Vom Segen des Bodhisatta-Weges

Das kostbarste Geschenk, das mir im Leben zuteil wurde, war meine

Einweihung 1972 in den Bodhisatta-Weg durch den Ehrwürdigen Sri

Gnanarama Maha Thera of Mitirigala. Jeden Morgen mach ich als erstes eine

Dankeskerze vor dem Buddha an und erneuere mein Bodhisatta-Gelübde: „Ich

will dem Wohle und Heile aller Wesen dienen, deren Zahl unermesslich ist wie

der Himmelsraum, bis ich dereinst durch Entfaltung des Liebenden Klarblicks

vollkommen erwacht sein werde.“ Vom Dienst an der Mitwelt hab ich schon viel

erzählt und manchen Aufsatz geschrieben. Doch welchen unermesslichen Segen

der Bodhisatta-Weg für mich selber hat, das dämmert mir erst jetzt im Alter,

speziell in der Erfahrung der fortschreitender Demenz und des Persönlichkeit-

Zerfalls. In diesem letzten Beitrag für die DHAMMADUTA will ich davon

berichten.

 

Gleich zu Beginn des Weges hatte man mich ermahnt: Bodhisattas übernehmen

keine fertigen Wahrheiten, auch nicht die ihrer erleuchteten Vorgänger. Sie

lernen aus ihrer unmittelbaren eigenen Erfahrung. Eine ungemein wertvolle

Wegweisung! Erfahrung, das wurde mir durch die Vipassana-Übung bald

sonnenklar, hat zwei Komponenten: das, was mir begegnet, und das, was ich

daraus mache. Das jeweils vorliegende Sinnenmaterial wird überhaupt erst

durch Interpretation zu einer Erfahrung, Doch ohne geübten Klarblick wird

diese Unterscheidung wohl kaum getroffen; Sinnesmaterial und Interpretation

verschmelzen dann zu einer einzigen anscheinend objektiven Erfahrung, über

die man sich problemlos austauschen und verständigen kann. Damit wird u.a.

die kollektive Verblendung unterhalten, die zu Fremdenfeindlichkeit,

Terrorismus, Kriegen u.dgl. führt. Idealerweise ist ein Bodhisatta in keiner

Weise fremdbestimmt, nicht durch eigene Denkgewohnheiten, nicht durch die

Meinung der Menge, nicht durch die Weisheiten großer Meister. Seine Zuflucht

ist die lebendige Wirklichkeit (dhamma). Das verinnerlicht zu haben, ermöglicht

eine nahezu grenzenlose Freiheit im Umgang mit Herausforderungen aller Art.

 

Nun zu meinem Fall! Das Bündel Daseinsgruppen namens Shanti, das gerade

diesen Aufsatz schreibt und ICH sagt, bleibt keine zwei Augenblicke das Gleiche.

Besonders deutlich wird das immer morgens. Jeden Morgen ist ein anderes

Wesen zugange, das um des lieben Friedens willen zunächst mit sich selber

klarkommen muss. Alle nennen sich Shanti, alle empfinden sich selbst als ICH,

ungeachtet des irritierenden Fremdheitsgefühls. Ein Strom von Ichlingen,

zusammengehalten durch das Bodhisatta-Gelübde. Wie kann man dergleichen

nachvollziehbar machen? Wenn der Buddha von seinen Vorleben als Bodhisatta

sprach, dann mit diesen Worten: ich lebte damals in jener Gegend, ich hieß

damals so und so, ich machte diese und jene Erfahrung. Wenn er in dieser

Weise Bezug auf sich selbst nahm, meinte er natürlich nicht, immer dieselbe

Person gewesen zu sein. Von seinem erhabenen Vorgänger ermutigt bleibt also

auch Shanti unbekümmert in der ICH-Erzählung.

 

Mein löcheriges Gehirn wurde erstmalig 2010 in der Uni-Klinik Rostock mittels

einer MRT-Durchleuchtung entdeckt und als Leukencephalopathie

diagnostiziert. Mangels näherer Aufklärung stöberte ich im Internet und

vermutete bald als wahrscheinlichste Ursache eine Virusinfektion. Bei diesem

Befund sollte die Überlebenszeit etwa ein Jahr betragen. Daraufhin brach ich all

meine Seminare, Vorträge, Aufsätze etc. ab, um mich für den vermeintlich

nahen Übergang vorzubereiten. Angst vor dem Sterben hatte ich eigentlich

keine, dennoch fühlte ich mich schlecht - irgend etwas stimmte da nicht. Statt

nun aber an der selbstgestellten Virus-Diagnose zu zweifeln, suchte ich nach

einem positiveren Umgang mit ihr. Die Basis meines Bodhisatta-Trainings ist ja

die liebende Güte, die voll entfaltet das ganze Weltall durchstrahlt, zunächst

aber im eigenen Herzen beginnt, den Leibraum erfüllt und so auch ins Gehirn

strahlt. Das tat seine Wirkung! Allmählich entwickelte sich eine

freundschaftliche Beziehung zwischen mir und dem Virus. Ich sah in ihm

meinem Trainingspartner, der mich jeden Morgen vor neue Herausforderungen

stellte, schloss ihn bewusst in mein Bodhisatta-Gelübde ein und machte die

morgendliche Dankeskerze auch für ihn an.

 

Man mag denken: Der Alte ist ja total plemplem! Nun gut, aber in meiner

damaligen Lage war solches Verhalten gar nicht mal unzweckmäßig. Heiteren

Herzens stellte ich mich darauf ein, in Begleitung meines Mitbewohners

gemeinsam dem Ende entgegen zu gehen. Indessen verging ein Jahr nach dem

anderen. Zahllose Shanti-Typen folgten aufeinander, aber keiner machte den

Abflug. Inzwischen hatte in zweites MRT eine deutliche Zunahme des Abbaus

ergeben. Schon fühlte ich mich als Weltmeister im Überleben. Erst im

Dezember letzten Jahres, also nach gut einem Jahrzehnt, schloss ein drittes

MRT-Ergebnis aus, dass da ein Virus zugange war. Infolge blockierter

Blutversorgung wären einige Bereiche des Gehirns abgestorben, aber nicht in

bedenklichem Ausmaß. Nach einer Covid-Erkrankung war ich damals in der

Psychiatrie der Schlossparkklinik gelandet. Dort wunderte man sich wohl, wie

gelassen Shanti auf die neue Diagnose reagierte. Dabei war mir sogleich klar:

die Virus-Einbildung ist ein geistiges Konstrukt, die vaskuläre Verstopfung eine

andere. Es sind zwei unterschiedliche Perspektiven auf ein und denselben

Sachverhalt. Keine kann den fortschreitenden Verfall stoppen.

 

Nach der Verabschiedung meines Virus-Freundes hab ich was Neues gesucht,

um mit der Demenz klarzukommen. Da fällt einem nicht gleich was Stimmiges

ein. Geduld ist gefragt, ein fortdauernder, vertiefter Kontakt zum Problem,

keinesfalls Verdrängung oder Schönfärberei. Vor allem immer Kontakt zum

Herzen halten! Also, hier kommt mein neuer Ansatz: Gedächtnis ist

angesammelter Erfahrungsstoff, aus dem entwickelt sich die Persönlichkeit.

Schon in den siebziger Jahren war mir als Mönch das anatta- Merkmal

transparent geworden, welches besagt, dass die Persönlichkeit ein kernloses,

dem Verfall unterworfenes Gebilde ist. Wer den Verfall derart eindringlich

durchlebt wie ich jetzt bedarf eigentlich kaum der Bestätigung durch

meditativen Klarblick.

 

Erfahrungen machen ist eine Art geistiger Ernährung, Ein gesunder Organismus

wird die Nahrung gründlich verdauen, zu seiner Erhaltung nutzen, und den

unbrauchbaren Rest ausscheiden. Ich als alter Mensch hab keinen Bedarf an

neuen Erfahrungen und brauch auch die alten nicht mehr, etwa zum Erhalt der

Persönlichkeit, denn diese zerfällt ohnehin. Das ganze angesammelte Zeug mag

sich auflösen! Schätz dich glücklich, Shanti, dass du dich nicht selbst darum

kümmern musst, es geschieht einfach von selbst. Es ist eine Gehirnreinigung,

eine Erleichterung, eine Art Durchfall. Man kann so etwas als katastrophalen

Selbstwertverlust erleben, oder auch als Abwerfen einer Last. Die Perspektive

macht den Unterschied.

 

Volk und Knecht und Überwinder

Sie gesteh´n, zu jeder Zeit:

Höchstes Glück der Erdenkinder

Sei nur die Persönlichkeit.

(Goethe, Westöstlicher Divan)

 

Aufhebung der Persönlichkeit:

Das nennen Heilige ihr Glück.

Die ganze Welt erbebt davor,

Nicht aber solche, die versteh´n.

(Sutta Nipata 761)

 

Hier ist anzumerken : Shanti erlebt sich als reich beschenktes Erdenkind,

keinesfalls als Heiliger. Dankbarkeit ist für ihn seit langem eine Grund-

schwingung geworden. Danke für die einzigartige Wegweisung. Danke für das

alle Wesen beglückende Bodhisatta-Training. Danke für den gegenwärtigen

Augenblick, der sich fortwährend ändert, aber nicht verloren gehen kann. Mein

Wirklichkeitshorizont schrumpft immer mehr auf die Gegenwart zusammen.

Danke vor allem auch für die zahlreichen Weggefährten und treuen Freunde,

von denen schon viele vorausgegangen sind. Meine Dankbarkeit für dieses

wunderbare Leben mitzuteilen, das schafft meine Sprache nicht. Deshalb

morgens als erstes die Dankeskerze.

 

Ohne Zweifel beschert der Gedächtnisverluste einen überaus wertvollen Vorteil:

die Frische der Wahrnehmung. Vieles erscheint neu, überraschend, manches

geradezu als ein Wunder. Glücklicherweise sind Phantasie und Humor nichts

Angesammeltes, sondern kreative Qualitäten, die durch geistige Beweglichkeit

am Leben gehalten werden. Ich hab Spaß am Umkreisen des Faktischen, am

Herausfinden der günstigsten Perspektive. Unter bestmöglicher Perspektive

kann das Faktische zu einem spannenden Rätsel werden, dessen stimmige

Lösung das Herz tanzen lässt.

 

Es gibt bei Shanti aber auch depressive Phasen. Wenn ein Bodhisatta zum

Wohle und Heiler aller Wesen wirksam werden will, muss er aus eigener

Erfahrung alles selber durchmachen, gerade auch den Abstieg in die so

genannten Daseinsabgründe. Es nutzt nichts, davon nur zu hören oder solche

Zustande bei anderen zu beobachten. Mag der Persönlichkeitszerfall unter

hartnäckig eingerasteter Perspektive als Katastrophe erscheinen, so gehört es

dann eben zum Lernprogramm des Bodhisatta, sie auch als solche zu

durchleben. In depressiven Phasen sag ich mir dann: ich bin gesegnet mit einer

Übung für Fortgeschrittene, jetzt heißt es, Geduld zu üben. Eines dabei ist ganz

sicher: nichts dauert ewig, So wie sich bislang alles Leid aufgelöst hat, so wird

sich auch künftig alles Leid auflösen. Alles geht vorbei! Allein diese Gewissheit

ist wunderbar.

 

Alle Meinungen, Überzeugungen, Glaubensartikel, selbst wissenschaftliche

Gesetze durchschaut der Klarblick als geistige Konstrukte, sprich Kopfgeburten.

Einige davon erweisen sich als heilsam, sinnvoll und wertvoll fürs Überleben,

andere als wahnhafte, Leid ausbrütende Konzepte. Um heilsame Perspektiven

von unheilsamen zu unterscheiden, brauchst du nur auf dein Herz zu lauschen.

 

Ich sag immer, mein Herz ist mein Kompass. Ausdenken kann ich mir vieles, was

aber sagt das Herz dazu? Was fühlt sich besser an, ohnmächtig als Opfer zu

leiden oder sich dankbar beschenkt zu fühlen? Das Herz freut sich, auch wenn

die Lösung für konventionelle Köpfe absurd klingt.

 

Nach üblicher Vorstellung hat ein Bodhisatta bereits zahllose Wiedergeburten

hinter sich und weitere zahllose vor sich. Um seinen Mitwesen effektiv dienen

zu können, muss der Bodhisatta alle Daseinsbereiche mit ihren Vorzügen und

Schrecken aus eigener Erfahrung kennen lernen. Von etwaigen Vorleben hat

Shanti keine Ahnung, und die Erfahrungen meines gegenwärtigen Lebens sind

bereits zum großen Teil vergessen. Ich weiß gar nicht, was alles schon

vergessen ist, ich vermiss es ja gar nicht. Wenn mir andere von Shantis Helden-

und Schandtaten berichten, kann ich nur staunen.

 

Nun aber mein größtes Problem: Auch das Bodhisatta-Gelübde kann

vergessen werden! Was dann? Meine Lösung hierzu: Mit dem Vergessen des

Gelübdes wird der innere Zusammenhalt aller Ichlinge und mit ihm der letzte

Persönlichkeitsrest zerfallen. Nicht gelöscht werden kann aber das gute

Karma, das der Bodhisatta im Laufe seines Lebens gewirkt hat, vielleicht

schon in vielen Vorleben. Dafür bürgen die Energie-Erhaltungssätze. Als

Bodhisatta gelobt Shanti jeden Morgen unverzagt aufs neue: „Ich will dem

Wohle und Heile aller Wesen dienen, deren Zahl unermesslich ist wie der

Himmelsraum.“ Verkörpert kann ein Bodhisatta dieses Programm nur von

außen und nur in sehr beschränktem Maße umsetzen. Von Innen her müsste

man wirken können! Im Innersten, heißt es, haben alle Wesen Buddhanatur.

Ich habe nun den Wunsch, im Tode total zu zerfallen, so dass alles von

Myriaden Wesen recycelt werden kann. Dann mag die machtvolle Bodhisatta-

Energie keimhaft im Inneren zahlloser Wesen weiter wirken und deren

Erwachen befördern. Über unfassbare Zeiten und Räume hinweg ergäbe das

Myriaden von Buddhas und Bodhisattas! Ganz gleich, ob dieses Programm

sich nun erfüllt oder nicht, allein dieser Herzenswunsch macht mich

vollkommen glücklich.

 

Mögen alle Wesen glücklich sein!

 

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