet.
Meine liebe Kusine Rita, nur mit
wenigen Wochen Abstand, auch in Königstein geboren.
Hans, Vatis Bruder, ihr Vater.
Onkel Hans erklärt mir wie man
Fernseher repariert, schenkt mir Gleichrichter und ein Messgerät.
Er zeigt mir den großen Sender
auf dem Feldberg im Taunus, wo er mit den Kindern lange lebte.
Ob die Strahlung auch etwas mit
dem Krebs von Rita zu tun hatte.
Schon wieder einige Jahre her,
seit sie verschwand.
Schön, dass wir Konrad und Herta
noch einmal in Einbeck zusammen besucht haben.
Onkel Konrad hat meine Kopie der
Krippe von Jürgen Sohn vollendet.
Schöne Wintertage in den Alpen im
Pechhäusl nach Muttis Tod.
Demenz und Covid.
Beide sind nun auch fort.
1909 in Hannover geboren,
Mutti ist 42 Jahre alt.
Vati wurde von ihr überrascht.
Hab also Glück gehabt.
Immer Glück gehabt.
Ich habe ihn noch einmal
reingelegt!
Im Bett in Königstein.
Fast wäre ich nicht in
Erscheinung getreten!
Wir haben Glück
Wir haben Mut
Wir sind gesund
Es geht uns gut
Vati holt Mutti aus dem
Krankenhaus alleine ab.
Die kleine Renate öffnet die Tür
der Wohnung in der Leibnizstraße 27.
Mutti und Vati stehen vor ihr.
Tränen.
Du hast geweint, Milord - wilde Freude in der Wohnung von Frau Zarypow.
https://www.youtube.com/watch?v=kLH5xBbIBnY
Beide mögen sich sehr und
sprechen über Liebe und Leben.
Mutti vertraut ihr ihre intimsten
Geheimnisse an.
Frau Zarypow wird sie mir viele
Jahrzehnte später verraten.
Frau Zarypow sitzt vor dem
Gestell, das ihr Mann ihr liebevoll gebaut hat.
Ein dicker Lötkolben, am Boden
zwei dick gefüllte Säcke.
Birnenfassungen kleiner
Glühlampen und kleine gerollte Glühdrähte.
Hineinstecken in die Fassung,
festlöten, sich nicht die Finger verbrennen und ab damit in die Kiste.
Heimarbeit für einen Hungerlohn.
Doch immerhin ein Lohn.
Aus Polen kamen sie.
Nach Deutschland.
Er spricht kaum.
Aber ich höre seine Stimme noch.
Erinnere mich an Stimmen.
Baut mit mir aus kleinen
Steinchen eine Mauer als Windschutz in den Sand auf der Insel Fehmarn in Meeschendorf im Ferienlager der Stadt Rothenburg.
Meine zweite Reise an die See.
Mit Mutti.
Sie kauft mir bei einem kleinen
Kiosk eine chinesische Holzschachtel.
Zauberei.
Du legst etwas hinein und beim
zweiten Aufziehen des kleinen Faches ist es verschwunden.
Vieles ist beim Umzug nach
Königstein später verschwunden.
Auch die kleine chinesische
Holzschachtel.
Ich wurde nicht gefragt.
Wir stehen alle zusammen am 4.
Oktober 1957 an der Treppe, die zu unserer Veranda hinaufführt.
Starren zum Himmel.
Plötzlich sehen wir ihn!
„Is sich Sputnik, Mama!“
Sein Satz wird zu einem
geflügelten Wort in unserer Familie.
https://de.wikipedia.org/wiki/Sputnik
Frau Zarypow lebt schon lange
nicht mehr, auch ihr lieber Mann ist gegangen.
Er traute sich in den letzen
Lebensjahren nicht mehr aus der Wohnung in Freiburg, fühlte sich als polnischer
Ausländer dort, fürchtete sich.
„Herr Zarypow, sie müssen auf die
Straße gehen!“
Mein letzter Besuch bei ihnen.
Sie zeigte mir das wundervolle
Aquarell meines Onkels, was meine Mutter einfach aus dem Rahmen gerissen hatte,
weil es ihr gefiel.
Jetzt liegt es zusammengerollt
auf einem Haufen dort irgendwo in Freiburg.
Ilona ist auch gerade von uns
gegangen.
Hui….alle sind fort.
Wie lange noch?
Täglicher friedlicher Gedanke an
die Auflösung.
Vati läuft mit mir nach Bachrain hinauf. Es ist Sonntag, und wir
gehen ganz hoch bis zum Dicken Turm,
ein alter Wachtturm der Stadt Fulda.
In einem Haus in der Nähe dürfen
wir den Schlüssel ausleihen und steigen den Turm hinauf.
Den Dicken Turm.
Manchmal fahre ich jetzt sogar
alleine mit dem Fahrrad zum Florenberg und besuche das Grab am Hang, sitze hier
und blicke auf die Welt hinunter.
Ein wenig einsamer und so schön.
Ich sitze in der Badewanne, Mutti
mir gegenüber. Ich schiebe immer das große Holzschiff zu ihr und sie schiebt es
zurück.
Es fühlt sich dort so fremd an.
Wir sind sehr glücklich miteinander.
Dann darf ich nicht mehr mit ihr
baden, weil ich zu groß bin. Aber ich bin doch noch nicht zu groß.
Ich sitze in der Badewanne,
alleine. Plötzlich geht die Tür auf und Andreas und seine Freundinnen und
Freunde schauen herein.
Irgendwann bade ich nur noch
alleine.
Einmal darf mein Freund Peter
Braun mit mir zusammen baden.
Als ich ihn mit Charly in Bruneck bei Gießen in seiner Villa, die er als Orthopäde
gebaut hat, besuche,
erinnert er sich noch an das
Erlebnis und an meine Mutter.
Mit dem Fahrrad alleine zu Frau
Schäfer.
Ich besuche sie sehr gerne.
Sie lebt jetzt wieder alleine.
Eine kurze Liebe mit Otto.
Die letzten Pfirsichscheiben.
An der Straße, die vom Röhlingswald, wo im Mai die Käfer fliegen, nach Fulda
hinunterführt.
Sie hat im Garten drei Schafe,
und alles ist so gemütlich hier.
Wir trinken etwas und essen Kekse
zusammen.
Der Raum ist dunkel.
Ich mag sie.
Abends schneiden Vati und Mutti
Schweinefleisch in kleine Stücke, kochen alles auf mit Gewürzen und stellen es
über Nacht auf den großen Balkon, auf dem man auch bei Kerzenlicht Karten
spielen kann.
Am Morgen ist es fest geworden
und die Sülze ist fertig.
Besonders das Innere der Brötchen
schmeckt mir so gut.
Ich sammele es und knete eine
dicke Kugel zusammen, die ich auf der Fensterbank aufbewahre.
Als ich sie mir wieder einmal
anschaue ist sie mit einem blauen Schimmelfell bedeckt.
Immer wieder die gleiche
Patience. Dreimal den Haufen wenden.
Sie geht meistens beim dritten
Mal auf.
Herr Adalbert von Taysen, der Vater meines Schwagers Peter, behauptet, dass
sie bei ihm oft schon beim zweiten Mal aufgehe.
Aber er schummelt und beide
lachen darüber.
Mutti sitzt alleine am
Küchentisch.
Sie legt ihre Patiencen.
Dann wieder die schwere mit den
beiden verdeckten Reihen.
Sie geht nur sehr selten auf.
Starker Bohnenkaffee.
Endlich eine Kaffeemaschine, bei
der das kochende Wasser durch ein silbernes Metallröhrchen blubbert und von
dort in den Kaffeefilter tröpfelt.
Viele Zigaretten.
Meistens die Marke Stuyvesant.
Mein Freund Joachim hat sich
daran erinnert, wie er für meine Mutter mal eine Packung Overstolz
bei unserem Laden Bender oben auf der Künzeller Höhe
einkaufen ging.
In dem Schub des Küchenschrankes
liegt jeden Morgen der Zwanzigmarkschein.
Gut haushalten.
Ruhig aushalten.
Aushalten.
Mit der kleinen Henkelkanne hole
ich frische Milch von Bender.
Sie rubbelt die dreckigen
Strümpfe zwischen ihren Fingerknöcheln sauber und stopft sie später auf dem
Holzstopfpilz.
Tagelang stopft Mutti die Löcher.
Macht den Herd an mit Holz und
Kohlen, kocht darauf, auch die Wäsche in einem großen Topf.
Es gibt oft Erbsensuppe oder
Linsensuppe.
Häufig bekomme ich meine
Eierpfannkuchen mit Zucker und Zimt.
Manchmal bringt Vati ein ganzes
Huhn aus der Stadt mit nach Hause.
Er nimmt es dann am Küchentisch
aus und ich staune über die Eier im Bauch, die dort in verschiedenen Größen
hintereinander liegen und zum
Vorschein kommen.
Mit der Gurgel kann man trötende
Geräusche machen.
Im Badezimmer sind immer wieder Piepsgeräusche von Vögeln zu hören.
Sie kommen aus der Vaillant Gastherme
mit dem silbernen Hasen.
Ich gehe zu Herrn Wehner und
frage ihn.
Er hat ja das ganze Haus alleine
ohne Hilfe gebaut und kennt sich aus.
Wir steigen zusammen in den
Keller hinunter und er schließt einen Holzverschlag auf.
Das Piepsen ist hier auch zu hören.
Herr Wehner zieht eine runde
Metallkappe von dem Schornsteinrohr, welches hier endet.
Ein Haufen schwarzer Vögel fällt
auf den Boden.
Ein Vogel lebt.
Ich bitte ihn, ein Drahtgitter
anzubringen.
Er prügelte seinen Sohn Karlheinz
öfter so sehr, dass er sogar von dem Balkon aus dem ersten Stock hinunter auf
die kleine Wiese sprang, um vor seinem Vater zu fliehen.
Am Samstag gibt es einen großen
Teller voll mit Kuchen von Frau Wehner. Pflaumenkuchen mit Schmand,
lecker und Apfelkuchen.
Manchmal auch den leckeren
Zwiebelkuchen mit Grieben.
Einmal zeigt er mir, wie man
große Steine laufen lässt.
Man darf sie nicht anheben,
erklärt er mir liebevoll.
Man lässt sie auf ihren Ecken
oder Rändern einfach laufen.
Uli, ich gebe dir einen wichtigen
Rat fürs Leben:
Ergreife keinen Beruf, wo du mit
deinen Händen arbeiten musst.
Ergreife einen, wo du mit deinem
Kopf arbeitest!
Einmal gab mir Andreas sein
Fahrrad neben Bender, dem Lebensmittelladen auf der Künzeller
Höhe, denn er wollte gleich mit seinen Freunden los.
Ich sollte es nach Hause
schieben.
Ich stellte mich mit einem Fuß
auf die Pedale, wie ich es von dem Roller kannte, und rollte bis nach Hause mit
der Handbremse.
Plötzlich konnte ich
Fahrradfahren.
Flocki kommt angelaufen, über das
erdige Feld aus Richtung Habersack.
Sein schwarzes Maul voll Blut und
einige Federn.
Etwas später kommt Bauer
Habersack. “Ihr Hund hat wieder einen Truthahn gerissen!”
Vati zahlt.
“Wenn du das nicht machst, dann
bist du nicht mehr mein Freund!”
Ich mache es, denn ich habe sonst
keine Freunde.
Im Keller ist eine Ratte.
Sie hat sich unter den Kohlen
versteckt.
Herr Wehner wird geholt. Er geht
in unseren Keller und jagd die Ratte hinaus in den
Waschkeller, wo sie unter den großen runden Steinofen flüchtet. Dort sitzt sie,
und Herr Wehner kann sie nicht erreichen.
Herr Wehner schichtet um den Ofen
kleine Holzscheite auf und steckt sie in Brand. Die Ratte soll ausgeräuchert
werden.
Er wartet mit einem Spaten in der
Hand.
Irgendwann springt die Ratte nach
vorne und er schlägt ihr mit der Spatenkante in den Nacken.
Wir machen einen Ausflug nach Adolphseck. Die lange Allee entlang, durch die beiden
Steinpfosten hinein in das Schloss.
Vor dem Schloss der große Teich
mit den vielen bunten Goldfischen.
Im Park gibt es Albinohirsche. Alles ist anders hier. Etwas hübscher als
die Welt draußen.
Die großen Sumpfteiche. Ein Pferd
soll hier ertrunken sein.
Ein wenig unheimlich.
Dann gehen wir hinter das Schloss
zu der kleinen Gartenwirtschaft.
Holztische und Bänke, ein
leichter warmer Frühlingswind. Vati bestellt mir eine gelbe Sinalco Cola.
Den steilen Weg hinunter und
zurück.
Ich werde hier mit meinem Fahrrad
Höchstgeschwindigkeit erreichen.
Vati hat keinen Führerschein.
Er fährt jeden Morgen mit dem Bus
der Überlandwerke von der Künzeller Höhe zu seiner
Winfriedschule in der Stadt.
Hat seine Jahreskarte.
Manchmal geht er am Nachmittag
alleine ins Kino, wenn alle Arbeit in der Schule erledigt ist.
Die meiste Arbeit erledigt er am
Morgen in der Zeit von halb Fünf bis zu seinem Aufbruch zur Schule, nachdem er
für uns die Brote geschmiert hat.
Er war immer fleißig.
Herr Ressel und Johannes. Wir
machen uns auf den Weg.
Heute wandern wir zusammen
Richtung Rauschenberg. Herr Ressel hat eine Lederbandage um seine Hand. Der
Krieg.
Er ist immer freundlich und
gütig. Ich mag ihn gerne.
Wir laufen glücklich und voller
Abenteuerlust in seinem Schutz viele Kilometer und steigen dann langsam den
bewaldeten Rauschenberg hinauf. Er ist rund und beeindruckend.
Als wir im Wald sind beginnt Herr
Ressel kleine Eichentriebe zu sammeln. Er holt sie vorsichtig aus dem Boden,
kleine Eicheln mit weißen Würzelchen baumeln an dem jungen Holz und legt sie in
seinen Rucksack bis ein großes Bündel voll ist.
Plötzlich rennen vier blinde nackte Mäuse über den Waldboden.
Sie suchen Schutz und wir
beobachten sie.
Oben an der höchsten Stelle steht
wieder ein dicker Wachtturm wie überall rundherum um die Stadt.
Früher gab es hier keinen Wald.
Jetzt wachsen die Bäume fast über den Turm hinaus.
Unter dem Rauschenberg gibt es
Geheimgänge. An einer Stelle kann man reingehen. Ein dunkles Loch im Berg. Ich
kenne es. Ich sehe es vor mir.
Ich stehe in der Dunkelheit.
Schnell wieder ins Sonnenlicht.
Wieder zuhause nimmt Herr Ressel
die Eichenstecklinge und pflanzt eine Hecke um sein Haus.
Es wird viele Jahre dauern bis
die Hecke dicht und hoch ist.
Über die neue Umgehungstraße mit
den rasenden Autos gehe ich mit Vati und Flocki
hinunter nach Künzell.
In einer Drogerie steht auf dem
Tisch ein Spielzeug.
Ein Clown, sehr groß, hängt an
einer Reckstange. Der Verkäufer drückt einen Hebel und der Clown turnt.
Ich will ihn haben.
Aber Vati kauft ihn nicht.
Ich weine und bin verzweifelt.
Ich wünsche ihn mir so sehr.
Ich bekomme ihn nicht
Monate vergehen, vielleicht sind
es sogar Jahre.
Auf meinem Geburtstagstisch steht
der Clown.
Ich habe ihn schon lange
vergessen und spiele etwas mit ihm.
Unter der Umgehungstraße hindurch
Richtung Bachrain, dann links bis zu der Stelle, wo
an dem kleinen Grashang der Bach entspringt.
Der ganze Hang ist voller
Himmelschlüssel und unten wachsen dickstengelige
gelbe Sumpfdotterblumen.
Es ist nass und ich klettere den
steilen Hang hinauf.
Ich sammele die Himmelschlüssel,
ganz viele, bis meine Hand sie nicht mehr halten kann, für meine Mutti.
Sie freut sich sehr.
In Sickels
am Vogelsberg im Sonnenschein durch offene Wälder und
den Regentropfenwald mit nasser Kleidung
hinauf suchen wir Pilze.
Steinpilze, Maronenröhrlinge,
Birkenpilze voller Maden im Stiel, Stiel ab - Maden weg, Pfifferlinge, Krause
Glucke Ziegenbart, Vati kennt sie alle mit deutschem und lateinischem Namen.
Sammeln, sammeln, welche Lust.
Kleine Schätze.
Zuhause in der Pfanne alles mit
Salz und Gewürzen gebraten. Lecker, lecker.
Ich darf wieder dieses Jahr
unseren Pfirsichbaum im Garten ernten.
Es sind kleine aber leckere
Pfirsiche.
Eine ganze Wäscheschüssel voll.
Es ist wunderbar.
Plötzlich ist der Pfirsichbaum
abgesägt. Ich verstehe es nicht.
Auf den Stumpf setzen wir im
Winter ein Futterhäuschen für die Vögel.
Es ist endlich soweit. Wir dürfen
heute die Schwimmprüfung mit Herrn Leineweber im Rosenbad
ablegen.
Es beginnt mit einer
Überraschung.
Ich muss vom Einer rein springen,
das habe ich noch nie gemacht, noch nie den Kopf ohne Taucherbrille unter
Wasser gesteckt.
Ich stehe auf dem Brett. Vor mir
tief unten nur das Wasser. Es ist sehr schwer, aber dann springe ich, denn ich
will es ja schaffen. Wasser in der Nase und im Hals, in den Ohren - ich beginne
zu schwimmen.
Es ist ein kalter Herbsttag und
das große Becken ist leer.
Das Wasser ist auch sehr kalt.
Johannes schwimmt in meiner Nähe.
Die Zeit ist lang. Wir schwimmen
und beschließen, weil wir uns noch stark fühlen, gleich die halbe Stunde zu
schwimmen. Freischwimmer und Fahrtenschwimmer auf einmal.
Wir schwimmen weiter. Ich fange
die großen Ahornblätter ein und lege sie wie Schwimmhäute auf meine Hände.
Durchhalten.
Irgendwann sind die dreißig
Minuten vorbei. Wir steigen völlig erschöpft und zitternd vor Kälte aus dem
Wasser.
“So, jetzt noch rauf auf den
Dreier!” ruft Herr Leineweber. Das darf doch nicht wahr sein. Das Herz rutscht
mir in die Badehose. Angst.
Das schaffe ich nicht mehr.
Aber ich muss doch, sonst ist
alles umsonst gewesen.
Johannes springt und ich klettere
schlotternd die Metallleitern hinauf.
Auf dem Brett kann ich die Tiefe
nicht glauben.
Ich stehe und bin verzweifelt.
Nein, das ist Zuviel.
Unten ruft Herr
Leineweber:”Spring, Uli, spring jetzt, du schaffst es, los Uli, spring!”
Ich warte lange und springe dann.
Der Aufprall ist hart. Ich tauche
tief ein. Schlucke viel Wasser, komme wieder nach oben und schwimme mit letzter
Kraft an den Rand.
Die Leiter hoch und raus.
Fahrtenschwimmer überlebt.
Überleben.
Leben.
Der Neubau auf der oberen
Bachwiese. Der Bachmüller.
Die schöne Wiese.
Ich habe mir aus einer Astgabel
eine Zwille geschnitzt und an die Enden des Holzes rote Einweckgummis und ein
Stück Leder gebunden.
Sie schießt so stark und weit.
Es macht mir besonders viel Spaß,
auf das frische Dach des Neubaus meine Murmeln und Steine zu schießen. Bestimmt
achtzig Meter weit.
Klack, klack, klack.
Wir sitzen alle am Küchentisch.
Nur Vati ist in seiner Schule.
Renate und Andreas versuchen mir
mit Muttis Unterstützung die Bruchrechnung beizubringen.
Sie teilen Kuchen in Hälften und
Viertel und Achtel - natürlich nur mit Worten, halbieren Seile und Lineale, zerschneiden
Äpfel in Stücke.
Ich verstehe nichts.
Je mehr sie auf mich einreden,
desto dümmer komme ich mir vor.
Sie sprechen manchmal auch
Englisch miteinander, und ich kann sie nicht verstehen.
Ich muss in meinem Religionsheft
viele Zeichnungen machen.
Alles dauert sehr lange und ich
bin oft verzweifelt.
Warum musste ich schon mit fünf
Jahren in die Schule?
Oberwildflecken kann man nur
durch eine Straße erreichen.
Das Dorf ist wie ein großes
Flüchtlingslager mit Mietskasernen am Ende der Welt.
Ich fühle mich wohl hier, denn
meine Schwester Renate ist sehr lieb zu mir.
Mit Peter gibt es immer ein
Abenteuer zu erleben.
Es ist heiß heute. Ich ziehe mit
meinem kleinen Taschenangelzeug los.
Oben im Wald liegen die
Forellenteiche, hier fließt der kleine Bach durch das Dorf.
Die Erde ist zu hart getrocknet,
um Regenwürmer zu finden.
Ich suche einen roten Löwenzahnstengel und mache ihn an meinen Haken.
Hinter dem Betonrohr staut sich
dicker Schaum vor einem Ast.
Wenn ich eine Forelle wäre, dann
würde ich hier wohnen.
Ich schaffe es, den Haken durch
den Schaum hindurch zuschlagen.
Zupp, zupp,
zupp - eine dicke, große Forelle hängt an der Schnur
und ich ziehe sie an Land.
Der Stich in das Genick mit dem
Taschenmesser.
Ich renne zu meiner Schwester Renate,
und sie ist sehr schockiert, hat so etwas nicht erwartet. “Na, von einer werden
wir nicht satt!” sagt sie.
Ich fange noch mit Wurm an der
gleichen Stelle zwei weitere Forellen.
Die Fische zucken beim Braten in
der Pfanne.
Jede Nacht heulen die Hunde in
den Zwingern wie Wölfe.
Ein sehr friedlich aussehender
Schäferhund fletscht plötzlich die Zähne, als ich mich ihm mit meiner Hand
nähere, um ihn zu streicheln.
Mit meinem neuen Freund aus
Oberwildflecken geht es auf Entdeckung durch das Dorf.
Wir haben beide nur Badehosen an,
denn es ist wieder ein heißer Tag.
Unter einer Zementmauer ein Meer
von Brennnesseln.
Ich packe ihn und tue so, als ob
ich ihn in die Brennnesseln schubsen will.
Er schreit auf und lässt sich
fallen, zieht mich mit hinunter.
Wir wälzen uns in den Nesseln.
Erst geht es durch den Wald, mit
der Jugendbande und dem Fußball, dann kommen wir auf eine entlegene Wiese.
Ich hätte schon etwas ahnen
sollen.
Wir spielen ein wenig zusammen.
Dann fangen die Großen an, mich
mit dem Fußball auf den Kopf zu schlagen und mit den Fäusten in die Seite zu
knuffen.
Der kleine Junge aus der großen
Stadt.
Der Außenseiter.
Ich bin verzweifelt und heule vor
Schmerz und Erniedrigung.
Hilflos ausgeliefert.
Mein Freund kann mir nicht
helfen. Er ist auch wie ich. Deswegen mag ich ihn ja.
Ich komme blutend und weinend zu
Renate.
Wir staken auf Holzpaletten durch
den überschwemmten Keller eines Neubaus. Ich bin mutig.
Plötzlich kippt das Floß ganz
langsam um und ich tauche in die braune Baubrühe bis
zum Hals.
Ich belüge meine Schwester aus
Angst.
Johannes und Bernd Gram stehlen
bei Bender Süßigkeiten. Ich muss auch mitmachen.
Ich tue es mit Herzklopfen.
Tage später stehe ich mit Mutti
am Milchstand und hinter mir werden Johannes und Bernd von Herrn Bender
erwischt.
Beim Fleischer gibt es meistens
eine Scheibe Wurst zum probieren.
Die letzten kalten Herbsttage im Rosenbad.
Johannes und ich gehen gerne hin.
Wir kaufen uns das Brötchen für
zehn Pfennige und essen erst das Innere, dann langsam die Hülle auf.
Es liegt sich gut auf dem
Handtuch.
Wir sitzen auf dem Holzsteg an
der Fulda.
Ein toter Igel treibt mit dem
Bauch nach oben langsam vorbei.
Die Blutegel sind auch wieder da.
Nicht mit den Beinen in den sumpfigen Uferrand
kommen.
Ein freundlicher junger Mann
spricht mit uns. Er zeigt uns spannende Dinge, die sonst noch nie jemand mit
uns machte.
Johannes soll seine Badehose
etwas runterziehen, bis hinten der Po ein wenig zu sehen ist.
Er ritzt uns mit einem Stöckchen
einen Blitz auf den Oberarm und auf die Oberschenkel.
Johannes geht weg, weil es ihm Zuviel
wird.
Ich bin vorsichtig, aber
neugierig, werde mir dann sicherer, was er will und trenne mich auch.
Im Kessel des Rosenbades unter
den Sprungtürmen finde ich häufig beim Tauchen Zehnpfennigstücke, manchmal
sogar ein Markstück, einmal ein Zweimarkstück.
Ich bin sehr reich.
In Vatis Schule gibt es ein
Trampolin.
Herr Leineweber springt mit uns.
Andreas kann es schon sehr gut,
Johannes und mir macht es viel Spaß.
Salto schlagen.
Danach in die Umkleideräume.
Wir sollen duschen, aber ich
schäme mich zu sehr.
Johannes duscht mit.
Rechts neben dem Bauch Schmerzen.
Untersuchung im Krankenhaus.
Der Blinddarm muss raus.
Oberarzt Professor Doktor stellt
die Diagnose nach kurzem Druck auf die Stelle, die mir kaum noch weh tut.
Einige Tage Schulfrei, ich lasse
alles mit mir geschehen.
Es ist ein besonderer
Wurmfortsatz - geringelt wie ein Schweineschwänzchen.
Die erste und letzte Zigarette.
Bernd Gram hat sie mitgebracht, und ich muss mitrauchen.
Sie schmeckt schrecklich.
Johannes macht auch mit, aber wir mögen sie beide nicht.
Für Bernd ist es ein Genuss etwas
Verbotenes zu tun.
Nach dem Rosenbad
geht es an heißen Tagen zu Gieselregen, der Bäckerei
mit dem guten und billigen Wassereis.
Es gibt immer Riesenportionen für
vierzig Pfennige oder mehr.
Vati gibt mir kein Taschengeld,
und immer wenn ich ihn um etwas Geld bitte, sagt er “Nein!” und gibt mir dann
doch das Geld.
Mein kleiner toter Vogel.
Er bewegt sich nicht.
Ich betrachte ihn und berühre
seine Federn. Die kleinen schwarzen Augen.
Die harten Krallen. Wie leicht er
ist.
Ich lege ihn in eine
Zigarrenkiste und begrabe alles unten an der Mauer neben dem Holunderbusch mit
den dicken Trieben und dem merkwürdigen Geruch, der dem zerbrochenen Holz und
der Schale entströmt.
In die Erde.
Nach einigen Tagen sehe ich nach,
wie es meinem kleinen Vogel geht.
Ich begrabe ihn schnell wieder.
Mit großen Augen schaue ich in
die Dunkelheit, in die Dunkelheit hinunter zur Bachmühle, wo der Bus kommen
soll.
Mutti hat mir schon einen
Schlafanzug angezogen, denn es dauert noch lange.
Der Bus soll Mutti und mich nach
Langeoog bringen, Renate und Andreas auch.
Ich warte voller Vorfreude auf
die erste große Reise meines Lebens.
Am Wattenmeer eine lange
Wanderung durch die Nacht, wie tapfer der kleine Junge ist, sagen alle.
Wir warten und ich schlafe in
einer Wartehalle auf der harten Holzbank mit meinem kleinen Anorak und der
Kapuze.
Das Schiff fährt nicht.
Dann endlich geht es hinüber nach
Langeoog.
Mit Mutti liege ich eng und
kuschelig in einem Kojenbett, gegenüber die liebe
Sekretärin von Vati, Frau Möller.
Ich bin geborgen und das Meer ist
so aufregend.
Plötzlich sitze ich nackt am
Strand und die kleinen Wellen lecken den Sand hinauf. Ein salziges, kribbeliges
Gefühl zwischen den Beinen.
Unbekannt für mich, es fühlt sich
gut an.
Warme Sonne, ein weicher Wind und
das Salzwasser, kleine Muscheln, es ist wunderschön hier.
Weit entfernt winken Renate und
Andreas von einer Sandbank herüber.
Sie holen mich ab, nehmen mich an
beiden Armen und helfen mir auf die Sandbank zu kommen.
Viele Jahre werde ich noch von
der wundervollen Nordsee träumen.
Über uns ist wieder ein großer
Geschrei.
Karl Wehner jagt Karlheinz Wehner
durch die Wohnung, um ihn zu prügeln. Man sagt, er habe schon im Gefängnis
gesessen.
Mein Bruder Andreas sagt, dass er
ihm mal 50 Mark gestohlen hat.
Ich mag ihn und kann es nicht
glauben.
Karlheinz springt vor Angst vor
Vater Karl über die Balkonbrüstung im ersten Stock hinunter auf die
Rasenfläche.
Ganz oben wohnt Herr Czerwionka mit seiner Frau, Grundschullehrer in Bachrain. Ich spiele gerne mit ihr. Wir knobeln mit
Streichhölzern. Sie ist sehr freundlich und einsam.
Herr Czerwionka
und meine … - nein, ich kann es nicht glauben!
Irgendwann ziehen sie aus und
wohnen woanders.
Auf der Straße vor der großen
Bachwiese fangen zwei Jungen aus Bachrain an, mich zu
quälen.
Herr Czerwionka
sieht es von seiner Terrasse aus im dritten Stock des kleinen Hauses.
Er rennt die Wiese runter und ist
in wenigen Minuten da, ohrfeigt die Beiden und schreit sie an.
“Uli, werde niemals Lehrer!” rät
er mir.
Wenn wir mit Herrn Brockhausen, der Lehrer an einer Berufsschule ist, zu
Renate und Annette und Bettina fahren, dann dreht er sich immer beim
Rückwärtsfahren in der Oberglogauer nach hinten, sodass er ein schnarchendes
Atemgeräusch macht.
Mutti und ich lachen später immer
darüber.
Wenn wir abends vor dem neuen
Fernseher sitzen, dann rollt er immer einen dicken Popel zwischen seinem Daumen
und Zeigefinger.
Mutti und ich schauen uns an und
verziehen voller Ekel das Gesicht.
Warum sitzt er so oft am
Nachmittag an unserem Küchentisch?
Eigentlich jeden Tag!
Warum hält er sogar Muttis Hand,
die ihm gegenübersitzt und ihn anstrahlt?
Frau Zarypow weiß es!
Ich auch.
Aber erst als ich älter bin und
meine Mutter schon lange tot ist, erfahre ich Genaueres von Frau Zarypow.
Mein Bruder verbrannte das
Tagebuch von ihr, als Vati alles las.
Mein armer naiver Vater.
Aber eigentlich geht das ja niemanden
etwas an.
Oder doch?
Warum? Warum hat jeder Frühling
ach nur einen Mai?
Warum? Warum geht jede Liebe ach
so schnell vorbei?
Warum? Da, da, da, da, da, da,
da, da, da, da?
Da, da, da, da, da. Da, da, da,
da, da!
Wir singen zweistimmig die Melodie
des kleinen Liedes, dessen letzte Zeilen wir vergessen haben.
“Schau her, wie man Steine
bewegt!” sagt Herr Wehner im Sonnenschein.
“Du musst sie laufen lassen,
immer von einer Kante auf die andere, so -
und niemals einen Stein anheben,
mit dem ganzen Gewicht, das ist falsch, immer so laufen lassen, so habe ich
mein ganzes Haus alleine gebaut, ohne Hilfe!”
Er baut eine große Steinmauer und
einen neuen Teil mit zwei kleinen Wohnungen an sein Haus.
Vor wenigen Monaten ist er am
Steuer seines großen Lastwagens eingeschlafen, die hinteren Lastwagen in der
langen Kolonne fuhren auf.
Millionenschaden, Entlassung nach
vielen Jahrzehnten bei der Firma Feuerstein.
“Du darfst nicht schlafen, mein
Junge! Weißt du denn schon, was du mal werden willst?
Ich rate dir, studiere und
ergreife einen Beruf, bei dem du nicht mit den Händen arbeiten musst, so wie
ich, ich war Bauer und komme vom Land, ich weiß, wovon ich rede, werde doch
Lehrer, wie dein Vater!” sagt Herr Wehner, der Steine laufen lässt.
Endlich alleine mit Mutti in Gersfeld und keine Schule.
Wir machen zwei Wochen Urlaub im
Hotel Goldener Stern bei Frau Krüger.
Ihre beiden Söhne gehen auf Vatis
Schule und er gibt ihnen umsonst Nachhilfestunden.
Es ist eine schöne Zeit ohne
Spannungen und voller Liebe.
Abends gehen wir oft den
Wanderweg am Hügel Richtung Wald.
Auf der Hangwiese gegenüber
kommen viele Rehe aus dem Wald.
Ich kann sie gut mit dem großen
Fernglas, dass mir mein Schwager Peter schenkte,
beobachten.
Mutti ruft beim ersten Mal
erstaunt:”Schau mal, die vielen Kühe!” und wir lachen zusammen.
In der Fulda stehen dicke
Forellen, die man gut von einer Brücke aus beobachten kann.
Nachmittags gehen wir oft in das
Schwimmbad und spielen manchmal Minigolf.
In dem Tal Richtung
Schwedenschanze gibt es ein Wassertretbecken und wir ziehen unsere Schuhe und
Strümpfe aus und laufen durch das kalte Wasser. Kneipptreten.
Mutti unterhält sich gerne mit
einem gebildeten älteren Herrn im Hotel.
An einem Tag bekommen wir
plötzlich Lust zu Renate nach Oberwildflecken zu fahren, aber wie?
Ich schlage vor, einfach zu
trampen, denn das habe ich schon gemacht.
Mutti stellt sich an die Straße
und winkt dem ersten Auto zu.
Es hält sofort, ein dicker
Mercedes mit einem freundlichen Herrn.
Wir fahren über die
Schwedenschanze bis nach Bischofsheim.
Dann hält eine Frau in einem
Lieferwagen und nimmt uns bis an die kleine Abzweigung im Tal mit.
Die letzten Kilometer laufen wir
zu Renate, die sehr überrascht ist.
Renate und Mutti lieben sich
sehr.
Es ist schön hier.
Bei Peter Braun in Weyhers.
Herr Braun leitet die Dorfschule
und es riecht immer etwas faulig von der Toilette in dem alten Schulhaus, wo
die Sechs wohnen. Der große Dieter ist auch da und die eine Schwester mag ich
besonders gerne.
Wir pirschen an dem kleinen Bach
entlang.
Nach langem Schleichen hebt Herr
Braun die Flinte und schießt zwei Wildenten.
Am Abend werden sie von Frau
Braun gebraten, die mir mit ihrer freundlichen hellen Stimme rät:”Uli, gehe
bloß niemals in so ein kleines Dorf und werde Lehrer in so einer Dorfschule!”.
Ich staune.
Abends spiele ich mit Herrn Braun
Schach.
Ruhig und zwingend setzt er mich
matt.
Mit dem Schäferzug.
Ich bewundere sein perfektes
System der Deckung und des Angriffs.
Mit Peter wieder zu dem kleinen
Bach Fulda. Wir liegen in der Sonne in unseren Badehosen und schwimmen an einer
tiefen Stelle.
Ich mag seinen Körper.
Im Bus fahren wir an einem Kino
vorbei und ich frage ihn verschämt:”Peter, was heißt denn das Wort “Sex”?”
“Was, das weißt du nicht!” grinst
er mich an, denn er weiß schon viel mehr davon als ich.
Ich dränge ihn lange und endlich
verrät er es mir:
”Das heißt “nackt”!”
Wir spielen in der neuen
Turnhalle in Weyers barfuß Federball und ich schlafe manchmal bei ihm und er
bei uns.
Er war ein kleiner Freund.
Als ich ihn mit Charly in seiner
Villa bei Gießen besuche, wo er als Orthopäde arbeitet, erzählt er mir, dass
meine Mutter uns zusammen in der Badewanne gebadet hat und ihn das sehr
beeindruckte.
Das hatte ich vergessen.
Erst später beginne ich mich für
Mädchen zu interessieren.
Es gab ja praktisch keine vorher!
Im Winter baue ich an den kleinen
Holzkasten im Schnee eine Klappe.
Wenn der große Kirschkernbeißer
im Kasten ist, ziehe ich das Stöckchen mit einem langen Seil weg.
Ich nehme den Vogel in die Hand
und halte ihn fest.
Der Schnabel ist sehr stark und
er beißt mich.
Dann lasse ich ihn fliegen.
Einmal habe ich eine kleine Meise
gefangen und nehme sie mit in unsere Wohnung in den Wintergarten.
Plötzlich schlüpft sie aus meiner
Hand und fliegt gegen das große Kippfenster, will in die Luft, in den Garten
hinaus.
Ihr Genick ist gebrochen.
Ich weine bitterlich.
Ich werde nie wieder Vögel
fangen.
Ich begrabe sie.
Langsam kommt die Weihnachtszeit
immer näher und eine freudige Unruhe ergreift von mir Besitz.
Es hat schon genug geschneit und
wir können mit dem Schlitten die Königsbergerstraße, auf der noch Erde und kein
Asphalt liegt, runterfahren.
Man müsste Wassereimer
ausschütten, plane ich, damit es noch eisiger und glatter wird.
Dann endlich, der Weihnachtstag.
Das Wohnzimmer ist den ganzen Tag
abgeschlossen und ich habe Lust durch das Schlüsselloch hineinzusehen aber auch
Angst vor dem Pfeffer.
Irgendwann endlich das Klingeln
einer Glocke.
Da steht er, der Weihnachtsbaum
voller Kerzen mit Kugeln und den merkwürdigen kleinen Vögeln aus Glas.
Vati spielt am Klavier und wir
singen die Lieder.
Dann das dicke Paket aus
Hannover, in dem immer ein Geschenk für mich drin ist.
Dieses Mal ist es ein kleines Holztor mit einem Torwart, den man an einem Stöckchen hin
und her bewegen kann.
Wir essen die Gans mit Rotkohl
und Klößen.
Am Abend spielt Vati mit uns
allen dann Lotterie.
Es ist jedes Jahr ein
wundervolles Fest.
Die Krippe von Sohns ist auch
dabei.
Ich wünsche mir so sehr
Holzstelzen und an meinem Geburtstag stehen sie dann plötzlich da, mit einer
Tüte gebrannter Mandeln.
Vati hat sie für mich beim
Schreiner anfertigen lassen.
Ich bin jetzt vierzig Zentimeter
größer.
Es ist soweit.
Mit Mutti stehe ich vor dem
Rektor mit dem Glasauge.
Er lächelt mich freundlich an und
sagt:
”So, Uli, male hier einmal ein
Haus auf diesen Zettel!”
Ich male ein Haus mit einem
kleinen Fenster.
“Sehr gut, ihr Junge ist mit
seinen fünf Jahren schulfähig!”
Plötzlich sitze ich in einer
Klasse mit einundvierzig anderen Kindern in der vorletzten Reihe mit meiner
Latzhose
ziemlich weit hinten.
Zwei Plätze weiter sitzt meine
Lotte mit den blonden Haaren.
Ich mag sie.
Ich bin einer der Größten und der
Jüngste von den 42 Schülern.
Vorne steht Herr Pösel mit seinem Schnauzbart, den ich sofort mag.
Er hat sofort gemerkt, dass ich
sehr schüchtern bin und voller Angst vor dem Neuen.
Aber ich soll von der Tafel das
Wort “Otto” in Schreibschrift mit runden Linien abmalen.
Ich kann es nicht, ich kann es
nicht, ich kann den Stift nicht halten, wie ich es soll, ich kann es nicht,
Angst und Hilflosigkeit.
Dann male ich es mit Mühe, will
alles besonders gut und richtig machen und irgendwann ist auch das vorbei.
Aber es wird immer so oder so
ähnlich bleiben bis sehr viel später.
Alle sind schon fertig und Herr Pösel steht neben mir und drängt:”Uli, du musst jetzt
schnell zum Ende kommen!”
Ich habe furchtbare Angst und
Not, meine Muskeln ziehen sich fast schmerzhaft zusammen.
Irgendwie ist es ein richtig
schönes besonderes Gefühl und in meiner Furcht genieße ich es.
Aber das passiert nur wenige Male
bis viel später dann.
Johannes geht wie jeden Tag mit
mir nach Hause.
An dem neuen Sportplatz entlang
neben uns rechts die Hauswände der Reihenhäuser.
Plötzlich an der Wand eine Katze,
die eine dicke, fette Maus immer hin und her scheucht.
Die Maus kann nicht entkommen und
die Katze spielt ihr Spiel weiter.
Ich bin verzweifelt und will die
alte Maus retten.
Keiner hilft.
Ich greife nach der Maus und
versuche sie in die Hand zu nehmen.
Sie beißt mich plötzlich und
kräftig unter den Fingernagel meines Zeigefingers, dass das Blut läuft.
Voller Wut gebe ich auf und werfe
sie auf den Hang des Sportplatzes nebenan.
“Morgen bin ich nicht in der
Schule und meine Kollegin wird euch unterrichten!” sagt uns Herr Pösel.
Auf dem Nachhauseweg sagen mir
mehrere Kinder:
“Die ist böse!”
Am Morgen bleibe ich im Bett und
warte, bis Mutti kommt.
“Ich bin krank und kann heute
nicht in die Schule gehen!”
Mutti holt das Fieberthermometer
und sagt dann, dass ich doch in die Schule gehen könne.
Ich weine verzweifelt los und
erzähle ihr von der bösen Lehrerin, weigere mich schreiend, zu gehen.
Sie zieht mich mit Gewalt an,
setzt mich hinten auf ihr Fahrrad und ich werde heulend und schluchzend bis vor
die Klassentür gebracht.
Die Tür geht auf und ich stehe
vor der Klasse.
Die Lehrerin spricht mit Mutti.
Sie ist lieb.
Der ganze restliche Schultag ist
gut.
Sie war ja doch lieb.
Zum ersten Mal in meinem Leben
sitze ich mit Mutti in der Kirche neben
der Schule am Gallasiniring.
Früher war es eine Pferdehalle.
Ein Pfarrer steht auf der Kanzel
und predigt.
Er spricht vom Heiligen Nepomuk.
Wenn er den Namen ausspricht,
zucke ich jedes Mal vor Schreck zusammen, denn er schreit das “muk” laut ins Mikrofon.
Die Kirche ist mir unheimlich und
wir gehen erst mal nicht mehr hin, viele Jahre später dann gehe ich Freitag in
den Schulgottesdienst, Sonntag um halb neun in die Kindermesse und dann um halb
zwölf mit Vati nochmal, jahrelang.
Auf dem Nachhauseweg warten immer
die Zwillinge auf uns. Lotte geht mit Johannes und mir.
Da sind sie.
Sie sind viel kleiner als wir
drei, aber wir haben Angst vor ihnen.
Einer der beiden hat einen großen
Wackerstein in seinen Händen und wirft ihn Lotte auf den Fuß.
Sie schreit vor Schmerz und wir
helfen ihr nach Hause.
Ich mag Lotte gern, besonders
ihre blonden Zöpfe.
Ihr kleiner Bruder zeigt mir sein
Zahlenschloss.
Viele Jahre später sehe ich einen
der beiden Zwillinge wieder.
Er hat eine richtige kleine
Peitsche in der Hand und schlägt auf unserem Spielplatz ein Mädchen damit.
Er peitscht sie richtig aus.
Alle haben Angst und das Mädchen
schreit hilflos.
Ein Mann schleicht sich von hinten
an den Zwilling, entreißt ihm die Peitsche und zerbricht sie.
Er läuft heulend davon.
Manchmal geht Herr Pösel an der Wand des Klassenraumes entlang nach rechts
hinten. Er rückt das Holzkasperletheater ab und wir sehen ihn dahinter
verschwinden.
Der Vorhang öffnet sich
irgendwann langsam und Kasper erscheint.
Er spricht mit uns, erzählt uns
vom Teufel, der dann plötzlich auch da ist.
Er hat eine völlig andere Stimme
als Kasper und ist sehr böse.
Wie in unserer Geschichte im
Schulbuch schüttet Kasper dem Teufel am Ende Tinte über den Kopf.
Die Figuren leben.
Obwohl ich Herrn Pösel jedes Mal hinter dem Wandschirm verschwinden sehe,
kann ich kaum glauben, dass er spricht und nicht die Figuren.
Johannes geht es auch so.
Im Winter darf ich mit Johannes
und anderen Kindern im Klassenraum bleiben und wir fädeln kleine Wattebällchen
auf. Es dauert sehr lange und irgendwann rieselt der Schnee von der Decke
unseres Klassenraumes herunter.
Ich werde mit Johannes und
anderen Schülern ausgewählt.
Wir dürfen bei einer Aufführung
mitmachen, die sich Herr Pösel ausgedacht hat.
Jeder zieht einen Nylonstrumpf
über sein Gesicht, es fühlt sich komisch an.
Dann setzen wir eine Pappmaske
auf den Hinterkopf und üben Turnbewegungen zu “Alla Turca”
ein.
Es sieht sehr merkwürdig für die
Zuschauer aus, denn alle Bewegungen sind ja verkehrt herum.
Ein warmer Sommerabend.
Das Jahr 1957.
Wir stehen alle an der Treppe vor
der Veranda und schauen in den dunklen Nachthimmel hinauf.
Endlich entdeckt jemand den
kleinen leuchtenden Punkt und wir staunen auf die schnelle
leuchtende Bewegung.
Herr Zarypow sagt:”Is sich
Sputnik, Mama!” und Mutti lacht voller Freude über den lustigen Satz.
Er wird zu einem geflügelten Wort
für uns.
Mutti und Frau Zarypow mögen sich
sehr. Sie singen und tanzen zusammen in Frau Zarypows
Wohnung zu “Du hast geweint, Milord” von Edith Piaf
und “Nathalie” von Gilbert Becaud.
https://www.youtube.com/watch?v=dBiK69v-eXk
https://www.youtube.com/watch?v=CRVvLLNN5wM
Frau Zarypow kann sich genau wie
Mutti sehr begeistern, für Musik, Liebe und Gefühl.
Sie sind Freundinnen in der
Einsamkeit des Fuldaer Lebens.
Frau Zarypow bringt uns kalten
Hund und Mohnkuchen.
Sie sitzt an dem großen Lötkolben
und lötet in Heimarbeit unzählige kleine Drähte an unzählige kleine
Taschenlampenbirnen.
Ilona spricht kaum Deutsch, als
sie aus Polen ankommen.
Mutti hatte nie irgendwelche
Vorbehalte gegen Ausländer, für sie zählte nur der Mensch.
Sie schenkt Frau Zarypow ein
wunderschönes Aquarell von Helmut, braune Boote am Strand, nimmt es einfach aus
dem Rahmen und gibt es ihr. Mutti ist sehr großzügig, sehr großherzig.
Andere Werte bestimmen ihr Leben.
Wie schön, dass ich so fühlen
kann wie sie.
Ich bin voller Liebe.
Sie ist mein Ein und Alles.
Meine Mutti.
Der große Tag ist da.
Wir treffen uns nachmittags mit
Pfarrer Kretschmar in der Kirche am Gallasiniring.
Es ist der Tag unserer ersten
Beichte.
Wir müssen zwei Stunden lang auf
den harten Holzbänken knien.
Ich spüre meine Knie vor
Schmerzen nicht mehr. Ich soll in mich gehen und mich auf den wichtigen Moment
vorbereiten.
Nacheinander gehen die Kinder
dann in den Beichtstuhl zu Pfarrer Kretschmar.
Zitternd und aufgeregt gehe ich
endlich auch hinein, flüstere meine gelernten Sätze und sage dann, dass ich
böse zu meinen Eltern gewesen bin und meinem Bruder Schimpfworte gab.
Ich hatte mir meine Sünden
sorgfältig aus der Liste im Gesangbuch herausgesucht.
Als Buße muss ich drei Vaterunser
beten und werde von meinen Sünden freigesprochen.
Als ich wieder aus der Kirche
raus bin, geht es mir etwas besser.
Immer wenn wir an dem Gebäude
vorbeigehen, sollen wir einen Knicks machen und unsere Mützen abnehmen,
hat Pfarrer Kretschmar gesagt.
Ja, die Beichte war die
Voraussetzung für die erste Kommunion.
Die haben wir dann auch mit
Lehrer Pösel zusammen erlebt.
Johannes ist hier auf dem Bild
vorne zu sehen, ich etwas abgedeckt weiter hinten links.
Die Schule ist aus und Johannes
geht mit mir zusammen die Treppe runter.
Unten auf der rechten Seite
stehen einige Kinder und versuchen durch ein Schlüsselloch zu schauen.
Wir gehen auch hin. Dort sollen
Kinder geimpft werden und wir sind beide neugierig.
Gerade bevor wir zu der Tür mit
dem Schlüsselloch treten, kommt der Schulleiter die große Treppe herunter.
Die anderen Kinder schreien uns
an: “Schnell weglaufen!”
Johannes und ich rennen los, der
Rektor mit dem Glasauge hinter uns her, über den halben Schulhof, rechts die
große Steintreppe hinunter und dann packt er uns.
Zurück mit ihm heulend in die
Schule, die Treppen wieder hinauf in sein Rektorenzimmer.
Hier stand ich doch schon einmal.
Er befragt uns ganz ruhig und wir
heulen beide wie die Schlosshunde, obwohl wir überhaupt nichts gemacht haben.
Dann beruhigt er uns wieder und lässt
uns laufen.
Wir haben öfter mal bei ihm im
Vorbeigehen geklingelt.
Es ist nie eine Frage, ob ich auf
das Freiherr-vom-Stein-Gymnasium gehe werde oder
nicht.
Johannes und Reinhard Keller, mit
dem ich nicht sprechen darf, weil er ja Protestant ist, kommt auch mit in die
neue Klasse.
Herr Tschöpp
ist ein scheinbar lockerer kleiner Mann, der von seinen Reisen als Sportflieger
erzählt und mir den Spitznamen “Schlangentöter” gibt.
Er ist ein guter Kumpel und wir
machen mit ihm herrliche Wandertage in die Rhön, mit Jungenkampfspielen,
Erbseneintopf über Lagerfeuer und Besichtigung der Fuldaquelle auf der Wasserkuppe.
Auf einem Schulfest wird von ihm
ein riesiger Maibaum in einem Loch, das wir graben, aufgestellt.
Vorher haben wir den Stamm unter
seiner Anleitung mit Seife eingerieben.
Dann müssen die Jungen barfuß auf
dem Fest hinaufklettern.
Wenn jemand sich falsch verhält,
gibt es ein Ritual:
Er muss sich auf einen Stuhl
knien und Herr Tschöpp gibt ihm zwei oder drei
Schläge auf den Hosenboden.
Wir finden alles in Ordnung.
Nur einmal wundere ich mich, dass
ein Junge seine Schuhe und Strümpfe ausziehen muss und Herr Tschöpp
die Sauberkeit seiner Füße begutachtet.
Es war Günter Partosch.
Auf dem Klassentreffen nach dem
Abitur merke ich, dass Herr Tschöp ein Toupet trägt.
Pustend kommt Lehrer Winter den
Gang entlang, wie immer zwei Bücher unter seinen Arm geklemmt.
Wir stehen schon zitternd auf
unseren Plätzen als er den Klassenraum betritt.
Er setzt sich, stützt seinen Kopf
in die Hände, sieht uns nicht an und spricht sein “Guten Morgen - setzt euch!”
wie immer in einem Atemzug.
Sein merkwürdiger östlicher
Akzent unterstreicht den Auftritt.
Wir halten zitternd die Zettel
unter den Bänken fest und wiederholen im Geiste die Merksätze während er in
seinem Notenbuch blättert.
Erwischt es mich diesmal oder
nicht?
“Tomaeeh!
Koum mal nach vooorneeh!”
Ich erstarre vor Schreck.
Stehe vorne neben ihm und er
schielt lächelnd, scheinbar freundlich von unten herauf.
“Naaah,
mein Jungeeh, sag uns doch einmal was das GGT iiist!”
Ich beginne den Satz
herunterzuleiern, den weder ich noch die meisten anderen meiner
Klassenkameraden verstanden haben.
“Das GGT ist der größte
gemeinschaftliche Teiler zweier Brüche, von denen der eine ein ...!” ich
stocke, denn ich habe nichts verstanden und ich darf ja keine Fehler machen.
“Na, was iist
denn loos mit diir, Jungeeh?” Winter schaut mich an.
Dann macht er seine Bewegung mit
dem linken Arm, wie ein Drehen an einer großen Kaffeemühle und wiederholt dabei
den Satz, den ich gerade gesprochen habe, hält aber vor dem Ende an und fragt
mich dann:”Weiter!”
Ich kann nicht weiter, bin den
Tränen nahe, denke daran wie er Günter Partosch bei
den Haaren packte und mit dem Kopf gegen seine falschen Berechnungen an der
Tafel schlug, dabei brüllte “mit dem deuersten Fuunkdaxiih kome ich zu deinen
Eltern gefaahreen, Juungeeh,
biist duuh dumm?
Ja, ich glaube auch, dass ich
dumm sein muss, denn ich habe ja die Bruchrechnung und die Merkregeln des KGV
und des GGT kaum verstanden.
Beim Schulfest füllt Herr Winter
Wasserstoff aus großen Flaschen in Hunderte von Luftballons.
Jahre später klatscht
und trommelt die gesamte Schule bei Winters Verabschiedung und er glaubt, dass
sie ihn so sehr liebten.
Irgendwie war er auch
liebenswert.
Anfang der 70er Jahre stelle ich
Pakete in Berlin zu.
Plötzlich, am Nollendorfplatz,
stehe ich vor einer Wohnung und klingele an der Tür.
Huch, da steht Herr Winter vor
mir.
Moment, das kann doch nicht wahr
sein!
Ich frage ihn, ob er einen
Zwillingsbruder in Fulda habe.
Er sagt:
„Ja, ich haabe
eineen Bruudeer in Fulda!“
Urkomisch für mich.
“Du Schlappschwanz!”
“Halt die Arme oben und weiter
kreisen, langsamer!” schreit Lehrer Jacobs Johannes im Sportunterricht an.
Johannes kann nicht mehr, wie wir
alle nach zehn Minuten Armkreisen.
Wir werden fertiggemacht und Herr
Jacobs grinst.
“Thoma, Müller - an die Tafel!”
“Ihr zeichnet jetzt den Rhein mit
allen Nebenflüssen, Gebirgen und Städten und Grenzen an die Tafel, zehn Minuten
Zeit!”
Ich stehe hinter der Tafel, bin
verzweifelt. Herr Jacobs hat uns weder den Rhein, noch Australien beigebracht.
Er macht nämlich kaum Erdkunde mit uns, sondern geht immer in den Physiksaal,
wo wir Physik lernen.
Ich mag Physik besonders gerne
und mich interessieren die Versuche.
Einmal hat er die große Flasche
mit dem Quecksilber verschüttet und musste das Zeug mit der Quecksilberzange
wieder aufsammeln.
Ein anderes Mal warf er scheinbar
ein Fünfmarkstück weit ausholend auf uns, ließ es aber unauffällig über die
linke Hand in der linken Hosentasche verschwinden, der
kleine Zauberkünstler.
“Als wir auf der Klassenfahrt am Edersee waren, hatte ich den Jungen streng verboten, auf
die kleine Insel zu schwimmen!”
Wir lauschen andächtig dem alten
Klassenlehrer, denn wir sind ja Untertertianer und gerade in der Pubertät.
“Einer ist doch hingeschwommen
und hat sich an den scharfen Steinen die Beine aufgeschnitten!
Dann mussten mehrere Schüler sich
die Badehosen ausziehen, damit wir ihn verbinden konnten!”
Herr Jacobs grinst uns an und wir
erröten vor Scham.
“Wenn ich meine herrlichen
Bergwanderungen auf die höchsten Gipfel der Alpen mache, dann gibt es nichts
Schöneres für mich als Totalbräunung!”
Wir staunen.
Jetzt stehe ich hier und ziehe
vorsichtig aus dem Nichts den Lauf des Rheins, zeichne einen kleinen Bodensee,
den Neckar, Heidelberg, den Main, Frankfurt, den Taunus, da bin ich ja geboren,
die Lahn, Bonn, ich zittere vor Angst, weiß nichts mehr und kann nicht mehr
denken vor Aufregung.
“Was, das ist alles? Nichts
gelernt! Ihr habt ja keine Ahnung! Hinsetzen!
Ihr kriegt beide eine Fünf auf
dem Zeugnis!”
Auf der Fahrt mit Herrn Brockhausen nach Oberwildflecken erzähle ich Vati
verzweifelt, was passierte.
Er sagt, “na warte mal, den
werden wir schon kriegen!”
Am nächsten Morgen ruft Vati
seinen Kollegen Theo Fruhmann, unseren Schulleiter,
an.
Herr Jacobs wird kurzzeitig beurlaubt
und fährt zur Winfriedschule.
Nach dem Gespräch mit Vati
behandelt er mich und alle Kinder unserer Klasse mit großer Vorsicht.
Vati hatte ihm die Hosen
ausgezogen.
Jahre später sagt er mir neben
seiner dunklen Sportumkleidekabine:
”Du musst dir jeden Tag einmal
den Atlas ansehen!”
“Na, macht mal´ Vorschläge, was
unsere Klasse für einen Stand auf dem Schulfest aufstellt!” grinst Jacobs uns
über sein Pult an.
Ich melde mich auch: “Wir könnten
einen Basketballständer aus dem Sportgebäude heraustragen und auf dem Schulhof
aufstellen und bei erfolgreichem Treffen, Preise ausgeben!”
Nach vielen anderen Vorschlägen
hat Herr Jacobs eine Idee und entscheidet auch gleich, dass es so gemacht wird.
Er spricht von einem
Basketballständer aus seinem Sportbereich.
Als er fertig ist melde ich mich.
“Na, Thoma, was willst du denn
noch?”
“Herr Jacobs, das war meine Idee
gewesen!”
“Was, du spinnst wohl Thoma!
Ich habe die Idee doch eben erst
geäußert!”
Ich bin still.
Dr. Theo Fruhmann
erhielt die Schulleiterstelle, obwohl mein Vater sich auch beworben hatte.
Es stellte sich heraus, dass die
“Mischehe” mit Mutti daran schuld war.
Vati beschwerte sich in Wiesbaden
beim Ministerium und ihm wurde sofort die nächste freiwerdende Stelle in Fulda
versprochen.
“Fulda wäre eine wundervolle
Stadt - wenn es die Fuldaer nicht gäbe!” waren seine Worte.
“Der ist doch nur Sohn eines
Bauern!”
“Ich war auch ´nur´ Sohn eines
Schneiders und Briefträgers und will so etwas an meiner Schule nie wieder von
ihnen hören, Herr Kollege!”
Vati setzte sich immer gradlinig
für die Gerechtigkeit ein.
Die Gruppe der Kinder ist bunt
gewürfelt, aber sie leben alle hier in Oberwildflecken.
Endlich bin ich wieder bei Renate
und Peter zu Besuch. Es ist immer schön und interessant hier.
Ich genieße die
Familienatmosphäre und das viele Spielen und Lachen mit ihnen und natürlich
auch das Abenteuer der wilden Gegend um den Kreuzberg.
Oben steht das alte Kloster mit
den Bernhardinern, dem kleinen chinesischen Laden und dem guten Klosterbier,
das ich erst später trinken werde.
Eine kleine Holzschachtel hat mir
Mutti gekauft, damals in Fehmarn, in Meeschendorf an
einer kleinen Bude.
Wenn man etwas hineinlegte, die
kleine Schublade hineinschob und dann wieder herauszog, war es verschwunden.
Der Trick war ein kleiner
Holzschieber am hinteren Ende und ein doppelter Boden.
Alles aus China. Die Schachtel
war sehr teuer aber Mutti kaufte sie mir.
Wir gehen in Richtung Kreuzberg
und ich freue mich mit meinem Freund und den anderen Jungen zusammen zu sein.
Ich bin stärker und habe doch
etwas Angst.
An einer Betongrube weit
außerhalb des Dorfes fehlen die Metalldeckel und viele Frösche wohnen hier.
In der Grube schwimmen viele
dicke Frösche auf dem Rücken.
Sie sehen eklig aus.
Ich frage und er sagt mir wer es
war.
Mit einem Strohhalm durch den
After aufgeblasen von dem Jungen, den ich nicht mag.
Wir sind beide traurig.
Weiter zu unserem Baum.
Ich beginne hinaufzuklettern, bin
der Mutigste von allen anderen und klettere bis in die höchste Spitze des Baumes.
Es ist ein wundervoller Kletterbaum, weil die Äste nur geringen Abstand
voneinander haben und es der höchste Baum in der ganzen Gegend ist.
Ich werfe die kleinen Holzfrüchte
herunter auf die anderen Kinder und wir bleiben lange im Baum sitzen.
Manchmal gehe ich alleine
stundenlang in den dunklen Wald und suche viele Hasenpilze.
“Thoma, du musst dich besser um
die Tierchen kümmern!”
Herr Jost, mein Biologielehrer,
der stundenlang seine farbigen Zeichnungen an die Tafel malt, die wir dann
abzeichnen müssen, spricht mich in der Pause an.
Ich habe meine
Stabheuschreckenzucht, die mir mein Vetter Michi schenkte, der Schule vermacht.
Jetzt muss ich mich Jahre um die
Ernährung der “Tierchen” kümmern.
Es ist erstaunlich, wenn sie sich
an dem Finger festkrallen oder wenn sie auf der Hand auf ihren acht Beinen hin
und her tanzen.
Michi fasziniert mich in seiner
Taubheit.
Ich spreche gerne mit ihm und er
kann gut von meinen Lippen lesen.
Es macht mir Spaß, in Gegenwart
anderer Menschen mit ihm zu kommunizieren, indem ich meine Lippen bewege ohne
ein Wort dabei zu sprechen.
Michi denkt sehr an sich. Ich
besuche ihn in dem Institut der Tierärztlichen Hochschule Hannover mehrmals und
er zeigt mir die dicken vollgesaugten Zecken, die schwarz und fett in ihren Reagenzröhren
verdauen, monatelang.
Vorher wurden sie den Schafen
hinter den Ohren angesetzt und dann abgepinselt.
“Willst du mal sehen, wie Sperma
aussieht?
Natürlich! Gerne!”
Ich bin neugierig.
Michi gibt mir ein kleines
Glasschälchen und führt mich in einen Nebenraum, wo ich es fülle.
Dann sehen wir uns das Gewimmel
unter dem Mikroskop an.
Es ist sehr lebendig.
Ich bin lebendig.
Die Schwänzchen wedeln langsamer
und dann kommen die kleinen Tierchen zum Stillstand.
Tod.
Michi färbt sie noch ein.
Wir sind seit Jahren bis heute
befreundet.
Ich helfe ihm beim Verkauf der
Bilder seines Vaters.
Schreibe einen Artikel in der Wikipedia und mache eine Webseite für ihn.
Der Maler Ernst Wolfhagen
Endlich sind wieder Sommerferien.
Mit dem Bus der Überlandwerke
fahre ich mit Mutti und Vati nach Thiersee in den
Alpen.
Ein kleiner runder hübscher See,
den man in einem kleinen Spaziergang gemütlich umrunden kann.
Am nächsten Morgen kommt ein
Telegramm aus Hannover.
Opa ist tot.
Mutti weint und es wird
beschlossen, dass sie alleine zur Beerdigung fahren wird.
Sie badet noch am Morgen mit mir
in dem kleinen Strandbad.
Mit Vati bleibe ich zurück.
Es ist auch schön, mit ihm
alleine zu sein.
Wir haben jetzt viele
Essensgutscheine, die wir alle aufbrauchen müssen und ich bekomme oft Schnitzel
und manchmal eine Schweinshaxe.
2024 bin ich mit Ursel einen Tag
lang am Thiersee auf unserer Rückreise aus Italien.
Johannes Ressel muss während der
Stunde rauskommen.
Er wird aus dem Unterricht geholt
und ich sehe ihn viele Tage nicht mehr.
Dann erfahre ich zuhause, dass
sein Vater auf dem Weg nachhause nach seiner Nachtschicht in der großen Fabrik
Mehler, in der auch Zelte und Luftmatratzen hergestellt werden, beim Überqueren
der Straße, die von Bachrain am Bachmüller Habersack
vorbei nach Fulda hineinführt, von einem Auto überfahren wurde.
Er geht jeden Tag den Weg.
Es war genau die Stelle vor dem
Friedhofseingang des neuen Friedhofs, der langsam die Bachwiese begräbt.
Sein Grab ist dort, wo ich die
Hasen im hohen Gras aufscheuchte.
Der Körper meiner Mutter lag auch
hier.
Alle Gräber sind schon lange
aufgelöst.
Herr Schlitt
ist vom Zirkus begeistert und wir bauen aus Pappe große Schiffe in seinem
Unterricht.
Hinter seinem linken Ohr hat er
ein großes Loch, was dunkel in seinen Kopf hineinzugehen scheint.
Heute erzählt er uns nicht von
Bären und Clowns, sondern vom Mutzetin.
Der Mutzetin
singt mehrmals täglich vom Minarett und ruft die Gläubigen zum Gebet.
Vati lacht während des
Mittagessens und trägt mir auf, Herrn Schlitt
anzusprechen und ihm zu sagen, daß es Muezzin heißt.
Ich tue es in der folgenden
Kunststunde.
Herr Schlitt
ist sehr verunsichert.
Bei seinem Lehreranwärter mache
ich eine Töpfer Arbeitsgemeinschaft.
Wir rollen den Ton und ich baue
aus den Schlangen einen großen Krug.
Dann machen wir viele Flöten.
Der Luftstrahl muss von der Zunge
gespalten werden, um den Ton zu erzeugen.
Eugen Klug spricht mit starkem
Petersberger Dialekt.
Ein richtiger Fuldaer und
ungerecht dazu.
Er mag mich irgendwie nicht.
Wir machen Versuche zur Optik und
er fragt uns, ob wir in der Natur Phänomene kennen, die mit Lichtbrechung zu
tun haben.
Ich melde mich und beschreibe
Luftflimmern über einer erhitzten Straße und den Regenbogen.
Er tut so, als ob ich mich nicht
geäußert habe und lobt später einen anderen Schüler, der vom Regenbogen
spricht.
Bei den Lichtversuchen wird der
Physikübungssaal völlig verdunkelt.
Irgendwann habe ich Lust, dem
langweiligen Unterricht zu entfliehen.
Ich bin voller Lust. Lust auf
Leben, Abenteuer und Körpernähe.
So wie die vielen Jahre seit
meinem neunten Lebensjahr damals in Hannover in Matthis
kleinem Zimmer unter dem Dach, wo es das erste Mal geschah und ich von dem
Gefühl und dem Geruch überrascht war.
Ich sehe Vati vor mir sitzen.
Auf seinen Knien steht das
Aquarium mit den Fischen.
Nur sehr wenig Wasser ist im
Tank.
Die Eisenbahn schaukelt leise.
“Fulda, Fulda, hier ist Fulda!”
plärrt der Lautsprecher und die Bremsen quietschen.
Die dicke fette Dampflokomotive.
Zum ersten Mal fahren wir mit
einem Taxi.
Die Fische kommen mit.
Die Oberglogauerstraße
ist noch nicht mit Teer bedeckt, aber die Seitensteine stehen schon.
Durch die Toreinfahrt unter dem
Haus hindurch und dann nach rechts um die Ecke.
Haus Nummer 17.
Familie Wehner wartet lächelnd
und freundlich auf ihre neuen Mieter.
Ich werde erst einmal ins Bett
gesteckt und spüre die glatte unbezogene Bettdecke
auf meinen nackten Oberschenkeln.
Wir sind angekommen.
Herrmann Vogt gibt gerne
Autogramme.
Er wurde an unsere Schule
versetzt, weil er einer Schülerin auf dem Gang etwas Lateinisches zuflüsterte
und sie dann in ihre Klassenarbeit etwas erfolgreicher beendete.
Vati hatte ihn versetzt und nun
ist er mein Klassenlehrer.
Er erzählt uns aus dem Krieg von
den Panzern, die über den Menschen in ihren Erdlöchern und Schützengräben
drehen.
Dabei macht er mit seiner
verkrüppelten Hand eine merkwürdige
Drehbewegung.
Jede Stunde kommen zwei Schüler
mit der Hausaufgabe an die Tafel.
Sie müssen ein Stück aus dem Buch
übersetzen.
Bald haben wir ein System
organisiert und hinter der Tafel wartet auf jeden Kandidaten ein kleiner
Zettel.
Bei der täglichen Vokabelabfrage
signalisieren einzelne Schüler mit einem, zwei oder drei Fingern das Geschlecht
des Wortes.
Vogt klickt mit seinem kleinen
Bleistift an den Fingernagel und wartet ungeduldig auf die Antworten.
Wir machen weite und schöne
Wanderungen durch die Rhön und er gibt der gesamten
Klasse auf dem Kreuzberg Bier aus. Ich trinke es mit Freude und Argwohn über
den ungewohnten Geschmack.
Die Wanderung in der heißen Sonne
den Hang hinunter an den Silberdisteln vorbei fällt uns anschließend schwer.
Vogt latscht in seinen dicken
Sandalen mit seinen verkrümmten Füßen ohne Probleme weiter.
Ich besuche mit dem Fahrrad und
einem Freund meinen alten Klassenkameraden Stefan Schimmer in Eichenzell.
Sein lieber Vater, der Förster
ist nun schon einige Jahre tot und wir streifen zusammen mit Stefan über die
Wiesen an dem kleinen Bach entlang.
Er war vor einiger Zeit über die
Ufer getreten und hatte die Altarme auf den Wiesen
mit Wasser gefüllt.
Einige Fische suchten sich damals
neue Plätze und wurden durch das sinkende Wasser in den Altarmen
des Baches gefangen.
Wir suchen sie.
An einer Stelle entdecken wir
drei Eschen, schöne schlanke Fische und die Jagd beginnt.
Stefan versucht sie mit der Hand
zu fangen, aber sie verstecken sich immer wieder unter den herabhängenden
Grassoden und Büschen.
Wir jagen Stunden und fiebern am
kommenden Tag schon in der Schule der Fischjagd entgegen.
Am zweiten Tag fangen und töten
wir zwei Fische.
Gerhard Herbst, der dicke Bulle,
kommt am dritten Tag auch mit.
Nach vielen Stunden ist die
dritte Esche mit den glitzernden farbigen Schuppen auch gefangen und getötet.
Ich fahre den langen Weg mit
Gerhard Herbst nach Hause.
Als wir von der Bachmühle den
Berg zum Friedhof hinauf strampeln fragt er mich plötzlich:
”Na, weißt du wie die Babys
gemacht werden?”
Ich bin sprachlos, denn ich weiß
es nicht, denke an Muttis Worte, dass ein Engel das Baby ins Krankenhaus
bringt.
Dann klärt er mich hinter
vorgehaltener Hand mit einem Grinsen im Gesicht auf:
”Der Mann legt mit seinem Schwanz
ein Ei in die Frau!”
Das klingt für mich sehr
unglaubwürdig.
Aber Gerhard sagt, ich solle doch
mal meine Eltern fragen, die werden schon sagen, dass es stimme.
Am Abend frage ich sie beim
Essen.
Beide schweigen und geben mir
keine genaue Antwort.
Vati zeigt mir ein medizinisches
Buch und ich soll darin lesen.
Ich lese etwas und höre viel von
meinem Bruder und irgendwann weiß ich es dann.
Gerhard Herbst nimmt häufig
Drogen, die er bei den Amerikanern bekommt.
Er stirbt in jungen Jahren.
Stundenlang spielen wir mit den
anderen Kindern an der Durchfahrt Völkerball.
Ich bin einer der schnellsten und
stehe meist als letzter drinnen.
Es ist ein ausgelassenes Spiel
ohne Sorge und Gedanken.
Wir messen unsere Kräfte.
In Hannover gibt es einen Mann,
der schaut sich die Welt durch ein Fernrohr an.
Er schaut gerne nachts durch die
Bäume hindurch auf ein helles Fenster, das weit entfernt liegt.
Dort lebt eine Frau und glaubt
sich unbeobachtet.
Jeden Abend wartet der junge Mann
sehnsüchtig auf den wichtigen Moment, denn er kann den nackten Körper nur mit
seinen Augen berühren.
Seit vielen Jahren, nur mit
seinen Augen, vielleicht bis zum Tode.
Ich schaue auch gerne einmal
durch das Fernrohr.
Ich stehe mit Renate und Andreas,
der damals noch Peter von uns genannt wurde, vor der Kirche am Gallasiniring.
Sie gehen beide hinein und
beichten ihre Sünden.
Ich warte draußen.
Mit Mutti auf dem großen Sofa,
Vati schläft schon im Bett.
Wie immer schnarcht er laut. Ich
kann ihn durch zwei Türen hören.
Wir sehen uns einen Film an,
sitzen die Arme umeinander gelegt.
Zwei Zwillingsbrüder in einem
Wald, eine traurige Melodie, für beide kommt unerwartet früh der Tod.
Wir weinen zusammen und sind
glücklich in unserer Liebe.
Die Melodie bleibt in meinem
Herzen.
Ein Leben lang.
Flocki ist ein guter Spielkamerad.
Wir liegen auf dem Teppich in
meinem Zimmer und er balgt sich mit mir.
Er beginnt, mich abzulecken und
entdeckt meine Ohren, an denen er dann herum knabbert.
Es ist ein völlig neues Gefühl
für mich.
Mein ganzer Körper juckt und bebt
dabei vor Lust und Spaß.
Ich lass ihn knabbern, immer
solange, wie ich es gerade noch aushalte.
Heute will ich einfach nach
Marburg trampen, um meinen lieben großen Bruder dort abzuholen.
Er studiert jetzt schon seit
einiger Zeit Mathematik und Physik dort und ich habe ihn schon zweimal besucht.
Damals durfte ich mit in eine
Physikvorlesung kommen.
Der Professor hatte ein Mikrofon
mit Sender und seine Stimme wurde laut durch große Lautsprecher übertragen.
Er zeigte und erklärte
Experimente mit großen gasgefüllten Röhren und elektrischen Strömen.
Der Mathematikdozent schrieb
damals endlose Formeln und Rechnungen auf eine Tafel, die endlos über zwei
Rollen lief. Wenn seine Schriftzeichen sich von unten näherten, wischte er sie
mit einem Lappen weg und schrieb weiter. Ich verstand damals nichts davon.
Einmal durfte ich bei Andreas
übernachten und als er das Licht löschte, machte er noch Zeichen zu Jutta
hinauf, die er vor kurzer Zeit kennengelernt hatte und die in einem entfernten
Studentenzimmer wohnte.
Heute aber will ich einfach hin
trampen, um ihn abzuholen.
Die Fahrt nach Marburg über Alsfeld und Lauterbach ist nicht einfach, aber ich komme
gegen neunzehn Uhr bei Andreas an.
Wir haben plötzlich beide Lust
auf etwas Verrücktes und beschließen, jetzt noch nach Fulda zurück zu trampen.
Wir laufen los.
Durch Marburg nach Osten aus der
Stadt heraus, kein Auto hält an.
Dann schließlich werden wir doch
einige Kilometer weit mitgenommen und laufen weiter.
Es ist wunderbar, einen großen
Bruder zu haben.
Es wird langsam dunkel und wir
sind schon viele Kilometer gelaufen.
Weniger Autos fahren vorbei und
wir gehen langsam durch die Dunkelheit.
Viele Stunden lang,
das Leben ist schön und voller Abenteuer.
Wir wollen einfach bis nach Fulda
weiterlaufen. Manchmal hält doch ein Wagen und nimmt uns ein kurzes Stück mit,
aber dann laufen wir alleine weiter.
Es ist schon Nacht und wir sind
beide sehr müde.
Andreas schlägt vor, dass wir uns
einen Heuhaufen suchen, wo wir schlafen können.
Wir entdecken einen riesigen
Heuhaufen in der Dunkelheit auf einem Feld und versuchen auf ihn
hinaufzuklettern.
Er besteht aus Mist und Dung und
wir gehen schnell zur sicheren Straße zurück, lachen über das Erlebnis.
Weiter geht es bis die erste
Dämmerung kommt.
Plötzlich entdecken wir auf der
Straße Blut.
Einige Schritte zurück sehe ich
im Graben einen Hasen liegen und wir untersuchen ihn.
Er schreit mit heller schriller
Stimme, die ich noch nie gehört habe.
Wir sind beide verzweifelt,
wollen helfen und halten panisch das nächste Auto mit wilden Armbewegungen an.
Ein Mann sagt, dass er uns helfen
will, als wir zurückgehen, um den Hasen zu holen, fährt er weg.
Wir sind voller Wut.
Ein junger Mann hält an und fährt
uns mit dem blutenden Hasen zum Tierarzt Dr. Raabe in Fulda, der trotzt der
frühen Morgenstunde öffnet.
Der Hinterlauf ist gebrochen und
er schläfert das Tier ein.
Die Augen werden glasig und sind
dann ruhig.
Er bietet uns an, sich um den
Körper zu kümmern und wir verlassen die Praxis, Andreas will dem Arzt noch Geld
geben, was dieser nicht nimmt.
Wir gehen nach Hause.
Kleiner Hase.
Plötzlich lacht Mutti herzhaft
auf, so wie sie es oft tut, setzt sich
auf den Küchenboden und macht uns ein Spagat vor.
Dann zeigt sie uns einen
Handstand gegen den Küchenschrank und wir haben Angst, dass sie sich verletzen
könnte.
Aber alles ist gutgegangen.
Oft habe ich Angst um Mutti und
Vati, sitze auf der Toilette und weine vor Angst, dass sie früh sterben
könnten, dass sie bald tot sind, aber das ist ja alles nur Unsinn, nur meine
Lebensangst.
Ist ja alles nur Einbildung.
Ich muss mich mehr
zusammennehmen.
Renate hat schon nach drei Jahren
ihr Lehrerstudium in Weilburg beendet und eine Referendarstelle
in Dietershausen in der Rhön in der kleinen
Dorfschule erhalten.
Sie holt mich und Johannes mit
der Isetta von der Schule ab und wir fahren zusammen zu der Schule.
Sie zeigt uns stolz das Schulhaus
und dann geht es zurück nach Fulda.
Sie hat einen hübschen Rock an
und strahlt vor Glück.
Es ist spannend mit ihr im Auto
zu fahren, in der kleinen Isetta, ein Abenteuer.
Renate bricht bald die Ausbildung
ab.
Peter, Annette, Bettina sind bald
da.
Ich mag Renate gern und Peter
auch und die beiden kleinen Mädchen auch.
Immer, wenn ich an der Kirche
vorbeigehe muss ich einen Knicks machen, hat der Pfarrer Kretschmar uns gesagt,
und wenn man einem Pfarrer begegnet, dann muss man seine Mütze abnehmen.
Eine Zeitlang mache ich das auch.
Das ist die Pfeife von Andreas.
Ich stopfe sie mit Tabak. Mal ausprobieren, so wie mein großer Bruder das immer
macht. Sieht toll aus, wenn er so sein Pfeifchen stopft.
Feuer, feste dran ziehen, es
brennt auf der Zunge und im Mund. Ich sauge weiter
kräftig und die Pfeife wird ganz heiß in meinen Händen.
Plötzlich macht es “Klick” und im
Pfeifenkopf ist ein Sprung.
Schreck lass nach! Was wird mein
großer Bruder sagen?
Er merkt nichts.
Einmal stellt er 2 Töpfe mit
Wasser auf den Teppichboden in unserem Zimmer.
Von dem kleinen blauen Märklin-Eisenbahntrafo legt er 2 Drähte in die Töpfe.
Uli, halte mal deine Hände in das
Wasser.
Es kribbelt, wird immer stärker,
je tiefer man die Hände in das Wasser taucht.
Dann nimmt er eine Gabel und
nähert sie den Töpfen.
Plötzlich bekomme ich einen
starken Stromschlag.
In Wirklichkeit hat er heimlich mit dem Knie auf den Umschaltknopf des Trafos gedrückt.
Ja, ja, mein lieber Bruder hat
schon seinen Spass mit dem kleinen Uli.
Wieder in Oberwildflecken.
Peter kommt gegen Abend vom
Dienst nach Hause. Er erzählt von einem riesigen Wiesenstück, dass mit Parasolpilzen
bedeckt war. Ich darf mitkommen, und sofort fahren wir mit dem kleinen BMW los.
Die Tür klappt nach vorne hoch.
Mit Peter zu fahren, bedeutet
immer ein Abenteuer. Er benutzt den PKW wie seine Jeeps im Dienst.
Über kleine Feldwege rasen wir
unterhalb des Kreuzberges dahin. Plötzlich schlägt der Wagen mit dem Auspuff
gegen den Boden, denn die Fahrrinnen sind tief ausgefahren. Peter fährt weiter.
Dann begegnen uns sieben Förster
mit dicken Rucksäcken.
Als wir endlich auf der Wiese
sind, sehen wir, dass alle Pilze schon abgeerntet wurden. Die Förster waren
schneller. Nur einige faulige Parasolpilze stehen noch.
Es geht zurück. Peter will jetzt
einen besseren Feldweg benutzen und fährt erst einmal die Wiese hinunter. Auf
dem Weg begegnet uns ein Traktor. Kurzentschlossen reißt Peter das Steuer nach
rechts und saust mit dem kleinen Auto den Hügel hinauf und hinter dem Traktor
wieder runter. Das macht Spaß.
Vor uns ein kleiner Bach. Mit
“hui” geht es in die flache Furt hinein und .... der
Motor heult auf, denn wir stecken mitten im Bachbett fest.
Mach´ hoch die Tür und auf die
Steine im Wasser treten, damit wir nicht nass werden. Peter schaut sich mit mir
die Sache an. Vor dem rechten Vorderreifen und hinter den beiden
nebeneinanderliegenden Hinterreifen sitzen zwei dicke Steine wie Keile fest.
Ich muss an das Steuer und Peter
versucht zu schieben. Es macht Spaß zum ersten Mal hinter einem Steuer zu
sitzen und das Gaspedal zu treten.
Der Motor heult, aber wir bewegen
uns nicht.
Dann sucht Peter Hölzer, die wir
vor und unter den Reifen stecken.
Wir schaffen es nicht, und nach
einer knappen Stunde geben wir auf.
Es geht zu Fuß nach Hause und wir
holen Renate und Andreas, der auch zu Besuch ist.
Ein langer Spaziergang zurück zu
unserem Bach. Beide ziehen sich die Schuhe und Strümpfe aus und schieben mit
vereinter Kraft den Wagen raus. Ihre Beine sind voll Schlamm gespritzt.
Wir drei müssen nach Hause
laufen, weil Peter befürchtet, dass der Wagen eine Macke weghat.
Es ist ein schöner ruhiger
Abendspaziergang.
Alles ist so einfach.
Ich nehme meine kleine Tasche und
gehe los.
Die kleine Bachwiese hinunter,
durch den Kastanienhain der Bachmühle, an meiner Maikäferlaterne vorbei, über
die Straße von Bachrain, vor dem großen Tunnel, durch den Vati und ich immer in die
Kirche nach Bachrain gehen, nach rechts hinauf zur
Umgehungstraße.
Das ist die Stelle, wo es losgeht
nach Hannover.
Ich stecke meinen Finger raus und
irgendwann hält ein Auto an.
Nach vielen Stunden und
Halteplätzen, die ich meistens schon kenne, nach vielen Gesprächen, langsamen
und rasenden Autobahnfahrten mit zweihundertundsechzig Stundenkilometern im BMW
komme ich endlich in Hannover an, dem Ziel meiner Träume.
Tini holt mich am Autobahnkreuz
bei der Polzeistation ab, rettet mich aus den Klauen
der beiden Polizisten, die mich viele Kilometer, die Autobahn entlang zu einem
Parkplatz schicken wollten.
Ich hatte allen Mut gesammelt und
sie um ein Telefonat gebeten.
Wir fahren lachend und glücklich
in die Brehmstraße. Ich fühle mich so alleine ohne Mutti und bin froh Tini,
Tante Anne und Oma noch zu haben.
Die Welt scheint hier noch in
Ordnung zu sein.
Ich denke an alles was hier
geschah, in diesem gemütlichen Haus in der Brehmstraße 43.
Die sausenden Züge auf der
gegenüberliegenden Straßenseite hinter den Häusern, Muttis sehnsuchtsvoller
Blick aus dem Zug, um das Haus zu erspähen. Der Aschenweg und die Knickebeeren.
Der Sonnenschein und der Maschsee.
Der Tag als ich Matthi von der Schule mit meinem kleinen Holzroller abholte
und er mich hinter seinem Fahrrad an einem Seil nach Hause zog.
Die Nacht vor Neujahr, als ich
bis Mitternacht schlief und dann im Halbschlaf die Raketen sah, die mir wie
bunte Kleider vorkamen.
Eine andere Sylvesternacht,
als ich die Wunderkerze von der Straße hoch auf Omas dickes Federbett warf.
Dann die Sylvesternacht,
an der Andreas von der Bundeswehr eine Art Handgranate mitbrachte, sie zündete
und über die Häuser warf. Sie explodierte nicht und er suchte sie mit Matthi und fand sie auch wieder in der Dunkelheit. Die
beiden öffneten die Granate, schütteten das Schwarzpulver auf eine Zeitung und
es gab eine riesige Stickflamme.
Wir mochten Matthi
sehr gerne. Er war immer voller spannender Ideen und baute die Nautilus mit
einem kleinen Elektromotor nach.
Einmal trauten er und Andreas
sich sogar über die Mauer eines Freikörperkultur-Clubs zu klettern. Ein
Bademeister - nur mit Mütze bekleidet - jagte sie wieder hinaus.
Hier war die Welt ganz anders als
in Fulda. Alles war freier, das Geld wurde mit vollen Händen ausgegeben.
Tini badete mich gerne und ich
mochte sie sehr, besonders ihren Körper, den sie sehr freizügig zeigte.
Manchmal waren wir zusammen in
der Wanne.
Baden, im Bett kuscheln, auf dem
Sofa mit Tante Anne schmusen, es gab viel Wärme und Liebe hier, viele Gefühle.
Ja, hier war es zum ersten Mal
passiert.
Ich wunderte mich über die
Flüssigkeit, die ich vorher noch nie bemerkt hatte.
Dann kam irgendwann das besondere
Gefühl dazu und ich dachte damals, ein ganz außergewöhnlicher Junge zu sein.
Einmal hatte Matthi
die Idee, ein großes Loch im Garten zu graben, eine Art Höhle.
Wir gruben Stunden über Stunden
bis in die tiefe Nacht und hoben ein großes Loch aus. Zweimal ein Meter,
vielleicht zwei Meter tief.
Damals wusste ich noch nicht, wie
die Löcher auf den Friedhöfen aussahen, hatte noch keines gesehen.
Matthi war oft sehr trübsinnig und
traurig, deshalb mochte ich ihn besonders.
Sein Gefühl und seine weltfremde
Versponnenheit zogen mich immer an.
Der harten Realität eine kleine
Traumwelt entgegenzusetzen, die Kunst des Glücklichseins.
Onkel Fritz schlief immer alleine
in seinem kleinen Zimmer. Er stichelte und machte meist bissige Bemerkungen,
Tante Anne hielt die Kinder fern und war unglücklich.
Es war wie in so vielen Familien.
Ich muss wieder beichten.
Zaghaft erzähle ich nach den
üblichen unwichtigen Sünden dem Pfarrer meine wichtige Sünde, die mich
bedrückt.
Pfarrer Kretschmar sagt mit
Strenge, dass ich mich jetzt langsam in den Griff bekommen muss und es mir
nicht mehr passieren darf.
Ich tue meine Buße und fühle mich
etwas besser.
Aber es macht doch so viel Spaß
und fühlt sich so gut an.
Wir gehen zusammen zu dem kleinen
Bach bei Weyhers, an dem Peter Brauns Vater damals
die Wildente schoss.
Wir finden eine Stelle, an der
das Wasser recht tief ist, sodass wir dort baden können.
Dann liegen wir in unseren
Badehosen auf der Decke im Sonnenschein und reden miteinander.
Später spielen wir zusammen
barfuß Federball in der Turnhalle der Dorfschule von Weyhers.
Es ist schön bei Familie Braun.
Besonders gern mag ich die ältere
Schwester Birgit.
Ich muss wieder beichten, gehe
seit einiger Zeit in den riesigen Fuldaer Dom.
Hier kennen mich die Pfarrer
nicht, aber es war jedes Mal auch recht schwierig.
Heute hört mir ein etwas jüngerer
Pfarrer zu und sagt, als ich zu der wichtigsten Sünde komme:
”Was, das ist doch überhaupt
nichts Schlimmes, wo du dir irgendwelche Gewissensbisse machen musst, das ist
doch ganz natürlich, das machen doch alle Menschen!”
Ich werde nie wieder beichten.
1970 gehe ich in das Amtsgericht
Charlottenburg in der Kantstraße.
Gleich rechts hinter dem Eingang
ein kleiner Raum.
Die freundliche Dame tippt meinen
Austritt aus der katholischen Kirch in eine mechanische Schreibmaschine.
Rüdiger König ist mein bester
Freund geworden.
Wir haben unsere gemeinsame Liebe
für die Beatles entdeckt.
Onkel Hans, der Bruder meines
Vaters und der Vater von Rita und Christine, verrät mir,
dass man zwei Lautsprecher einfach mit einem Kabel verbinden kann und ohne
Verstärker die Stimme durch den Elektromagneten im Lautsprecher in elektrischen
Strom verwandelt wird.
Das erste Kabel finden wir im
Wald bei Oberrode, wo die Amerikaner oft ihre Zelte
aufschlagen und alte Telefonleitungen einfach liegenlassen.
Wir rollen es zusammen und ziehen
es an der Wand von Herrn Wehners Haus hoch, an den anderen Dächern der Straße
vorbei bis zum Giebelfenster von Rüdigers Zimmer.
Es ist toll, nach dem Knacken mit
der Batterie plötzlich Rüdigers Stimme aus dem alten stoffbespannten
Lautsprecher von Mutti kommen zu hören. Sie ist leise, aber gut verständlich.
Dann spielt er mir Lieder von
seinem Tonband vor und wir sind glücklich.
Eines Tages ist die Leitung
unterbrochen.
Herr Cmelarcz
hat einen Stein mit einem Seil rüber geworfen, sie auf sein Dach gezogen und
gekappt.
Ich gehe zu Herrn Cmelarcz, der dick an seinem Küchentisch sitzt und hastig
in einer Zeitung blättert, als ich ihn frage, warum er das Kabel
durchgeschnitten hat.
Er sagt, dass es ihm egal ist,
wenn die Leitung um sein Grundstück herumgeht, aber er nicht erlaubt, dass sie
über das Grundstück läuft, auch nicht durch die Luft.
Wir haben an der Eisenbahn ein
langes neues dickes Kabel gefunden und vergraben es zweihundert Meter weit in
der Erde um das Grundstück herum.
Aus meinem neuen Zimmer unter dem
Dach, an der Regenrinne die Wand hinunter, durch den Garten von Herrn Wehner,
der nichts dagegen einzuwenden hat, die Mauer runter, dann durch die Büsche
unterhalb der Mauer und schließlich durch Königs Garten und die Wand hinauf bis
in Rüdigers Zimmer unter dem Dach.
Wir legen das Kabel diesmal sogar
doppelt und können dann mit zwei Lautsprechern Stereoübertragungen machen.
Es ist toll.
Ich habe mir in der Schreinerei
von Onkel Fritz in Alferde bei Hannover mit Hilfe des
aus Göttingen stammenden Herrn Rinne, des Liebhabers von Tante Anne, einen
großen Holzkasten als Schaltpult gebaut und brumme jetzt Rüdiger mit einem
Wechselstromtransformator an.
Dann baue ich einen kleinen
UKW-Sender mit einem Hochfrequenztransistor, von dem Rüdiger gleich begeistert
ist, und wir senden jeden Tag auf UKW 100 Megahertz Popmusik - Radio Onehundred.
Es gibt sogar Hörerpost, aber es
ist gefährlich.
Ein wundervoller Urlaub mit
Rüdiger und seinen Eltern am Neuenburger See in der Schweiz.
Rüdiger und ich schlafen in einem
Zimmer des kleinen Holzhauses.
Eines Nachts traue ich mich,
meine Hand auf Rüdigers Bauch zu legen.
Wir baden in dem warmen See. Im
Boden stecken große Muscheln.
Ich befreunde mich mit einem
holländischen Jungen und wir singen zusammen auf dem Steg am See das Lied
“Death of a Clown” von Manfred Man.
Rüdiger ist komisch zu mir,
meidet mich.
Vielleicht, weil ich ihm die
Aufmerksamkeit seiner Eltern etwas wegnehme.
Als wir wieder in Fulda sind, ist
es wieder vorbei.
Wir sitzen im Keller und machen
chemische Experimente, braten in den Reagenzgläsern nach Fisch riechende
Tabletten aus der Apotheke der Eltern.
Die Kellertür haben wir mit einem
elektrischen Klingelmechanismus gesichert.
Trotzdem ertappt uns Herr König
bei einem Experiment.
Aber Georg, Schorsch
ausgesprochen, ist ein lieber Kerl. Er liebt Elvis Presley und Freddy Quinn.
Im Rosenbad
liege ich alleine mit Gabi Ressel, Johannes´ Schwester, auf der Wiese.
Wir sind das erste Mal alleine.
Plötzlich fängt sie an, meine
Füße zu streicheln und mich an den Fußsohlen zu kitzeln.
Es ist ein wunderbares Gefühl.
So etwas habe ich mir schon oft
erträumt und kann es jetzt kaum glauben.
Leider ist alles wieder schnell
vorbei.
Marion Scott aus Toronto kommt an
die Schule meines Vaters als Englischaustauschlehrerin.
Ich nehme sie in unserer Wohnung
in Empfang und gehe zu Familie Cmelarcz, finde dort
ein Zimmer für sie.
Ich mag Marion gerne und wir
reden viel miteinander. Sie ist wie eine große Schwester zu mir und doch auch
wie eine Freundin.
Es ist schön, sie zu besuchen und
den Duft von Kanada und der fremden Welt mitzuatmen.
Sie spricht gut Deutsch mit diesem
leichten fremdartigen Akzent, und einmal liegt sie sogar im Bikini hinten in
dem kleinen Garten und wir reden miteinander und essen Kekse und mögen uns.
Das prüde Fulda und Marion im
Bikini - es tut mir gut mit ihr befreundet zu sein.
An einem Abend holt uns Stefan
Schimmer mit seinem Motorrad ab und wir angeln in der Nacht Aale am Fuldaer
Weiher beim Rosenbad.
Ein besonderes Erlebnis.
Zu Weihnachten schenkt mir Marion
einen 8-Ball. Man kann ihn befragen und er verrät dir die Zukunft.
Viele Jahre später landen Tine
und ich in Toronto und sie holt uns direkt am Flughafen ab.
Wir fahren in das kleine Holzhaus
am See und wohnen dort mir Marion und George Zeltins
und Lorne und einer Freundin einige Wochen.
Wasserski, Kanu fahren,
Schwimmen, ein Traum.
Als ein Waschbär am Abend
plötzlich in die Küche kommt, schreit Marion: „It’s vicious!“
George kommt nicht mehr mit den Wasserskien auf die Beine, er hat MS.
Ist der Sohn deutscher
Auswanderer, wir mögen uns.
Marion heiratet ihn.
Seine Schüler lieben ihn und
bauen am Ende Rampen, damit er mit dem Rollstuhl in die Klassen kommt.
Das Ende ist sehr traurig.
Wir besuchen Lorne
später in Quebec.
Er unterrichtet dort an einer
Schule, tanzt, spielt Dudelsack und stirbt später an AIDS.
Auch die Freundin stirbt, ich
habe ihren Namen vergessen.
Vor einigen Jahren sehe ich mit
Ursel Marion wieder.
Ihr Freund Peter Seidler
begleitet sie auf einer Europareise und wir treffen uns am Brandenburger Tor.
Gehen Essen zusammen, verstehen
uns immer noch gut.
Heute, am 13. Februar 2025
schreibt mir Peter eine Mail:
Hi Uli
I am very sorry to tell you that Marion passed away on the 3rd Feb 2025 one day after her 80th Birthday.
I went to the funeral today which was very moving.
I met her two brothers ,her nieces and other common friends.She had acute dementia in her last year
I hope you and Ursel are well.
Love and best wishes
Peter
Der Tod ist allgegenwärtig.
Es klingelt an der Wohnungstür.
Ich bin alleine zuhause und etwas krank.
Oh, es ist Pfarrer Kretschmar,
was für eine Überraschung.
“Guten Tag, Ulrich, na wie geht
es dir? Nanu, woher kennt er denn meinen Namen, nach all den Jahren.
“Und was macht deine große
Schwester Renate, und wie geht es ihren beiden Kindern, Annette und Bettina und
deinem Bruder Andreas?”
Das darf doch nicht wahr sein,
denke ich.
All die Namen kann er doch
überhaupt nicht kennen. Dann kommt mir der Gedanke, dass er sich auf diesen
Besuch vorbereitet haben muss.
Er will mit meinem Vater sprechen,
der nicht zuhause ist und verabschiedet sich dann gleich wieder.
Ja, die kluge katholische Kirche.
Gott weiß Bescheid.
In dem kleinen Fiat 600 fahren
Andreas, Jutta und ich über Sickels in den Vogelsberg.
Wir sind alle drei ausgelassen,
Andreas und Jutta frei und verliebt.
Ich bewundere ihn, er ist schon
so groß, hat die Bundeswehr hinter sich und war ein Jahr lang durch Amerika
gereist, hat sich viele seiner Träume verwirklicht und eine tolle Freundin auch
noch.
Wie schön war der kleine
Spaziergang vom Haus ihrer merkwürdigen Eltern durch Hanau neben der tollen
jüngeren Schwester Petra gewesen, die mir gleich sehr gut gefiel, weil sie so
freundlich mit mir redete und mich dauernd anlachte.
Ich denke an den interessanten
Zaubertrick, den der alte Herr Scheibe uns mal vorführte.
Er nahm Zigarettenpapier, rieb es
mit etwas Spucke in der Hand, rollte es dann zu einem Kügelchen zusammen und
legte es in meine Hand.
Das Papierkügelchen wurde sehr
heiß und die Aluminiumoberfläche verwandelte sich in eine weiße Schicht.
Es dauerte über ein Jahr
Nachforschungen, bis ich das chemische Geheimnis gelöst hatte und es ihm
erzählen konnte, was er sehr bewunderte.
Die Lösung hieß Quecksilberclorid - ein äußerst giftiges Oxidationsmittel.
In Oberrode
fährt Andreas den Berg hinauf in den Wald, wo wie damals den lieben Großvater
von Rüdiger König beim Pilze suchen trafen.
Durch die weit
auseinanderstehenden hohen Bäume geht es tiefer auf einem kleinen Weg in den
Wald hinein.
Dann hält Andreas an und fragt
mich, ob ich nicht Lust habe, alleine ein Stück mit dem Auto weiterzufahren.
Ich freue mich, habe etwas Angst
aber große Lust, es dennoch zu tun.
Die beiden steigen aus und
schmusen im Wald.
Ich weiß schon, wo die Gänge
liegen, lasse vorsichtig die Kupplung kommen und los geht es Meter für Meter
und dann weiter durch den Wald im Sonnenschein, ich kann es nicht glauben, dass
ich hier alleine durch den Wald in einem Auto fahre.
Dann durch einen hochstehenden
Schlagbaum hindurch. Längst fahre ich im zweiten Gang mit dreißig bis vierzig
Stundenkilometern durch den Wald.
Jetzt eine große Kurve, links
hinunter geht der Waldweg, wird enger, dann nach einigen hundert Metern nach
rechts, es ist etwas sumpfig hier, ach du meine Güte, der Förster und sein Hund
und ein Gewehr über der Schulter, das darf doch nicht wahr sein.
Todesmutig fahre ich auf ihn zu,
bremse ab und halte direkt neben ihm an.
Ich drehe das Fenster herunter
und sage: “ Entschuldigung, ich habe mich verfahren, wie komme ich zurück nach Oberrode?”
Ich glaube, auf seinem Gesicht
ein skeptisches Grinsen erkennen zu können als er mir antwortet:
”Na, setz mal zurück in den
kleinen Seitenweg rein und dann die ganze Strecke wieder rückwärts.
Ich zittere und bedanke mich bei
ihm, lege mit Mühe den Rückwärtsgang zum ersten Mal in meinem Leben ein und
denke, jetzt bloß nicht abwürgen.
Er beobachtet mich genau, und ich
schaffe es mit Mühe und klopfendem Herzen rückwärts zu fahren und dann ab geht
die Post Richtung Andreas und Jutta.
Noch mal gutgegangen.
Es klappt heute tatsächlich.
Wie verabredet, kommt der wilde
Stefan Schimmer mit seinem Kleinkraftrad angefahren und fährt erst Marion Scott
und dann mich mit einem Höllentempo durch die Stadt an die Fulda zu seinem
Angelplatz.
Er hat immer dieses lustige
Grinsen auf dem Gesicht und strahlt eine große Stärke und Sicherheit aus,
obwohl sein lieber Vater, der Förster, doch nun schon so lange tot ist.
Wir sitzen in der Dunkelheit am
Fluss, trinken ein wenig und warten auf die Aale.
Dann plötzlich beißt der erste
Aal und Stefan zieht ihn an Land.
Er tötet ihn gekonnt und wischt
sich den Schleim von den Armen.
Marion ist gebannt, genau wie
ich.
Stefan fängt noch mehrere Tiere
und fährt uns dann wieder nach Hause.
Alles geschieht neben der Stelle
bei den Aueweihern, auf denen Ilona ihre Pirouetten drehte und ich das erste
Mal auf Schlittschuhen stand.
Die einfachen
Metallschlittschuhe, die man mit dem Schlüssel an die Schuhe schrauben musste.
Ich konnte nicht damit laufen.
Konnte damals kaum laufen.
Ilona Zarypow starb im Jahre 2024
in Freiburg.
Sie gründete das Zan Pollo Theater in Berlin, ging
mit 62 Jahren noch als Lehrerin in die Schule.
Mutti und Vati fahren alleine in
Urlaub.
Zum ersten Mal überhaupt in
meinem Leben.
Südlich von Konstanz am Bodensee.
Mutti strahlt vor Freude als sie
wieder zuhause ist:
“Uli, ich hab´ mich wieder in
Vati verliebt!”
Mit dem Zug fährt unsere Klasse
mit Herrn Röhrig, der immer mit einer tiefen Stimme und leichtem Vogelsbergdialekt sein rollendes “r” spricht, nach Konstanz
am Bodensee auf Klassenfahrt.
An einem Tag darf ich
ausnahmsweise zu Fuß das Quartier besuchen, in dem meine Eltern waren.
Eine sehr freundliche Frau
spricht kurz mit mir und ich gehe zur Klasse zurück.
Auch andere Klassen sind aus
Fulda von anderen Schulen mitgefahren.
Ich sehe ein Mädchen.
Sie sitzt am Nebentisch in einem
Hof und wir schauen uns mit großen Augen an.
Ich sehe sie immer wieder und
denke oft an sie.
Die ganze Fahrt ist sie immer
wieder in meinem Kopf und auf allen Wanderungen schaue ich zurück oder nach
vorne, um in ihre Augen sehen zu können.
Wir sprechen nie miteinander.
Montag
Montagnachmittag übergibt sich
Mutti plötzlich fürchterlich über dem Klobecken.
Sie sieht erbärmlich aus.
Ich halte ihren Kopf fest, stütze
ihre schöne Stirn. Sie setzt sich dann auf den Badewannenrand, fühlt sich
erschöpft.
Dort rechts über unseren Köpfen
piepsten ja damals die Vögel im Ofenrohr.
Ich helfe ihr ins Schlafzimmer
und ins Bett.
Hinter mir der dunkle Schrank mit
der Kleidung.
Ich sitze auf dem Bettrand und
halte ihre Hand, fühle nach dem Puls, der kleine Mediziner, erst fünfzehn Jahre
jung.
“Mutti, ich finde deinen Puls gar
nicht!”
Dann, ganz schwach fühle ich ihn
doch. Das Herz schlägt ruhig und fast unfühlbar.
Ich lege meinen Kopf auf ihre
Brust.
Meine Mutti, meine geliebte
Mutti.
Sie ist ruhig und erschöpft.
Dr. Naumes
kommt.
“Guten Tag, Frau Dr., na mal schaun!”, spricht der glatte Scharlatan.
Das wird schon wieder werden.
Etwas Bettruhe.
Er merkt nichts.
Er zieht mir das Hemd vorne aus
der Hose und untersucht mich auch.
Alles in Ordnung.
Donnerstag
Dr. Werner, auch ein Freund
unserer Familie, wird gerufen.
“Ich fühle ja ihren Puls
überhaupt nicht, das Herz, ich übernehme keine Verantwortung mehr, sie müssen
sofort ins Krankenhaus!” spricht er erschrocken.
Als Mutti auf der Trage den
kleinen Hügel vor dem letzten Haus in der Oberglogauerstraße
hinaufgetragen wird, weint sie verzweifelt und ihre Augen sprechen mir die
Wahrheit ins Gesicht, die ich noch nicht verstehe.
Hineingeschoben in den weißen
Wagen und Abfahrt.
Erst am Samstag besuche ich sie
mit dem Fahrrad auf dem Weg zu meinem Klassenkameraden Claus Herzig, der auf
der anderen Seite der Stadt in Sickels wohnt. Bei ihm
gibt es immer die leckeren frischen Brote mit der selbstgeschlachteten Blut-
und Leberwurst.
Ich bin seit einigen Monaten
wieder mit ihm in Kontakt, wir haben lange telefoniert.
Wir teilen unser gemeinsames
Interesse an Verrücktheiten.
Ich gehe an den großen Gebäuden
vorbei, unter den riesigen Kastanienbäumen, wo im Herbst die schwarzen Vögel
sitzen und Holunderbeerenscheiße auf die Köpfe spritzt.
Ja, sie sind wieder da, und es
platscht links und rechts von mir.
Pass´ bloß auf, dass es dich
nicht trifft.
Hier wurde ich doch auch am
Blinddarm operiert, das kleine Ringelschwänzchen.
Ich gehe durch die großen Gänge
und finde meine Mutti in einem Zimmer ganz alleine.
“Ach, mein kleiner Junge, dass Du
mich besuchen kommst, wie schön!”
Sie lacht mich an, und es geht
ihr wieder gut.
Gottseidank.
Ich bin beruhigt, habe mir
eigentlich keine großen Sorgen gemacht, kenne das Leben und liebe es.
Wir reden lange miteinander, und
es ist wie immer so schön ihre Nähe und Wärme zu spüren. Meine liebe große
Mutti.
Gefühle wie immer, das Schönste
in meinem Leben.
Gefühle der Liebe und der Wärme.
Vertrauen.
Geborgenheit und ihr großer
starker Körper, die liebe große Hand.
“Warum hast du das Röhrchen in
der Nase?” frage ich.
“Das ist Sauerstoff!” sagt sie,
“damit es mir schnell besser geht!”
Ich muss los, denn mein Freund
Claus Herzig wartet und ich freue mich auf ihn und die leckeren frischen
Leberwurstbrote.
Wir geben uns einen Kuss.
Ich gehe.
Die Krähen.
Schwarze Krähen.
Oder waren es Stare.
Ich glaube es waren doch Stare.
Ja, Stare.
Freche Stare.
Sonntag
Sonntagmorgen ganz früh, nein es
ist noch in der Nacht, kommt Vati plötzlich in mein Zimmer und weckt mich auf:
”Uli, zieh deinen Kommunionanzug
an!”
Ich bin erschrocken, Vati sieht
anders, schwächer aus, da ist so ein fremder Ton in seiner Stimme.
Ich ziehe mich schnell an, und
wir steigen in ein schwarzes Taxi, das schon vor dem Haus, jetzt um 5 Uhr
morgens auf uns wartet.
Wir fahren doch nie Taxi, denke ich.
Vatis Augen, sind sie feucht?
Leere Straßen.
Keine Vögel mehr auf den
Kastanien. Sind sie fort?
Die großen Gänge entlang.
Hinter der Tür liegt Mutti und
ich merke es sofort.
Sie atmet schnell und ihre Augen.
Ihre Augen. Ich sehe alles,
erkenne alles, weiß Bescheid.
Das ist es. Das ist das Neue, das
Unbekannte.
Ich gehe zu ihr, sie greift nach
mir, dreht mit Mühe ihren Kopf in meine Richtung, sagt mit Mühe, ruft mit Mühe
“Uli”, klammert sich an meine Hand, zieht mich zu sich herunter, sie ist es
kaum noch, Mutti.
Der keuchende Atem, so schnell
und stoßweise, der Kopf leicht im Nacken, sie kämpft.
Es geht viele Stunden und ich
stehe neben ihr.
Man will mich wegziehen, aber ich
bleibe da.
Dableiben, dableiben, bleib`
doch, es geht viele Stunden weiter, ein Sauerstoffzelt wird gebracht und über
das ganze Bett gebreitet, zwei große Metallflaschen.
Ich kann Mutti nicht mehr gut
erkennen, krieche unter das Zelt zu ihr, der merkwürdige Sauerstoffgeruch, sie
ruft immer wieder meinen Namen, mein Uli, mein kleiner Junge.
Ich weine schon lange, kann es
nicht fassen.
Dann renne ich in den Gang
hinaus, schreie, ob nicht ein Arzt kommen könne, Hilfe, Hilfe.
Niemand kommt.
Dann, nach drei langen Stunden.
Sie wird immer wilder, keucht und
keucht, wie ein Tier.
Irgendwann in der Endlosigkeit
ein Aufbäumen.
Bewegungslosigkeit.
Die Zähne, oh mein Gott.
Die Augen.
Ich renne wieder auf den Gang.
Vom dunklen Ende her kommen drei
weiße Betschwestern mit Kerzen in den Händen langsam singend auf mich zu, ich
begreife es nicht und bin voller Hass auf die Kirche und die große Lüge.
Sie mussten wohl schon gewartet
haben.
Woher wussten sie den genauen
Zeitpunkt?
Dann bäumt sie sich plötzlich auf
und es ist vorbei.
Vati weint wie er noch nie
weinte.
Fest hält er meine Hand und wir
gehen durch den sonnigen Sonntagmorgen.
Gleich, quer hinüber, die kleine
Gasse hinunter auf der linken Seite.
Vati klingelt, und ein
verschlafener Mann, barfuß in Schlappen öffnet uns ernsthaft und ruhig sein
Büro.
Vati erledigt alles.
Vati hat immer alles geregelt und
erledigt.
Vati weint.
Ich bleibe viele Wochen alleine
in meinem eigenen Zimmer unter dem Dach.
Ich liege im Bett und weine.
So viele Menschen.
Ich stehe ganz vorne.
Muss auch Erde auf den Sarg
schaufeln.
Alle sind da.
Vati, Renate, Andreas und alle
anderen, die kommen konnten, Hunderte aus Fulda.
Oma sitzt in Hannover in ihrem
großen Sessel.
Pfarrer Gottschalk, der schon
Renate und Peter traute, spricht.
Als alles vorüber ist auf dem
kleinen Hügel der ehemaligen großen Bachwiese, wo ich früher die Hasen aus dem
hohen Gras aufscheuchte, hier oben saßen sie nämlich besonders gerne, kommt ein
großer Bagger angefahren und macht mit lautem Motorengeräusch das Grab zu, die
Erde rein, alles schnell flachgewalzt, das hätte ich auch nicht gedacht.
Warum konnte er nicht noch einige
Minuten warten?
Immer, wenn ich das Grab besuche,
ritze ich ein kleines Kreuz hinten in den schwarzen Stein, immer an derselben
Stelle, das kleine weiße Kreuz von mir, auf dem schwarzen Stein.
Links oben, noch Jahre später.
Tante Anne und Frau Ressel haben
Muttis Gebiss in den Mülleimer vor der Veranda geworfen und Vati ist sehr
wütend, dass es hinter seinem Rücken geschah.
Vati findet Muttis Tagebuch mit
allen Aufzeichnungen und ist noch verzweifelter darüber, spricht mit Andreas,
der das Tagebuch ins Feuer wirft.
Die Liebe verbrennt langsam.
Wie wenig wissen wir voneinander.
Frau Raupach unterstützt ihn in
dieser Zeit, kocht und wäscht die Wäsche.
Die Zeit mit Vati alleine ist
gut.
Wir haben uns lieb, und er ist
sanft und freundlich zu mir.
Es ist wie früher, als ich noch
ganz klein war.
Wir verbringen unsere Zeit oft
zusammen und verstehen uns.
Es gibt keinen Streit mehr, er
ist verändert.
Mein alter Vati, wie lieb ich
dich doch habe.
Wenn wenigstens das so bleiben
könnte.
Aber nichts bleibt, wie es ist.
Irgendwie riecht er oft anders
nach Muttis Tod.
Und da stehen solche Flaschen im
Regal.
Es waren einmal zwei Gärtner, die
pflanzten zwei Obstbäume.
Der eine von ihnen schnitt jedes
Jahr die Äste ab und achtete gut darauf, dass der Baum in der richtigen Form
wuchs.
Der andere ließ seinen Baum
wachsen und schnitt nur die fauligen Äste heraus.
Als ihm eines Tages sogar ein
kleiner Zweig in die Nase hineinwuchs und ihn kitzelte, nahm er seinen Kopf zur
Seite und lachte.
Auch dem anderen Gärtner wuchs
einmal ein kleiner Zweig in das Ohr und er schnitt ihn sofort mit seinem großen
Messer ab.
Nach vielen Jahren trugen die
beiden Bäume Früchte.
An dem kleinen geraden Baum
wuchsen zehn herrliche, saftige und süße dicke Birnen, die aller Welt gut
schmeckten.
An dem großen Baum, der
eigenwillig seine Äste in den Himmel streckte, wuchsen fünfzig Birnen, die alle
unterschiedlich aussahen.
Sie waren dick und dünn, süß und
sauer, verschrumpelt und glatt.
Der große Baum stellte alle
anderen Bäume in seinen Schatten.
Die langen Winternächte. Ich
wohne unter dem Dach in meinem kleinen Zimmer.
Wenn es zu kalt wird, koche ich
mit dem Tauchsieder vor dem kleinen Spiegel über meinem Waschbecken Wasser.
Die drei Fenster sind von einem Eispelz bedeckt. Ich kann nicht mehr hinausschauen, ohne
sie zu öffnen.
Ich kann sie nicht mehr öffnen.
An der Wand hängen die kleinen
Fotos, von Tini, von Rita und noch mehr.
Hinter meinem Kopf die Schaltzentrale
mit dem Lautsprecher.
Rüdiger ruft mich oft an.
Die Musik hilft mir. Ich höre
immer wieder die neun Symphonien, besonders die dritte, die fünfte und dann die
siebte.
Zeit der Tränen.
Manchmal heize ich den Ölofen an.
Er will nicht angehen.
An einem Abend werfe ich einfach
ein brennendes Streichholz durch das kleine Loch im Deckel.
Eine Explosion, der Deckel fliegt
nach oben, eine Stichflamme verbrennt meinen nackten Körper bis zur Stirn
hinauf. Ich bin eine gesengte Gans.
Aber mehr ist nicht passiert.
Von Zeit zu Zeit bekomme ich
einen Stromschlag bei meinen elektronischen Basteleien.
Ja, ich lebe noch.
Wir treffen uns jeden Donnerstag
nach der Schule und ich gehe ein Stück des Weges mit ihr.
Sie ist groß gewachsen, hat lange
schwarze Haare, immer ein Lachen auf den Lippen, ist schon etwas älter.
Wir reden und mögen uns. Sie ist
wie meine große Schwester.
Irgendwann ist es wieder vorbei.
Es war schön.
Plötzlich gibt es am Wochenende
keinen Kuchen mehr.
Frau Wehner liegt im Krankenhaus.
Irgendetwas scheint nicht zu
stimmen.
Dann erfahre ich, dass Frau
Wehner an Krebs gestorben ist.
Die Welt gerät weiter aus den
Fugen.
Es kostet mich etwas Überwindung,
an der Wohnungstür zu klingeln, aber irgendetwas zieht mich an.
In das Zimmer von Herrn Brockhausen ist in Wehners Wohnung eine neue Untermieterin
eingezogen.
Sie erinnert mich ein wenig an
meine Freundschaft mit Marion Scott, die schon lange wieder in Kanada lebt, und
ich hoffe, etwas Nähe bei ihr zu finden.
Sie ist ein paar Jahre älter als
ich, aber doch noch sehr jung und hat dieses gewisse Etwas, was mich anzieht.
Sie steht barfuß vor mir.
Ich habe sie schon öfter besucht
und wir redeten etwas zusammen.
Aber da war und ist immer diese
Spannung, irgendwie hat sie mich in meinen Absichten durchschaut, vielleicht
hat sie auch gesehen, dass ich oft und gerne auf ihre nackten Beine schaue, die
für mich in der Enge und Prüderie der Stadt Fulda ein kleines Stück Freiheit
bedeuten.
“Komm rein!” fordert sie mich
auf.
Ich darf mich in den kleinen
Sessel setzen und sie lächelt mich wieder an, beobachtet mich genau.
Dann holt sie einen großen
Fotokarton und setzt sich neben mich.
Sie öffnet den Deckel und ich
sehe ein riesiges Schwarzweißfoto von ihr.
Sie ist völlig nackt.
Langsam blättert sie die Bilder
durch und ich traue meinen Augen kaum.
Viele, viele Fotos von ihr und
ihrer Freundin, beide nackt in allen möglichen Stellungen.
So etwas habe ich noch nie
gesehen, und sie zeigt sie mir alle ganz ruhig und selbstverständlich, spricht
dabei, wie und warum sie die Fotos gemacht haben, schweigt aber auch viel,
scheint die Situation genau wie ich zu genießen.
Ich bin beschämt und glücklich
zugleich.
Sie verstand mich besser als ich
dachte.
Dann führt sie mich zur Tür und
ich gehe.
Wir sahen uns nie wieder.
Jeden Donnerstag fahre ich mit
meinem Freund Reinhard Keller und seinem Vater und wir tauchen in dem neuen
Hallenbad von Fulda.
Es steht an der gleichen Stelle,
wo Vati vor vielen Jahren die alte Winfriedschule abreißen ließ.
An wie vielen Türen in Künzell hatte ich geklingelt und für dieses Bad mehr oder
weniger gezwungenermaßen durch die Schule Hallenbadbausteine, die gleichzeitig
als freier Eintritt galten, zu verkaufen.
Jetzt konnte ich selbst hier
schwimmen - und tauchen.
Ja, tauchen macht uns besonderen
Spaß.
Reinhard und ich entwickeln es
zur Disziplin.
Wir steigern unsere
Tauchleistungen wöchentlich.
Es ist immer der gleiche Ablauf:
Am Beckenrand, schon im Wasser,
atmen wir gleichmäßig und tief ein.
Nach etwa ein bis zwei Minuten
tauchen wir dann gleichzeitig unter, stoßen uns von der Wand mit den Füßen ab
und tauchen bewegungslos hinunter, so tief wir können.
Dann geht es mit ganz, ganz
langsamen Bewegungen der Arme und Beine am Boden entlang. Der Oberkörper
streift manchmal die Kacheln.
Weiter durch die Stille bis zum
anderen Ende des Beckens. Fünfundzwanzig Meter liegen schon hinter uns.
Dann kommt die Wende, Abstoßen
ist erlaubt und langsam zurück, soweit jeder es schafft.
Einmal gelingt es uns fast, mit
den Händen die andere Beckenseite zu berühren. Fünfzig Meter, fast.
Während der Schulstunden machen
wir unsere Atemübungen.
Drei Atemzüge pro Minute, zehn
Minuten lang.
Einmal zählen wir auch die
Eigenart eines Lehrers. Herr Brähler sagt gerne “ja” wenn ein Schüler etwas
erläutert.
Wir machen Striche, und jeder von
uns macht lange Denkpausen, weil dann die “jas” nur
so purzeln.
Manchmal spielen wir beide
Roboter mit Sprachfehlern und eckigen Bewegungsabläufen.
Ich mag Reinhard und seine Ideen
sehr.
Ach ja, er ist doch Protestant.
Dann schrieb er diesen Brief an
einen Nachbarn, den er nicht mochte.
Behörde zur Kontrolle der
Überbevölkerung. “Bitte melden Sie sich am ... um .... Uhr mit einer leichten
Decke und Ihrem Personalausweis usw.
Es war ein böser Scherz über den
wir furchtbar lachen mussten.
Auf dem Weg nach Hause von dem
Film “Das Schweigen”, den mein Grundschullehrer Herr Pösel
in einer Turnhalle öffentlich in Fulda vorführte, nahmen wir einen kleinen Fiat
und hoppelten ihn nachts zwischen zwei Betonpfeiler.
Reinhard bekommt als Schulbester
beim Abitur ein Buch geschenkt.
Ich treffe ihn wieder in Berlin,
viele Jahre später.
Er hat lange in Japan gearbeitet.
Wir haben wieder viel Spaß
miteinander.
Er hat seinen Humor behalten ist
aber noch unter Schock durch die Trennung von seiner Elfi.
Sein Sohn lebt heute noch.
Ich rufe ihn später an.
Hi, Reinhard, wie sieht es aus,
du bist ja jetzt endlich in Rente?
Scheiße, ich hab
Bauchspeicheldrüsenkrebs!
Es dauerte noch 8 Wochen.
Wir hatten viel Spaß miteinander.
Hoppelten angetrunken den kleinen
Fiat in der Nacht nach der Abiturfeier auf dem Nachhauseweg zwischen die beiden
Steinsäulen vor dem Haus.
Was der Besitzer wohl am Morgen
dachte?
Ach, ich wiederhole mich immer
öfter.
Macht nix.
Plötzlich wache ich auf.
Das Licht brennt noch und ich
spüre kaum, dass ich in meinem Erbrochenen liege, so betrunken bin ich.
Wie fand ich in das Bett?
Ich wälze mich raus und versuche
wankend das Bett sauber zu machen.
Dann fällt mir wieder der Abend
ein.
Eine Party bei einem
Schulkameraden, dessen Eltern schon immer so großzügig waren, ihrem Sohn so
etwas zu erlauben.
Rüdiger fragt mich, ob ich
überhaupt nicht merke, dass die Kleine sich für mich interessiert, aber ich bin
zu gehemmt, den Kontakt anzufangen und es bleibt bei einem kurzen Gespräch.
Dann die zwölf Flaschen Bier.
Später die Heimfahrt mit dem
Moped, das mir mein Onkel Hans geschenkt hat.
Ich rutsche durch Eis und Schnee,
die Berge hinunter und wundere mich, dass ich nicht stürze.
An mehr kann ich mich nicht
erinnern.
Der Schlafanzug. Irgendwann
schlafe ich wieder ein.
So etwas ist mir nicht oft
passiert.
Herr Wehner lernt Latein, und ich
besuche ihn öfter mal.
Bauer, Maurer,
Lastwagenfernfahrer, Medikamentenfahrer von Kassel nach Fulda - täglich, und
jetzt lernt er Latein.
Ich glaube, sein Vorname war
Karl.
Er sammelt alte Münzen aus Fulda,
übersetzt die alten Schriften, die mit dem Fuldaer Dom, Bonifatius
und auch mit Münzen zu tun haben.
Er hat Briefkontakte in alle
Welt.
Alles wegen der Münzen.
Er tötet keine Mäuse mehr.
Heute besuche ich ihn wieder,
diesmal im Krankenhaus.
Er erklärt mir genau, was ein
Herzinfarkt ist, macht einen ruhigen und intelligenten Eindruck.
Ich kann mich nicht daran erinnern,
wer in seine Wohnung einzog.
Irgendwann wohnte dort sein Sohn
Karlheinz mit seiner lieben Frau.
Meine alte Klasse, in der
Johannes Ressel natürlich auch noch ist, will gemeinsam Tanzschule machen und
sie fragen mich, ob ich nicht mitmachen will? Thomas Müller ist auch mit dabei.
Wir treffen uns im ersten Stock
der Tanzschule Dücker.
Herr Dücker ist irgendwie
merkwürdig und später sagt mir jemand:”Hast du noch nie einen Schwulen
getroffen?”
Plötzlich alles voller Mädchen, ich
fühle mich komisch.
Die glatten Kleider, das Halten
an den Händen, es hat nichts Erotisches für mich und ich musste ja auch die
Große nehmen, die sehr schüchtern war, genau wie ich.
Wir bringen die Sache hinter uns
und dann gibt es eine kleine Pause.
“Meine Damen, meine Herren, wenn
sie sich nicht benehmen, lasse ich heute die Pause ausfallen!”
Eine leere Drohung, denn an den
Getränken verdient er ja extra.
Langsamer Walzer, Polka,
Charleston usw.
Dann der große Abschlussball in
der Orangerie.
Die Große sitzt immer nur da und
sagt “ist mir egal!”
“Soll ich uns eine Flasche Wein
bestellen?”-”Ist mir egal!”
“Wollen wir jetzt zusammen
tanzen?” - “Ist mir egal!”
Irgendwann ist es mir auch egal
und ich gehe nach draußen, kümmere mich kaum noch um sie, was für ein blöder
Ball, eigentlich bin ich noch viel zu jung für das
alles.
Jahre später treffe ich sie
zufällig wieder.
Sie sieht toll aus und hat
Sexappeal, aber nichts mehr für mich.
Gerhard Herbst lädt mich ein, ihn
heute gegen fünf Uhr zu besuchen.
Wir sitzen dann in seinem kleinen
Zimmer unter der Dachschräge und er will mich in die Geheimnisse einweihen.
Irgendwie gehöre ich hier nicht
hin, fühle mich nicht wohl, fühle mich verführt, bin aber voller Neugier.
Er dreht mit Zigarettenpapier
eine Zigarette und stellt die Musik von Pink Floyd an, weil das wichtig für die
Stimmung ist und dazugehört.
Dann rauchen wir zusammen.
Ich muss meinen Hustenreiz
unterdrücken und kämpfe mit dem Schmerz in der Lunge. Ich spüre nichts und es geschieht
nichts.
Ich bin enttäuscht.
Mein Kopf bleibt völlig klar.
Irgendwann gehe ich nach Hause.
Anfang der 70er Jahre trage ich
schwere Lautsprecherboxen in das Audimax der
Technischen Universität hinein und sehe dort kostenfrei
Pink Floyd bei ihrem Konzert.
Eine andere Welt.
Auch Rudi Dutschke erlebe ich in
diesem Raum nachdem er angeschossen wurde bei einer seiner Reden.
“Mein großer Junge, wollen wir
zusammen wieder eine Fahrt in die Alpen machen, unsere dritte gemeinsame Reise,
mit den Überlandwerken Fulda?”
Ja, ich habe große Lust mit
meinem lieben Vati, der mich nicht mehr schlägt, zu fahren.
Ich denke daran, wie ich seine
Hand, seinen Arm, festhielt, als er mich wieder schlagen wollte.
“Du wirst mich nie wieder
schlagen, Vati!” sage ich mit zitternder Stimme zu ihm.
Er schlägt mich nie wieder.
Wir fahren zusammen nach Riezlern im Kleinwalsertal bei Oberstdorf.
Ein kleines und einfaches Zimmer
im Hotel zur Post.
Als ich am Morgen aufwache,
liegen neben meinem Bett auf dem kleinen Nachttischchen drei wundervolle
Steine.
Ein rotgrüner Achat, ein golden
glänzendes glattgeschliffenes Tigerauge und noch ein rohes Tigerauge.
Ich bin voller Freude über das
Geschenk von Vati.
Er muss es schon früh aus dem
kleinen Steinlädchen geholt haben.
Wir wandern viel in dem kleinen
Tal und auf der Höhe.
Ich bin oft auch alleine
unterwegs.
Einmal gehe ich den Höhenweg
entlang und treffe oberhalb von Riezlern auf einen
kleinen Gletscher in einem Bachtal.
Ich habe natürlich Lust, ihn zu
überqueren.
Langsam klettere ich den erdigen
Hang des Baches hinunter.
Dann ein Mutsprung
über die ungefähr ein Meter breite Gletscherspalte auf das feste Firneis des
Gletschers.
Ich gehe vorsichtig hinüber und
schaue noch einmal nach hinten.
Links hinter mir steigt Dampf vom
Gletscher auf. Ich gehe zurück und bemerke plötzlich, dass ich neben einem Loch
stehe, aus dem der Dampf aufsteigt.
Angst vor einem Einbruch in die
Tiefe des Baches, im Eis gefangen, die Beine gebrochen.
Ich schleiche rückwärts in
Richtung des Erdhanges.
Dann wieder der Mutsprung auf den Hang, ich rutsche ab und stecke fest.
Hinter mir das Eis des Gletschers
und vor mir die lehmige Erde.
Es dauert lange, bis ich mich aus
der gefährlichen Lage befreit habe. Meine Kleidung ist völlig verschmutzt, die
Hände sind etwas zerkratzt.
Ich gehe zurück zum Hotel.
Tini und Tante Anne sind uns
nachgefahren in ihrem kleinen Volkswagenkäfer.
Sie wohnen in einem luxuriösen
Privatquartier, und ich besuche sie gerne.
Wir haben wie immer viel Spaß
miteinander und Vati und Tante Anne verstehen sich auch gut.
An einem Abend sitzen wir in
einem Lokal und der Wirt serviert uns einen “Ratzeputz”, einen Schnaps mit
Pfeffer und anderen leckeren Beimischungen.
Tini trinkt ihn in einem Zug
runter und hustet zum Staunen der Gäste und des Wirtes überhaupt nicht.
Es ist herrlich, mit Tante Anne
zu lachen.
Jedes Mal, wenn uns bei unseren
Spaziergängen Wanderer begegnen, hören wir das “Grüß Gott” aus ihren Mündern
und müssen furchtbar darüber lachen.
Sie ist so wundervoll albern und
dann wieder so traurig, wie Mutti.
Das dunkle Gemüt der Wolfhagens, wir haben es alle in uns.
Himmelhoch jauchzend - zu Tode
betrübt!
Neigung zur Depressivität.
Heute fährt uns unser Reisebus nach
Oberstdorf und dann geht es mit der Seilbahn hinauf auf das Nebelhorn.
Vati bleibt im Tal, denn er
leidet wie immer unter Asthma.
In der Seilbahn halte ich die
Hand des Mädchens aus dem Bus und fühle mich ein wenig glücklich.
Ich klettere, wie schon einige
Tage zuvor, den Wiesenhang links hinauf Richtung Berghütte.
Die Reisegruppe geht den normalen
Weg.
Heute will ich versuchen,
zwischen den beiden Schneefeldern hindurch den Grat zu erreichen, um von dort
aus dann weiter zur Hütte zu laufen.
Es wird immer steiler. Das Gras
zeigt nass nach unten, Wasser läuft von den Feldern den Hang hinab.
Plötzlich merke ich mit
Schrecken, dass die beiden Schneefelder oben zusammenlaufen.
Da komme ich nicht rüber.
Ich drehe mich vorsichtig um und
versuche mir den glatten Abstieg vorzustellen.
Der Reiseleiter ruft von der
anderen Seite des Tales laut “Uuuuliiiih!”
Ich rufe zurück “Jaaaaaah!”
Er ruft weiter “Komm runter!”
Ich winke und will antworten, da
komm ich schon runter, allerdings mit rasender Geschwindigkeit.
Ich bin abgerutscht und fange
mich mit den Händen ab, rutsche den gesamten Hang hinunter, auf meinem Po, den
Händen und den Füßen.
Das ist das Ende.
Dann kommen schließlich nach
ungefähr achtzig Metern kleine Steine, die meine Geschwindigkeit verlangsamen.
Ich sitze im Gras und schaue mir
den Schaden an.
Heulender Schmerz in den
zerfetzten Handinnenseiten, die kurze Hose bis hoch über die Pobacken ebenfalls zerfetzt, der Po ganz blutig aber
eisgekühlt.
Ich kann noch laufen, nichts
gebrochen, wie ein Wunder und dann zurück Richtung Seilbahn, an den drei
Mädchen vorbei.
Meine kleine neue Freundin
interessiert sich überhaupt nicht für mich und mein Erlebnis.
Ich wanke zur Seilbahn, fahre
hinunter und finde Vati in einem Lokal.
Er spendiert mir ein Eisbein und
ich überlebe alles.
Am Ende des Tales können wir aus
dem Bus aussteigen und ich gehe mit den drei Mädchen am Fluss entlang.
Auf einer Wiese ziehen wir unsere
Schuhe und Strümpfe aus und spielen zusammen, lachen und ich freue mich über
alles.
In der Breitachklamm
suche ich die Felswand mit den Amethysten, von der mir Gabi Ressel, die
Schwester von Johannes erzählte, als sie mir ihren Amethysten zeigte.
Ich glaube, die Felswand gibt es
dort überhaupt nicht.
Sie hat mich belogen.
Vor einer Woche ist ihre
Schwester Edeltraut Ressel an Leukämie gestorben.
Heute ist der 13. Februar des
Jahres 2025.
Oma sitzt alleine in Hannover in
ihrem großen Sessel.
Sie trägt jetzt schon lange Zeit
eine Windel.
Ich besuche sie.
Jeden Morgen braucht sie seit
vielen Jahren eine halbe Stunde, um mit ihren Stöcken vom Bett zu dem großen
Sessel zu kommen.
Ich mag sie gerne und denke
darüber nach, wie merkwürdig es doch ist, dass sie noch lebt und Mutti schon
tot ist.
Oma erzählt mir heute plötzlich, dass
sie die Engelein schon singen hört.
Sie lächelt dabei, und ihre Augen
stehen etwas schief.
Irgendwie hat sie sich verändert.
Einige Wochen später erhalten wir
in Fulda die Nachricht ihres Todes.
Ich bleibe zuhause.
“Ich will dir gerne mehr über die
Sache verraten, denn ich beschäftige mich schon lange mit Yoga!”
Er fasziniert mich, zieht mich an
und schließlich verspricht er mir sogar, mich auch einmal zu hypnotisieren.
Ich fahre mit dem Moped auf den
Aschenberg hinauf und er versucht die Hypnose, aber es gelingt nicht,
vielleicht weil ich auch schon seit einiger Zeit Yoga im deutschen
Yogainstitut, das von Berlin nach Fulda gezogen ist, mache.
Der alte Dr. Isbert
und das Prana, und seine junge Assistentin mit den
nackten Füßen, ein interessantes Paar.
Ich bin jede Woche in ihren
Kursen und übe.
Begleite sie auch in ihrem
VW-Käfer zu Kursen in Hünfeld und Bad Hersfeld.
Nach der misslungenen Hypnose
sprechen wir lange über Sexualität und Yoga.
Mein Schulkamerad erklärt mir
eine alte indische Technik, mit der sich die Ejakulation verhindern lässt und
so immer wieder ein Orgasmus möglich ist.
Viele, viele, sehr viele Orgasmen
- nacheinander.
Es scheint faszinierend und
tatsächlich beschäftigt es mich einige Zeit.
Wieder ein Stück mehr Freiheit
gewonnen.
Ein erstes Wiedersehen nach
vielen Jahren.
“Mein Gott, Herr Thoma, sind sie
dick geworden!”
Ruth reagiert auf den Anblick
ganz natürlich und spricht ihre Gedanken sofort aus.
Vati ist wirklich sehr dick. Der
Bauch, das Gesicht, die Waden, die Füße und die Finger.
Er isst gerne seine Hühnchen und
nagt das Fleisch von den Knochen.
Damals brachte er noch Hühner mit
Kopf und Füßen nach Hause und bereitete sie vor dem Kochen für Mutti zu.
Ich staunte über die halbfertigen
Eier und spielte gerne mit den Hühnerkrallen, blies durch die Gurgel meine
Lieder.
Er freut sich, Ruth
wiederzusehen, plant sein Leben weiter, den Tod in den Knochen.
“Wenn mir einmal etwas zustößt,
dann heiratest du Ruth!” hatte Mutti damals in Königstein gesagt.
Sie waren gute Freunde, trafen
sich häufig in der kleinen Stadt, tranken Wein zusammen und Otto Schäfer
gehörte auch mit dazu.
Am Tage meiner Geburt besuchen
sie Mutti im Krankenhaus und abends trinken sie Wein auf das große Ereignis.
Ruth geht mit Otto Schäfer, der
in solchen Dingen etwas hilflos ist, in einen kleinen Laden und sie suchen
gemeinsam ein Messer, eine Gabel, einen Löffel und einen kleinen Schieber aus.
Hänsel und Gretel, der Wolf und
die sieben Geißlein sind auf dem Silber zu erkennen.
Das Märchenbesteck.
Ich werde mit dem Besteck essen
und alle anderen Generationen auch, aber für mich besitzt es eine besondere
Bedeutung.
Ich weiß nichts davon, dass Vati
Ruth trifft.
Er plant alleine, sein Leben und
für mich.
“Du wirst wieder eine neue Mutti
bekommen, kleiner Junge, alles wird wieder gut werden!” sagt mir Vati später.
Alles wird wieder gut werden.
Und wieder bin ich nach Hannover
in die Brehmstraße 43 getrampt.
Zu meiner lieben Tante Anne und
Tini.
Uns packt die Lust und wir setzen
uns mit dem kleinen Schallplattenspieler und den Platten in den weißen Käfer
und los geht es.
Erstmal auf der Autobahn Richtung
Einbeck.
Vor uns eine Aufschrift “Pack den
Tiger in den Tank”.
Immer wieder spreche und schreie
ich den Satz und Tante Anne hat Lachkrämpfe.
Wir sind ein lustiges Team und
das Leben ist schön.
In Einbeck besuchen wir unsere
weit entfernte Verwandte Wittram, die uns den Einbecker Blaudruck ihrer Familie
zeigt.
Hier trafen sich die Familien
nach dem Krieg wieder und Onkel Konrad lernte seine Frau Herta kennen.
Vati schnitzte kleine
Holzpferdchen und anderes Spielzeug und tauschte mit den Bauern gegen Nahrung.
Sie wohnten bei Tante Pipichen in einem Zimmer mit Renate und Andreas. Vati
hackte Holz und klaute Kartoffenl,
damit sie überleben konnten.
Wir fahren hinauf auf den
Hasenjäger und kehren zum Abendessen ein.
Am Nachbartisch zeigt der Ober
den beiden Gästen eine Flasche Wein.
Er steht gebeugt am Tisch und
hält die Flasche ebenfalls gebeugt in Richtung der Augen.
“Heuschrecke in Schreckstellung”
flüstere ich Tante Anne ins Ohr und wir haben unseren nächsten Lachkrampf.
Später fahren wir einfach in die
andere Richtung, wieder nach Norden an Hannover vorbei und immer weiter bis zur
Nordsee.
Das Auto bleibt auf einem kleinen
Parkplatz stehen und wir setzen mit der Fähre auf die Insel Langeoog über.
Zum zweiten Male bin ich endlich
wieder an der Nordsee.
Und wieder auf Langeoog.
Das Meer ist wundervoll.
Die schöne Zeit mit Mutti.
Wir wohnen bei einem älteren
Mann, den wir aus Spaß “Großer böser Wolf” nennen, weil er so eine rauchige
Stimme hat.
Nachts blubbert es in den Rohren
und plötzlich geht die Heizung an.
Alle Schallplatten verziehen sich
von der Wärme und am nächsten Tag jault unser “Rag Doll” aus dem Lautsprecher.
Ich gehe alleine über die
Holzwege durch die Dünen und vergrabe an einer Stelle im Sand meinen kleinen
Schatz, eine mit Glassplittern von einem Autounfall gefüllte
Streichholzschachtel.
Ich zeichne eine kleine
Schatzkarte, damit ich ihn später wiederfinde.
Als wir ein kleines Metallteil
finden, sagt Tante Anne:
”Das ist ´ne Bombe!” und wir
müssen alle wieder lachen.
Auf dem Schiff zurück durch das
Wattenmeer. Unser Auto springt nicht an, denn die Batterie ist entladen.
Irgendwann geht es doch wieder
zurück nach Hannover und irgendwann zurück nach Hause, zurück nach Fulda.
Aufgeregt laufe ich aus dem Haus,
den kleinen Weg vor dem Haus hinauf bis an die Straße.
Wie sie wohl aussehen wird?
Vati hat sie aus Königstein
abgeholt und ist mit ihr in ihrem Auto nach Fulda zurückgefahren.
Eine neue Mutter.
Als ich auf die Straße komme,
steht sie neben ihrem kleinen blauen Käfer und wendet mir in gebückter Stellung
den Rücken zu, holt etwas aus dem Auto.
Sie dreht sich um und sieht mich
erschrocken mit aufgerissenen Augen an, lächelt dann und sagt:
”Ahh,
du musst der kleine Uli sein!”
Sie ist mir fremd.
Ich bekomme eine Tafel Schokolade
mit Krokantstücken, ganz süß mit knusprigen
Zuckerstückchen drin, wie jedes Mal später auch.
Irgendwann mag ich sie dann - in
der schweren Zeit.
“Mensch, Thoma, fahr los! Du
willst mir doch nicht erzählen, daß du noch nie ein
Auto gefahren hast.
Na gut, hier ist der erste,
zweite, dritte, vierte und der Rückwärtsgang, jetzt fahr endlich!”
Herr Schwarz mit seinem zernarbten Gesicht grinst mich von rechts an.
Ob meine Akne mich auch einmal
mit so einem Gesicht zurücklassen wird?
Aus der Stadt geht es hinaus in
dem schicken roten BMW 1600 bis nach Alsfeld und das
mit hoher Geschwindigkeit.
Ich glaube zu träumen. Meine
erste Fahrstunde.
Wir holen eine andere Kandidatin
ab und sie fährt zurück nach Fulda.
Ich kann gerne weiter hinten im
Auto mitfahren.
Nachdem sie ausgestiegen ist,
greift er von rechts das Steuer und fährt in einem
Höllentempo um drei Ecken wo der nächste Fahrschüler wartet.
Er hat eine lockere und lustige
Art, die mir gefällt.
“Hier stinkt´s ja wie in einem
siebenstöckigen Puff!”
Die neunte Stunde ist
Prüfungsstunde.
Erst einmal wird die Klingelanlage
eingestellt, das hatten sie beim letzten Prüfling vergessen. Mir rutscht das
Herz in die Hose, ich habe Angst, denn hinten flegelt sich ein scharf wirkender
unangenehmer Typ auf die Rückbank, legt die Beine hoch und los geht die Fahrt.
Er jagt mich durch die Stadt,
vierzig Minuten lang.
An einer Kreuzung hinter dem
Busbahnhof runter zum Dom warte ich lange um die Fußgänger vorbeizulassen. Er
drängelt mich.
Ich gebe leicht Gas und bremse sofort wieder und sage:”Soll ich die Fußgänger
anfahren?”
Ich staune über meine Frechheit,
muss endlos weiterfahren, dann aussteigen.
“Natürlich hast du bestanden,
Thoma!”
Ich unterschreibe den
Führerschein auf dem Wagendach.
Vorzeitig wurde der
Atommüll-Transport nach Ahaus gestartet.
Trotz einer Bombendrohung konnte
er die Station Fulda passieren.
Von der Straße aus schaue ich
nach oben zur Brücke.
Der Zug steht und aus einem
Fenster beugt sich - ich traue meinen Augen kaum - meine Mutter herunter.
Ich schreie laut hinauf:”Mutti,
Mutti, steig aus, schnell, steig aus!”
Sie zieht die Handbremse oder
schafft es irgendwie, aus dem Zug rauszukommen, bevor er wieder anfährt.
Wir nehmen uns in die Arme.
Wange an Wange.
Es ist gut sie wieder zu spüren.
Ich rede ganz ruhig mit ihr.
Sie hat ja noch keine Ahnung,
scheint mitten im Leben zu stehen.
Wir gehen spazieren und
unterhalten uns. Soll ich ihr alles erzählen?
Darf ich das? Wann ist es soweit?
Ihr Gesicht sieht dunkel aus. Die vielen Zigaretten und das Alter. Der nahe
Tod. Schon in wenigen Tagen, nächste Woche. Ich sage ihr nichts und wir sind
glücklich zusammen.
Wir wandern ein Stück gemeinsam
durch die Welt.
NACH MUTTIS TOD
Ruth in Fulda
Vati- Kennenlernen von Ruth
13 Flocki
in die Abdeckerei(nach Muttis Tod)
Fahrt nach Elba, Eurotel, Hübsche sexy Italienerin Goldkettchen, Schlott, Tante Annemarie, Theodor,Josie,
Sonnenstich, Auto im Parkschatten
unterstand,
Una Festa suri prati, Adriano Celentano, Polpomann, Fischer,
Blaue Steine am Strand
Yoga Dr. Isbert und
Assistentin und Fahrt nach England - Loch Ness TM, Jane
Fahrt nach England Trampen, Jane,
barfuß, ich auch.
Cum here,
Jane. No!
Schwule, alter, und junger.
Indischer Arzt in Schottland. Jump on auf Lastwagen mit Plattform.
Hure in London nachts, Hyde Park.
Kirche.
Fahrt nach Berlin, Roswitha Röbig, Kerber, Olli, Foto im
Laden.
Basteln von Raketen aus
Schwarzpulver, mit Reinhard, elekt.Zündung.
Ruth mehrmals entgegentrampen,
Vatis Schlaganfall, vorher
Hochzeit mit Ruth, Depressionen ein Jahr später,
Champignonsuche mit Ruth, alleine mit ihr.
Ruth in der Schule besucht. Nähe
zu ihr ein wenig wie bei Mutti.
Tischrücken mit unserer Putzfrau,
die immer im Lotto gewann.
Vor Abitur, Stirnhöhle, Dr.
Hellhacke, alle deine Schiffe steuern einen ruhigen Hafen an. Geist neben Sofa,
Vati in Giessen, ich Schwingungen im Kopf,
schizophrenes Mädchen, rotes Licht, Elefantenklo.
Königstein, Wünschelrutengehen,
Ruths Mutter, erschreckt.
Geist neben Sofa, Krampfanfälle
vor Angst.
Rita - sexy,
Satellitenbeobachtungen, Christine,
Theodor, Fahrt auf dem Rhein im
Schlauchboot, pinkeln auf Holzpflock,
Abitur: Bedarf und Bedürfnisse,
der Kreislauf des Geldes.
Stockhausen,
Arbeit in den Gummiwerken
Reise nach Griechenland mit
Michael Schmidt
Berlin
Umzug und Zeit in Berlin - H und
Cs Wohnung , Einbrecher, Depressionen,
Marmelade und Schwarzbrot
Arenys de Mar mit Johannes und Manfred
Schwab
Ulrike Völker in Holland, in Oostburg, Ulysses, Billard
spielen und Pommes Frites mit Mayo
Zeit mit Tine
TINE im Riverboat
Reisen nach Sylt mit Winfried
nach Afrika und Tine in Paris
Finnlandreise mit Rita und
Winfried
Parisreisen mit Tine
Feuerqualle am Strand auf Cres bei Fietzens, nackter
Abstieg mit Helmut Müllbaum.
Viele Fahrten in Ruths Auto mit
Vati und Prinz alleine, Vati schreibt sein Leben auf.
Hallimasche suchen.
Onkel Hans besuchen, glückliche
Zeit, Darmbeschwerden von Vati, Depressionen.
Fußnägel schneiden, Haare und
Bart.
Vatis Tod
Bad Homburg vor der Höhe.
Erbe 365,- jeder von uns. Renate
und Andreas
Studium
nacktes Mädchen, Jobs bei der
Post, Kleindarsteller.
England
Türkeireise
Fanö, Kreta, Leonidas, Bernstein,
Funkgeräte
Analyse
Fahrt mit Wilfried - Hamburg und
Ostsee, siehe Kurzgeschichte
Garten am Teufelsberg
Fanö
Georg-von-Giesche
Oberschule
Vangerow
Krajewski
17 Jahre
Heirat
Geburt von Sebastian
Wochenbettpsychose
zwei Jahre
Reise nach Paris, Zahnschmerzen, elle sourie, la sourie, Mädchen gegenüber in Unterwäsche
Teneriffareise, Tine wieder
normal, Los Bananas Appartement
Tines Tod
Wilfried´s Schicksal, Bette Davis Eyes
dreimal in England im Sommer mit
Sebastian bei Mick
Klavierunterricht und Ursel
Das kleine weiße Kreuz und der
Grabstein sind fort
Ursel
Kreta mit Ursel, Samariaschlucht, Ängste, Kuscheln, Leute
Nepal und Indien mit Ursel
USA mit Ursel und Sebastian
Tating
Helmuts Tod
Reise mit Ursel nach Teneriffa
und Sebastian
Ursel ist schwanger mit Charly
Cornelias Tod
Charlotte
Geburt mit Saugglocke
Erwachsen:
Ich Diktatkorrektur
---Herzkrämpfe .. Fehlervogel friss
Krähen in der Sauna - Sauna,
Finnland, Veinö und Eili
ENDE
Inhalt: